§ 62 - N I C O L I N I

Viel diskutiert unter den alten sowohl katholischen wie protestantischen Bibelkritikern wurde die Art und Weise, in der das sogenannte Wunder der Sprachkonfusion vor sich gegangen sei. Die Meinung der Meisten war, daß an die Stelle einer einzige Sprache auf einen Schlag andere toto caelo verschiedene getreten seien: obwohl dann über ihre Anzahl alles andere als Einheit herrschte, indem einige alle in der Welt gesprochenen annahmen, andere indes nur einige Muttersprachen, aus denen nach und nach die anderen entsprungen seien. Doch hatte sich schon einer der nicht katholischen Gelehrten der sicher nicht kanonischen Interpretation angenähert, zu der Vico im vorliegenden Abschnitt greifen sollte um, allerdings erfolglos, die biblische Erzählung mit seiner Auffassung der Sprache als spontane, immerwährende und deswegen polygenetische Schöpfung nicht Gottes, sondern der menschlichen Phantasie in Einklang zu bringen. Tatsächlich hatten schon Isaac Casaubon {sic, so auch Index} (1559-1614) und in Weiterentwicklung der väterlichen Ideen sein Sohn Méric (1599-1671) von einer Konfusion eher der Ideen als der Sprachen gesprochen, die die Erbauer des Turms veranlaßt habe, sich zu trennen und sich in die umliegenden Länder zu zerstreuen, in denen sie im Laufe der Zeit eine Gruppe von semitischen Sprachen, darunter das Hebräische, ausgebildet hätten: s. Méric Casaubon, De quatuor linguis commentationis pars prior, quae de lingua hebraica et de lingua saxonica (London 1650), p. 1 sqq. An diese Hypothesen anknüpfend hatte der züricher Theologe Johann Heinrich Heidegger (1633-98) die weitere, derjenigen Vicos noch weiter angenäherte von einer plötzlichen sprachlichen Amnesie entwickelt, die der Herr auf wunderbare Weise den Menschen geschickt habe, die bis dahin die von ihm selbst Adam mitgeteilte Sprache sprachen; von daher die Notwendigkeit, in der jeder sich, verbannt in neuen unbewohnten Ländern, befunden habe, aus sich selbst und diesmal ohne göttliche Hilfe eine neue Sprache zu schaffen: s. Historia sacra patriarcharum (1677), exercit. XXI, § 19 (zweite Auflage Amsterdam 1688, I, 649 ff), vgl. auch ibid die Lektion/Übung/Abteilung {esercitazione} XVI (ed. cit I, 440-90) zu "lingua et litterae patriarcharum". Auch Jean Leclerc (1657-1736), um von anderen zu schweigen, war von der Annahme ausgegangen, daß der Autor von Genesis als in einem Moment geschehen darstellte, was im Gegenteil in äußerst langen Zeitspannen sich entwickelt habe, und hatte deshalb vorgeschlagen, den Bericht von der Sprachkonfusion in ähnlicher Weise zu interpretieren, wie zu seiner Zeit allgemein der von den sechs Schöpfungstagen verstanden wurde, wobei - fügte er hinzu - sehr wahrscheinlich war, daß die Erbauer des Turms sich nach und nach zerstritten, sich sodann in die benachbarten Länder zerstreuten, dann nach und nach nomadische Gewohnheiten annahmen und sich immer weiter vorwagten, und erst zuallerletzt, "cum a se invicem per terras dissiti viverent" , jede isolierte Gruppe "lapsu temporis" sich eine eigene Sprache schuf: s. Genesis ex translatio Ioanni Clerici cum eiusdem paraphrasi perpetua, commentario philologico, dissertationibus criticis quinque et tabulis chronologicis (1693), cap. XI, vgl. auch Dissertatio prima (zweite Auflage Amsterdam 1710, p. 103 ff, bes. 105 und vgl. pp. i-xiv). Bleibt hinzuzufügen, daß den neapolitanischen kirchlichen Kreisen die damals bekannte Verwandtschaft zwischen Vico und den genannten heterodoxen Deutern so wenig entging, daß Damiano Romano (Apologia, pp 137-41 und vgl. p. 134) sogar unterstellte, daß Leclerc nur aus diesem Grund dem Diritto universale die von Vico so herausgestrichenen (Opp., V, 94 ff) Lobpreisungen gewidmet hatte.  ¶  Anstatt der "Meinung" zu sein, daß aufgrund der Sprachverwirrung "allmählich die Reinheit der heiligen vorsintflutlichen Sprache verloren [ging]" diskutieren in Wahrheit die Kirchenväter (Origines, Theodoretus, Johannes Chrysostomus, Heronymos, Augustinus, Beda usw.), ob die genannte Verwirrung mit dem Verschwinden jener einmaligen vorsintflutlichen Sprache begonnen habe, nämlich jener, in der der erste Mensch direkt von Gott unterwiesen worden war (§ 401); oder ob nicht stattdessen Heber dafür gesorgt habe, seinen Nachkommen die adamitische Sprache, Schrift und Religion zu überliefern, die unversehrt zu ihm durch die von der heiligen Schrift genannten Folge der Patriarchen gelangt waren, und somit von Heber - nahmen einige an und verneinten andere - , da er sich von der Erbauung des großen Turms ferngehalten hatte, das Hebräische Volk seinen Urpsrung und Namen erhalten habe (s. z.B. Augustinus, De civ. Dei, XVI, 11 und XVIII, 39, und vgl. hier unten § 1017). Ein Frage die - in der anderen Form: ob das Hebräische, indem es auf Adam statt auf Gott zurückging, die erste in der Welt gesprochene Sprache gewesen sei, aus der alle anderen entsprungen seien, oder ob nicht auf die gleiche Weise wie die anderen auch die des erwählten Volkes eine neue Sprache gewesen sei, die nach und aufgrund der babylonischen Verwirrung entsprungen wäre - im fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ebenso leidenschaftliche wie gelehrte Disputatoren gefunden hatte - wie z.B. als Vertreter der ersten Richtung Selden, Bochart, der eben erwähnte Heidegger, der Benediktiner Augustin  Calmet (1672-1718) usw; und der zweiten Richtung Becan - der entsprechend seiner pangermanischen These (vgl. weiter unten § 430) einen germaniceloquens Adam vertreten hatte -, der Geograph Phillip Klüver (1580-1623), Grotius, Leclerc, der Dominikaner Natale d´Alessandro (1639-1724) und, um nicht alle aufzuzählen, Huet, den Vico in anderem Zusammenhang zitiert (§§ 1154 und 1187, und vgl. 55 und 95), und auf dessen Demostratio evangelica (~Proposition IV, cap. 13, Ausg./Ed. Frankfurt 1722, pp. 169 ff, bes. 170-71) wegen weiterer Auskünfte verweisen wird (vgl. auch Damiano Romano, Apologia, pp. 41-48, 108, 111). Rebus sic stantibus ist es sehr wahrscheinlich, daß Vico die babylonische Verwirrung {Nic. zit "Verwirrung Babylons", aber wo in § 62?} mit der babylonischen Gefangenschaft verwechselt hat, während der, wie Kirchenväter und Hebraisten des sechzenten und siebzehnten Jahrhunderts einräumten (z.B. Bochart), das Hebräische tatsächlich erheblich korrumpiert worden sei (vgl weiter unten § 1154); ja an die Stelle des Hebräischen als gesprochener Sprache trat, wie heute als gut gesichert gilt, das Aramäische, das zahlreiche aramäische Kolonisten in Babylon sehr verbreitet hatten.  ¶  "Confusum est labium" nicht nur der semitischen Völker, sondern "universae terrae" heißt es Genesis XI, warf zweitens {secondo als AVV} Finetti ein, op. und ed. cit., pp. 42 sqq., der - wie schon mit weniger Gelehrsamkeit und Wirksamkeit woe Romano, Apologia pp. 124-26 - sich hauptsächlich dieses Abschnitts {capoverso - Bibel?, Vico § 62?