§ 95 - N I C O L I N I

Im gegenwärtigen Paragraphen polemisiert Vico, ohne sie zu nennen, gegen Selden und Bochart (vgl. §§ 396 und 1154), wobei er sich meistens schon vom Marsham, passim, besonders pp. 150 sqq., benutzter gelehrter Argumente bedient.  ¶  Den Ägyptern war ebenso verboten, einem Griechen oder einer Griechin das Gesicht zu küssen {baciare in viso} (Herodot, II, 42; und vgl. Marsham, p. 215).  ¶  Unmöglich zu bestimmen, welcher "heidnische Schriftsteller" sagt (wenn es überhaupt einer sagt), daß die Hebräer dem durstigen Fremdling die Quelle nicht wiesen: auf jeden Fall wird an der berühmten Stelle des Tacitus (Hist., V, 5) nur sehr allgemein von ihrem "adversus alios hostile odium" gesprochen.  ¶  Die "Fremden", von denen Vico verneint, daß sie zu den Hebräern hätten kommen können, um die "heilige Lehre" oder die mosaische Gesetzgebungzu erlernen, sind Pythagoras und Platon: vgl. § 94.  ¶  Daß das Adjektiv "sacer" auch "quidquid terribile atque reconditum obscurumque sit, prasertim si a diis venire credatur" wird von Forcellini, ad v., bemerkt; aber aus dem italienischen "sagro" geradezu ein Synonym von "segreto" - geheim - zu machen, ist Übertreibung /Erweiterung {amplificazione} Vicos. Zu den {Comunque: ausgelassen} ursprünglich von den Priestern vor ihren Völkern geheimgehaltenen Gesetzen vgl. §§ 999-1000.  ¶  "Die Mythen seien biblische Geschichten, die von den heidnischen Völkern und besonders von den Griechen verdorben worden seien", war ein anderer der Haupgedanken {motivi fondamentali} der jüdisch-alexandrinischen Apologetik. Er kulminierte in Clemens, der das angeführte 3. Kapitel des sechsten Buches der Stromata dem Nachweis dafür widmete, daß die Beweise für die von der griechischen Kultur begangenen Diebstähle an der hebräischen Lehre {dottrine - Plur} (§ 94) jene unter den in der heiligen Schrift berichteten Wunder seien, die die Griechen verstümmelt in ihre Geschichten und mythologischen Erzählungen übernommen hätten. Ein Gedanke also {pertanto - ausgelassen}, lieb und teuer der späteren katholischen Apologetik, aus der die historische These entsprang {rinsaldava}: alle falschen heidnischen Religion seien Korrputionen der einzigen wahren, die in der Welt seit {sin dalla...!!! seit ???; etwa "VOR"??} der Sprachverwirrung (vgl. § 62) praktiziert {professata} worden ist. Gerade deswegen aber ein Gedanke, der Vico als, wie er ihn hier bezeichnet, "Irrtum" erscheinen mußte, da für ihn bis auf die hebräisch-christliche alle Religionen ganz wie alle Sprachen (vgl. § 1520) ewige, spontane und deshalb polygenetische Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Was dann die "neuesten Mythologen" angeht, s. außer dem Werk von ~Claeissen, das Vico {er (selbst)} im § 1194 erwähnt, auch und vor allem das Vorwort zur angeführten Demonstratio evangelica von Huet, und, noch mehr, die Kapitel 15 sqq. des ersten Buches aus De theologia gentili et physiologia christiana, sive de origine et progressu idolatriae, deque naturae mirandis, quibus homo adducitur ad Deum von G.G. Voss (Opera, V, 47 ff): Kapitel, die nachweisen sollen, daß in den griechischen Mythen sich in korrupter Form die "veteres historiae" des Alten Testamentes fänden, so daß Saturn eine verdorbene Reminiszenz/Erinnerung {reminiscenza} an Adam wäre, Vulkan an ~Tubalkain; Mars an Nimrod oder \Belo, Apollo an Iubal, Minerva an ~Noema (die Schwester Tubalkains), Bacchus (einerseits {per un senso}) an Janus {Giano} , andererseits an Noah, Pluto an Ham, Herkules an Samson usw.  ¶  "Die hier weiter unten nachgewiesen werden wird": § 958.  ¶  Der genauen Spottworte, die die Ägypter gegenüber den Hebräern vor dem exitus ab Aegypto geäußert hätten, geschieht nicht nur keine Erwähnung in Genesis, wo davon nicht die Rede sein konnte, sondern auch nicht in Exodus, wo nur allgemein die Verhöhnung letzterer durch erstere erwähnt wird (I, 13) und eine sarkastische Antwort Pharaos an Moses und Aron berichtet wird (V,2). (NICOLINI I, 60/61)