§ 104 - N I C O L I N I

{1} Daß der erste Kern der römischen Plebs die zu dem Asyl des Romulus Geflüchteten war, und daß diese, ohne status civitatis und status familiae, keinen anderen status hatten als den libertatis, noch andere Subsistenzmittel als die Bebauung der Ländereien der einzigen und wahren und eigentlichen {proprio} cives, nämlich der patres (§ 106); - {2} daß in Wirklichkeit der sogenannte Zensus des Servius Tullius nichts anderes als ein erstes Agrargesetz war, kraft dessen die patres gezwungen gewesen wären, den ebengenannten Tagelöhnern oder Plebejern gleichsam als Lehen Teile ihrer Ländereien mit der Verpflichtung zu gewähren {concedere}, daß diese ihrerseits einen jährlichen Zensus nicht etwa der Staatskasse, sondern ihren alten/ehemaligen {ai loro antichi signori} Herren zahlen und ihnen auf eigene Kosten Kriegsdienste leisten (§ 107); - {3} daß die Revolution, die ihren Namen vom ersten {=Junius} Brutus erhielt, statt demokratische Ziele anzustreben, auf die Restauration eines primitiven {primitivo} und äußerst strengen aristokratischen Regimes hinauslief, das die letzten Könige {gli ultimi re} vergebens in eine absolute Monarchie umzuändern versucht hätten; daß der Ursprung des Tribunats der Plebs auf das Bedürfnis {necessità} der Plebejer zurückzuführen sei, eine eigene Vertretung {Volkstribunen, § 108} {organo} mit der Befugnis {atto a} zu haben, die patres zur Befolgung des genannten Agrargesetzes zurückzurufen {richiamare i patres all´osservanza della..}, und daß Coriolan hingegen {per contrario, vgl § 79} es endgültig abschaffen wollte (§ 108); - {5} daß in seinem ursprünglichen Kern der sogenannte Decemvirnkodex /dezemvirale Kodex {codice decemvirale} nichts anderes war als ein zweites Agrargesetz, durch das Eigentum {dominio} der Plebejer an den Ländereien aus einem gebundenen und gleichsam feudalen zu einem vollen geworden wäre (§ 109);  {6} daß also von da an {che quind´innanzi} Zensus und Militärdienst jeweils nicht von den Plebejern den patres gezahlt und geleistet wurden, sondern von allen Bürgern dem Staat, und daß auf diese Weise der alte Zensus des Servius auf aristokratischer Grundlage sich in den späteren republikanischen auf demokratischer Grundlage zu verwandeln begann, der von der traditionellen Geschichtsschreibung irrtümlicherweise in die Königszeit vorverlegt {anticipato} worden wäre; - {7} daß die Plebejer mit dem Antrag/der Rogation {rogazione} des Canuleius {Volkstribun, s. SN § 592, S. 326} nicht etwa conubia cum patribus, sondern conubia patrum, d.h., zusammen mit allen Folgerechten {conseguenze} (patria potestas, Hauserben, Agnaten {Kommentar_SN_0592} } {kl.Pauly, adnatio; rausnehmen und in Lex-Fenster bringen} und Gentilen {patria potestà, suità, agnazioni, gentilità; = SNS § 592, 598...} usw.) das volle ius conubii oder den vollen status familiae verlangten und erhielten, die sie bis dahin nicht gehabt hätten (§ 110): - für alle diese in dieser fundamentalen Anmerkung XLII {zur chronolog. Tafel} in manchmal nicht allzu klarer Form im Vorgriff angeführten {anticipate} "Hypothesen", wie sie Vico selbst nennt (§ 114), gibt es fast kein einziges Beispiel in der römischen Geschichtsschreibung des 17.-18. Jahrhunderts: weswegen diese "Hypothesen" zu den drei wichtigsten historischen Entdeckungen Vicos gezählt werden. Sicherlich, wie einige allzu phantastische in den späteren Forschungen keine Bestätigung gefunden haben, so werden sie auch in der Scienza nuova, wie man an den entsprechenden Stellen sehen wird, nicht durch einen mehr oder weniger überzeugenden Beweis gestützt. Aber mehr als in den einzelnen für sich betrachtet, liegt ihre große Bedeutung in ihrer Gesamtheit {nel loro complesso} und noch mehr in der ganz bahnbrechenden {del tutto precorritore} Orientierung {orientamento}, die Vico bei ihrer Formulierung inspirierte: was sehr wohl erlaubt, von einer Initialzündung {colpo di catapulta} zu sprechen, die, während sie jenes Szenario auf bemaltem Papier {scenario di carta dipinta} zerriß, das zur Zeit Vicos sich noch Geschichte des Alten Roms {la storiografia di Roma primitiva} nannte, diese gleichzeitig auf den ganz anderen Weg brachte, den sie durch das ganze neuzehnte Jahrhundert hindurch einschlagen sollte.  ¶  Was im einzelnen {in modo particolare} die lex Publilia (oder Publicia) de plebiscitis angeht, schrieb Livius, VIII, 12 nicht, daß Gaius {Caio} Publius (oder Publicius) Philo ein "Diktator des Volkes" war, sondern, etwas anders {con qualche differenza}, daß seine Diktatur "popularis fuit". Im übrigen ist Livius der einzige antike Geschichtsschreiber, der jenes Gesetz erwähnt: so daß {tanto che..} man heute an seiner Echtheit zweifelt.  ¶  Um die Behauptung richtig zu verstehen, daß die römische Republik "in ihrem Zustand für umgewandelt erklärt wurde, und zwar aus einer aristokratischen in eine demokratische" muß man sich die grundlegende vicosche Unterscheidung zwischen "Zustand" {stato} (in der Bedeutung einer politischen Verfassungs- {costituzione} oder Regierungsform {regime}) und "Regierung" {governo} vor Augen halten: vgl. besonders §§ 663 und 1004-1006.  ¶  Der für "weiter unten" versprochene besondere Beweis {dimostrazione} wird in den §§ 662 ff. gegeben werden.  ¶  Vgl. noch " 1155. (NICOLINI I, 66/67)