§ 369 - N I C O L I N I

{= gekürzte Version von Kapitel II, La religiosità di G.V.} Die Überlierung einer Periode, während derer die Menschen nach Art der Tiere gelebt hätten, wird mit größerem oder kleinerem Reichtum an Details von mehreren antiken Schriftsteller tradiert, darunter Platon, Gesetze III, 1 sqq., pp. 676 ff, und Diodor I, 8, von denen ersterer diesen tierischen Zustand als Rückfall der Menschheit in die Barbarei nach der deukalischen Sintflut sieht. Außerdem hatte, zeitlich viel näher dem 18. Jahrhundert, Macchiavelli, Discorsi I, 2, geschrieben, daß «am Anfang der Welt, als deren Bewohner selten waren, sie eine Zeit zerstreut nach Art der Tiere lebten»: ganz zu schweigen davon, daß eine berühmte Satire des goldenen Zeitalters - dargestellt in all seiner apathischen und trägen Unwissenheit, nach einem «Gesetz des Müßiggangs» eingerichtet und verschwunden auf Grund einer leidenschaftlichen und immer mehr verfeinerten Arbeitsamkeit - von Giordano Bruno im ersten Teil des dritten Dialogs des Spaccio della bestia trionfante (Opere italiane, ed. Gentile, Bari 1907-1908 II, 138-42) vorgestellt worden war. Schließlich, um von anderen Vorgängern Vicos zu schweigen, war von Hobbes (De cive, IX, 3; Leviathan, capp. 13 sqq.; vgl. auch oben § 179) in epikuräischem Sinn stark hervorgehoben worden, daß der sogenannte Naturzustand als eine Zeit anzusehen sei, in der die Menschen, ohne jede Zügelung ab intra und ab extra, nach Art der Tiere in einem immerwährenden Kriegszustand lebten - von dem selbst jener teilweise Rückfall in den Naturzustand, der für die Völker der gebildeten Zeiten der Krieg ist, nur eine blasse Vorstellung geben kann. Immerhin war die Hauptquelle sowohl für die Hypothese des tierischen Umherirrens, wie auch vieler anderer über die Urspünge von Humanität und Zivilisation die gleiche wie für Hobbes, nämlich das fünfte Buch von De rerum natura von Lukrez, den Vico offensichtlich Gründe religiöser Art bei diesen Anlässen zu zitieren hinderten, von dessen ungeheurer Wirkung auf die gebildete {studiosa} neapolitanische Jugend in den letzten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts er aber selbst in der Autobiographie (Opp., V, 16) berichtet. Wie sehr diese Wirkung aber auch ihn betraf, obwohl er sich dagegen immun erklärt, geht aus den unzählichen lukrezianischen Motiven hervor, die an jeder Stelle der Scienza nuova anklingen und die hier nicht angezeigt werden, weil sie woanders vom Verfasser angeführt wurden (Giovinezza die G.B. Vico, zweite Auflage, Bari, 1932, pp. 121-22). Von daher kommen einerseits die Anstrengungen Vicos, diese ganze Reihe von epikuräischen Annahmen mit den katholischen Glaubensartikeln zu vereinbaren, und andererseits der besondere Eifer seitens seiner katholischen Kritiker des achtzehnten Jahrhunderts und besonders von Romano und Finetti, die grundlegende vicosche Theorie vom tierischen Umherirren als heterodox und falsch zu beweisen. Daß seitdem er sie im Diritto universale vorgestellt hatte, in Neapel die Nachricht seiner Jugendsünden und Irrtümer religiöser Art wieder aufgetaucht war, berichtet er selbst in einem Brief (Opp., V, 155). Daß kurz nach dem Erscheinen der Scienza nuova von 1730 diese Lehre noch einmal mündlich in katholischem Sinn in Neapel kritisiert wurde {censurata}, geht aus der Sorgfalt hervor, mit der er selbst, im § 1520, diese Kritiken {censure} von Cesare Marocco, oder wer sonst der erste der zwei von diesem Text genannten {innominati} Postillatoren war, zurückwies. Daß ein ebenfalls benannter Schüler von ihm, der aber sehr gut dieser Postillator selbst sein könnte, zu Gunsten des Meisters das von der Kirche