} bediente, um zu zeigen, daß Vico bei der Behauptung des polygenetischen Urpsrungs der Sprache sich gegen den katholischen Glauben gestellt hatte. Darauf war übrigens schon 1730 der katholische Zensor Vicos, der Kanoniker Giulio Torno (§ 1494) gestoßen, der eben deshalb den befreundeten Autor gezwungen hatte, dem entsprechenden Passus der der Fassung dieses Jahres {1730}, also den §§ 1146-48, wiedersprüchliche Zusätze und Vorbehalte hinzuzufügen, die Vico, nachdem er sich von dem von Torno ausgeübten Druck befreit hatte, bei aus endültigen Fassung (vgl. §§ 1565-66) tilgte.  ¶  Wiederum gegen die Bibel und die katholische Tradition stellt sich Vico, wenn er hinzufügt, daß die zwei Jahrhunderte tierischen Umherirrens für die semitischen [{200?: 100 (§ 369, 736)] und japhetischen Völkern genau im Jahr der Sintflut begannen: weil nach Genesis l.c. der Herr die Menschen "super faciem cunctarum regionum" nicht vor, sondern erst nach der Sprachverwirrung, die sich nach der traditionellen Chronologie hundert Jahre nach der Sintflut ereignete (Finetti, p. 29).  ¶  Die Hypothese, daß die von ihr verursachte Feuchtigkeit über zweihundert Jahre jedes Blitzen verhindert habe, ist auf der aristotelischen Theorie gegründet, die Vico vielleicht bei Seneca (Naturales quaestiones, II, 12) gelesen hatte: daß unter den Ausdünstungen der Erde einige feucht seien und Regen und Schnee erzeugten; andere erdig oder "trocken", die Wind und Blitze erzeugten. Auf welche Weise das erste Blitzen die schon über die ganze Erde verstreuten Menschen dazu brachte, sich jeder unabhängig von den anderen die Religion/den Kult des blitzenden Jupiters zu formen, also sovieler Religionen/Kulte "der vielen Jupiter" wie es verschiedene Gegenden gab, in denen jenes Blitzen solche "falschen Relligionen" erweckte (denn das, wenn auch in wenig klarer Form, wollte Vico sagen) wird weitläufig in den §§ 377-82 dargelegt. Varro hatte jedoch, wie wir sahen (§ 47), die verschiedenen Herkules auf vierzig, statt auf vierundvierzig gebracht, und nicht die verschiedenen Jupiter, die nach seinen Worten genau dreihundert gewesen wären: vgl. Tertullian, Apologeticus adversus gentes, cap. 14 gegen Ende (Opera, ed. Migne, I, 410-11).  ¶  Zu Jupiter Ammon § 47.  ¶  Zweifellos entstand "eine feinere Art von Weissagung aus der Beobachtung der Bewegungen der Planeten und der Aspekte der Sterne", oder der Chaldeismus oder die Astrologie zuerst im Orient, also in Babylonien {Babilonide}. Aber gerade deshalb hat sie nicht zu tun mit jener rein medisch-perischen Schöpfung des zoroastrischen Lehre oder Magie: Jedoch war auch Vico wie alle zu seiner Zeit in der alten und obenerwähnten Verwechslung von "magus " und "chaldeus" (§ 55) befangen.  ¶  Sicher definiert Samuel Bochart (1599-1667) in Phaleg et Chanaan, ed. cit., col 306 Zoroaster "astrorum contemplator", aber nur aufgrund einer unbegründeten konjekturalen Korrektur von astroJuthn in astroJeathn. Natürlich ist "die erste gewöhnliche Weisheit" hier die astrologische Divination oder der Chaldeismus (vgl § 365). Daß sie in Assyrien, oder genauer in Babylonien entstand, ist klar: hingegen kann nicht leicht angegeben werden, aufgrund welcher alten unausgesprochenen Meinungen Vico sie in Beziehung zur Entstehung der ersten der vier Monarchien, also der assyrisch-babylonischen brachte. Vielleicht wollte er auf die Tatsache anspielen, daß "chaldaei" auch allgemeine Bezeichung für die babylonischen Priester war, die alle die Astrologie ausübten und zu gleicher Zeit eine auch politische und fast königliche Autorität genossen. (NICOLINI I, 42-45)