§ 400 - N I C O L I N I

Die Ableitung der verschiedenen artikulierten Sprachen aus einer einzigen mehr oder wenig «stummen» Sprache» (vgl. schon oben § 227) war in der klassischen Antike von nicht wenigen, darunter von Lukrez (V, 1027 ff), Horaz (Satiren, I, 3, 99 sqq.), Diodorus siculus (I, 8 und 16) und vor allem von Vitruv (De architectura, II, 1), ausgesprochen worden {era stata professata} und dann auch in Abweichung von den anderen Kirchenvätern (mit Ausnahme allein, aber auch nicht ganz und gar, von Theodoretus) von Gregor, Bischhof von Nissa, (siehe von ihm das zwölfte Buch des Contra Eunomium). Und obwohl schon seit antiken Zeiten diese Theorie/Lehre der anderen platonischen und in gewissem Sinne biblischen des göttlichen Urprungs der Sprache gegenübergestellt und dann von ihr ersetzt wurde, so hatte sich die Theorie/Lehre von der stummen Sprache, zusammen mit der anderen daran angeschlossenen und damit verbundenen {annessa...connessa} des tierischen Umherirrens (§ 369) der französische Oratorianer Richard Simon (1638-1692) zu eigen gemacht im Buch I, Kapitel 14 und 15 und im Buch III, Kapitel 21) seiner nicht immer orthodoxen Histoire critique du Vieux Testament (vgl. die Ausgabe mit der Angabe «suivant la copie imprimée à Paris, MCDLXXX», pp. 92-101 und 541-49), die, indem sie {altresì} Moses die Autorschaft {paternità} des Pentateuchs entzogen hatte, um sie spinozistisch einigen Schreibern der Zeit Esdras zu übertragen, dem Autor zahllose Polemiken (auch mit Bossuet) und die Vertreibung aus dem Oratorium eingebracht hatte. Bleibt übrigens hinzuzufügen {Occorre aggiungere, per altro,...}, daß Simon als guter Philologe zu dieser Theorie durch eine rein philologische Kritik der ihm vorangangenenen biblischen Exegeten gelangt war, vor allem von Brian Walton (1600-612), anglikanischer Bischhof von Chester, Sammler der Poyglott Bible (1654-57) und Autor der entsprechenden Prolegomini: während der Weg, auf dem Vico zu einer anscheinend ähnlichen, aber substantiell sehr verschiedenen Theorie gelangte, die strenge philosophische Kritik jener zu seiner Zeit, von allen, auch von Simon - und tausend dreihundert Jahre vor Simon, in Vicos Hauptquelle, nämlich in der zitierten Schrift des Gregor, Bischhof von Nissa - angenommenen logischen oder rationalen Natur der Sprache war. Gerade darum trug dazu bei, Vico zu stimulieren, diesen Weg einzuschlagen, mehr noch als die Histoire von Simon - die, wie neuere Arbeiten gezeigt haben, ihm nicht unbekannt geblieben war - das erste Kapitel des sechsten Buches von De dignitate et augumentis scientiarum von Bacon: ein Kapitel, das auch hinsichtlich dessen, was in dieser Logica poetica vom gemeinsamen Ursprung von Sprache und Schrift gesagt wird, zu den philosophischen Hauptquellen der Scienza Nuova gehörte. Hinzuweisen ist auch darauf, daß seit 1741 Warburton, obwohl er wörtlich {a parole?} erklärt, dem biblischen Bericht vom göttlichen Ursprung der Sprache zu folgen {di volersi tenere aderente al..} (vgl. im Folgenden § 401), nichtsdestoweniger die Theorie/Lehre einer, wie er es nannte, «Aktionssprache/Sprache aus Aktionen» {linguaggio di azione}» formulierte: eine Theorie/Lehre, die der vicoschen von der «stummen Sprache» um so näher steht, als sie auf sehr ähnlichen Beobachtungen gegründet ist wie den in der Scienza nuova verstreuten: die Knappheit an Worten, über die die primitiven Menschen verfügten (die vicosche »[Sprach]Armut»), die daraus folgende Notwendigkeit, diesen allzuwenigen Worten {parole} kongruente und signifikative Gesten hinzuzufügen; der sozusagen «graphische» Charakter dieser primitiven Sprache/Ursprache (das «sprechend Schreiben» von Vico); der gemeinsame Fundus an Bildern, den sowohl die Aktionssprache als auch die urpsrüngliche ideographische Schrift der Phantasie bietet; der gemeinsame Ursprung der einen wie der anderen usw. usw (vgl. den erwähnten {citato} Essai, I, 43-90). Zu bedenken {tenere presente} bleibt schließlich, daß gegen die «poetische Logik» die erwähnte Apologia von Damiano Romano gerichtet ist, der sogar so weit ging, Vico des Plagiats zu bezichtigen.  ¶  Bei der Feststellung der unterscheidenden Merkmale von Metaphysik und Logik berührt Vico die scholastischen Definitionen Unterscheidungen der einen als Wissenschaft der Seienden {degli enti}, der anderen als «ars ratiocinandi vel disserendi».  ¶  «Nachdem wir... oben ... erörtert haben»: im ersten Kapitel der Poetischen Metaphysik (§§ 374-84). Jedoch, wie in jenem Kapitel Mythos und Poesie, so wirft Vico in diesem und in den folgenden Mythos, Poesie, Sprache und Schrift zusammen und verwechselt sie manchmal. (NICOLINI I, 145/46)