zu Recht verdammte Prinzip der doppelten Wahrheit anrief («multa sunt vera secundum philosophiam, quae non sunt vera secundum fidem»), wird ausdrücklich von Damiano Romano bestätigt, Apologia, p. 138. Und schließlich daß, trotz der gegenteiligen Behauptungen des letzeren, die communis opinio der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zuzugeben begann, daß nach der Zerstreuung der Völker über die ganze Erde die Menschheit in den tierischen Zustand stürzte, wird von dem Werk von Goguet, I, 20-21, 27, 77 und passim gezeigt, ganz zu schweigen von denen Boulangers und d´Holbachs, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ans Licht gekommen waren (vgl. von Croce-Nicolini, Bibligrafia vichiana, den Namensindex zu den Namen {indice dei nomi, ai nomi}.  ¶  Die «Gründer der heidnischen Menschheit» sind die primitiven Tiermenschen. «Heidnische Menschheit» und nicht «Menschheit» im allgemeinen, weil, wie man sehen konnte (§ 166), Vico den Hebräern einen von allen anderen Völkern verschiedenen Weg zuschreibt.  ¶  Man begreift nicht, warum er, der im § 373 das Gegenteil sagt, hier behauptet, daß die Aufgabe der noachidischen Religion und der ~daraus ~folgende Tierzustand {ferinità} bei dem Geschlecht Hams vor dem Japhets und Sems eingetreten sei. Wenn er damit behaupten wollte, daß Ham und seine Familie sich direkt nach der Verfluchung durch Noah über die Erde zerstreut hätten, steht seine Hypothese noch in viel stärkerem Gegensatz zu Genesis XI, 8, wonach die Zerstreuung aller drei Geschlechter über die ganze Erde zugleich mit und nicht nach der Errichtung des Turmes von Babylon stattfand (vgl. § 62).  ¶  «Asiatisches Skythien» nannten die alten Geographen Sibirien: vgl. Klüver, op. cit., p. 510.  ¶  Daß das Aufwachsenlassen im eigenen Kot die physische Entwicklung der Säuglinge fördere, war und ist ein Vorurteil des neapolitanischen niederen Volkes, das Vico¸ die im § 170 erwähnte Stelle von Tacitus vor Augen, zu einer wissenschaftlichen Theorie erhebt.  ¶  Der danach zitierte Grundsatz ist der XXVI. (§ 170).  ¶  Vico verwechselt Prokop mit Iornandes, der übrigens nur sagt (I, 3), daß die Skandinavier physisch und moralisch «romanis grandiores» waren.  ¶  Zur wiederholten Erwähnung der Patagonier und dem Verweis auf «Cassianone» {Ü: Chassagnon} siehe immer noch/wieder {sempre} § 170.  ¶  Daß sich auf den Bergen dreißig bis zu zweihundert Ellen große menschliche Skelette fanden, war eine nicht seltene phantasievolle Behauptung unter den alten Gelehrten, die in Augustinus einen berühmten Vorgänger hatten, der bei der Bekämpfung derer, die nicht an die historische Existenz der Giganten glaubten (vgl. hier unten § 370), unter anderem die «incredibilis magnitudinis ossa mortuorum» erwähnte, die sich fast überall fanden {un po´dappertutto}, wobei er hinzufügte, mit eigenen Augen gesehen zu haben «in uticensi litore molarem hominis dentem tam ingentem ut, si in nostrorum dentium modulos minutatim concideretur, centum nobis videretur facere potuisse» (De civ. Dei, XV, 9). Aber an diese Märchen glaubten schon zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Gebildeten nicht mehr (vgl. Hofmann, II, 393); jedenfalls hatte genau zu Zeiten Vicos Antonio Vallisnieri (1661-1730) {vgl. P. Rossi, I Segni del Tempo} nachgewiesen, daß jene monströsen Knochen Reste von vorsintflutlichen Tieren waren (De´ corpi marini che sui monto si trovano, Venedig 1721). Warum dann diese mutmaßlichen menschlichen Skelette, «meistens auf den Bergen» gefunden», von großer Bedeutung sind für die «Dinge, die wir unten zu sagen haben», wird man in den §§ 377, 387 und passim sehen {Ü 529}. (NICOLINI I, 125-128)