§ 435 - N I C O L I N I

Dem Abschnitt 1229 nach zu urteilen, müßte man meinen, die Polemik gegen jene, die glaubten, die Hieroglyphen seien «Erfindungen von Philosophen gewesen, um darin ihre Myterien tiefer, geheimer Weisheit zu verbergen», richte sich hauptsächlich gegen De mysteriis aegyptiorum des Pseudojamblichos und gegen die Hieroglyphica sive de sacris aegyptiorum aliarumque gentium literis (1556) des bellunesischen Humanisten Pierius Valerianus, mit bürgerlichem Namen Gian Pietro Delle Fosse (1477-1560): s. die vermehrte Ausgabe von Celio Curione (Lyon, 1629) und die italienische Übersetzung von «varj et eccellenti letterati» (Venedig, 1602). Aber wie der Abschnitt 605 zeigt, waren Vico die Delirien nicht unbekannt, zu denen in dieser Hinsicht Pater Athanasius Kircher gelangt war; dieser begnügte sich nicht damit, in den ägyptischen Hieroglyphen «arcana de Deo divinisque ideis, angelis, daemonibus» symbolisiert zu finden, sondern wollte auch ein Theatrum hieroglyphicum vorstellen, dessen Grundlagen derartig absurde Interpretationen sind, daß Warburton sich veranlaßt sah (Essai I, 1-2), sie mit denen zu vergleichen, aus denen die Traumdeutung des Artemidor aus Ephesus gesponnen ist (siehe die italienische Fassung von Pietro Lauro). Daß jedenfalls zu der Zeit, als Vico schrieb, die communis opinio fester denn je im Glauben an den arkanen Charkater der Hieroglyphen war, geht nicht nur hervor aus Marsham, pp. 37-38, aus Hoffmann II, 509, aus Morin, p. 14, und unter vielen anderen, die übergangen werden, aus Damiano Roman, Apologia, pp. 57 sqq., sondern vor allem aus der Tatsache, daß sogar in England die Stelle in De dignitate et augumentis scientiarium (VI, 1) unbemerkt geblieben war, in der Bacon, so wie später Vico, die Hierolgyphen als primitive Schrift angesehen hatte, die bei allen Völkern außer bei den Hebräern der alphabetischen vorangegangen und nicht durch Übereinkunft, sondern durch spontane Analogiebildung entstanden sei. Als Beleg mach reichen, daß der «signor di Verulamio» überhaupt nicht zitiert wird von John Wilkins (1614-72), dem anglikanischen Bischof von Chester, obwohl dieser im sechsten Kapitel von An essay toward a real character and philosophical language (London, 1668) auf baconianische und vorvichianische Weise angenommen hatte, daß die Hieroglyphen eine unvollkommene und mangelhafte Erfindung seien, wie sie zustandekäme in «first and rudes ages», und daß sie völlig ähnlich sei dem «writing by picture» oder der Piktographie der Mexikaner, die sich als Analphabeten gezwungenermaßen dieses Hilfsmittels bedienen mußten. Auch diese Vico sicher unbekannte Stelle von Wilkins blieb völlig unbeachtet, bis Warburton aus sie aufmerksam machte, nach dessen Untersuchungen (und also nach Vico) die communis opinio endlich {una buona volta} eine andere Richtung zu nehmen begann: was, wie der Essai sur les connaissances humaines von Condillac zeigt, in Frankreich nach 1754 geschehen war (vgl. auch Goguet, ed. cit. I, 180 sqq.).  ¶  Zu dem allgemeinen natürlichen «Bedürfnis aller ersten Völker, in Hieroglyphen zu sprechen», d.h. in «stummen Gebärden», s. den Grundsatz LVII (§ 226) sowie § 429; vgl. auch Warburton I, 46-48, der, genau wie schon Vico, hinzufügt, daß diese graphische Einförmigkeit unter den primitiven Völkern nicht auf Nachahmung oder auf ein unvorhergesehenes Ereignis oder gar den Zufall zurückzuführen sei, sondern auf die einförmige Stimme der Natur.  ¶  Den Hinweis darauf, daß die Äthiopier ihre Hieroglyphen «praecipue instrumentis fabrilibus» gestalteten, hatte Vico wahrscheinlich im Hofmann II, 500 gelesen; überliefert hat ihn allerdings nicht Heliodor IV, ( vgl. auch X, 8), der nur eine Binde {?; fascia} erwähnt, auf der äthiopische, den hieratischen der Ägypter ähnliche Charaktere eingeprägt waren, sondern Diodor III, 4. Vgl. auch Morin, p. 15; D. Romano, Apologia, p. 55, sowie Warburton I, 41 und 159, der mit Zitaten aus den Réflexions critiques sur l'histoire des anciens peuples (II, 501) des französischen Orientalisten Michèle Fourmont (?-1746) auf die hieroglyphischen Elemente verweist, die noch im äthiopischen Alphabet sichtbar seien.  ¶  Die «magischen Schriftzeichen», also die traditionellen Zeichen, deren sich die Anhänger der sogenannten schwarzen Magie bedienten, stammten tatsächlich von den ägyptischen Hieroglyphen ab, aber nicht von den ursprünglichen, sondern von den symbolischen (§ 432 und 438), deren in spätererer Zeit die sich Priester zu kryptographischen Zwecken bedienten. Vom Osten aus, wo die Basilianer und andere Häretiker der ersten Jahrhunderte des Christentums von ihnen reichlich Gebrauch machten, gelangten sie in den Westen, wo sie wegen der schon mehrfach erwähnten Verwechslung von Magiern und Chaldäern (§ 55 und passim) «chaldäische Zeichen» genannt wurden: eine Benennung, die schließlich auf alle Arten von Hiergloyphen ausgedehnt wurde. Vgl. Hofmann I, 21, 488, 562, 821; Warburton I, 40-44.  ¶  Zum Anspruch der Skythen auf ein höheres Alter als das der Ägypter, §§ 48 und 56; zu den «dinghaften Worten» des Idanthyrsus, § 98. Um die phantasievolle, aber alles andere als absurde Deutung zu verstehen, die Vico für jedes dieser Worte anstelle der des Clemens (nicht Kyrill) von Alexandrien liefert, vergegenwärtige man sich das, was Vico an anderer Stelle von den Fröschen (oder Kröten), den Vögeln (oder genauer: den Flügeln) und den Pflügen in den Mythen sagt (§§ 535, 488, 541, 550). Jedenfalls werden Warburton I, 62, und Rousseau (Essai sur l'origine des langes, in Œuvres, ed. Paris 1832, II, 329) diesen «dinghaften Worten» große Bedeutung beimessen, und Rousseau bemerkt ganz vichianisch, daß die stummen Zeichen des Idanthyrsus, wenn sie von stimmhaften Worten begleitet oder durch sie ersetzt worden wären, nicht wenig von ihrer bedrohlichen Ausdruckskraft verloren hätten.  ¶  Wie Vico die über Tarquinius Superbus (Livius I, 54), so hatte Bacon, op.cit. VI, 1, in dergleichen Absicht die analoge Anekdote über Periander erwähnt. Auch werden Periander, Thrasybulos und Tarquinius Superbus im gleichen Kontext von Rousseau, l.c., erwähnt werden.  ¶  Tacitus, Germ. 19 — eine Stelle, auf die Vico 1721 der deutsche Ludwig von Gemmingen hingewiesen hatte (Vico, Opp., V, 152) — schreibt in der Tat, daß in Germanien Männer und Frauen die «literarum secreta» unbekannt waren: ein Ausdruck allerdings, der die alphabetische Schrift, oder höchstens (nach der Interpretation Morins p. 175) die Schrift im Allgemeinen meinte, nicht aber speziell die hieroglyphische.  ¶  Offen gesagt, war von den zur Zeit Vicos bekannten in Deutsch geschriebenen kaiserlichen Urkunden keine früher als 1281. Aber zweifellos bezog sich Vico auf die unter andereren von Hofmann II, 830, erwähnte Auskunft, daß Rudolf I «querelis germanorum permotus» auf dem Reichstag von Nürnberg von 1272 entschied, daß man «in cancellariis et contractibus» statt das lateinische das «germanicum idioma» benutze: von daher die irrtümliche Folgerung Vicos, daß bis dahin den Deutschen jede Art von Schrift unbekannt gewesen wäre, sogar die hieroglyphische (vgl. ebenfalls § 1051).  ¶  Die «rebus de Picardie», aus denen später die Bilderrätsel entstanden, haben, so scheint es, ihren Ursprung in gewissen Burleskenbüchlein, die während des Karnevals von den clercs des Jurastudiums verfasst wurden, und mit den Worten begannen «De rebus quae geruntur»s; s. Ménage, Dictionnaire étymologique cit., ad v.; vgl. auch Morin, p. 17, der ebenfalls die rebus mit den Hieroglyphen vergleicht, und außerdem kurz danach (pp. 17-18), ebenso wie Vico, die «hieroglyphica scotorum» nach dem Werk von Boyce und die mexikanischen nach dem Buch des van Laet vergleicht.  ¶  «Boezio», d.h. Hector Boyce oder Bois aus Dundee (ca. 1470 - ca.1550 {1470 c. - 1550 c.; c.: weder SANS noch ZING}, wohlbekannt den Erforschern der Quellen des Macbeth von Shakespeare, erwähnt ungeheure schottische Grabsteine mit Bildern von «acquatilium, serpentum volatiliumque», die er als «characteres in arcanis scribendi» definiert: vgl. Scotorum historiae a prima gentis origine (1526, s.{?}1.), fol. XX, rr. 61-68.  ¶  Der Geograph Johannes van Laet (?-1649), Direktor der holländischen Ostindischen Kompanie, schrieb nicht, daß die mexikanischen Indianer die verschiedenen Landbesitze einer jeden Familie oder eines jeden Stammes durch Hieroglyphen auf den Grenzmarken («ceppi») unterschieden, sondern daß sie «picturis quibusdam, veluti hieroglyphicis notis, mentem suam satis dextre exprimebant»: s. Novus orbis seu desciptio Indiae occidentalis, Lüttich 1633), p. 241; vgl. auch ferner Acosta, op.cit., lib. VI, cap. 10; sowie — da Vico an der entsprechenden Stelle in der Scienza nuova prima (III, 29, in Opp. III, § 329) auf die «Reisenden in jüngster Zeit» verweist — den Giro del mondo seines Landmannes und Zeitgenossen Gianfrancesco Gemelli aus Radicena (1651-1724?), ed. Neapel 1699, VI, 37, wo gesagt wird, daß vor der Entdeckung die Mexikaner keine Buchstaben, sondern Figuren und Hieroglyphen benutzten, indem sie mit passenden Bildern körperliche Dinge und mit symbolischen Charakteren die unkörperlichen malten. Wenig wahrscheinlich ist indes, daß zu den Ohren des Philosophen die Nachricht von einem ganzen Werk über Mexiko gelangte, das ein Mexikaner in Hieroglyphen verfaßt und dann selbst in alphabetische Buchstaben transkribiert hatte, nachdem die Spanier ihm diese beigebracht hatten: ein Werk, das zusammen mit einer englischen Übersetzung von dem englischen Reisenden Samuel Purchas (1577-1626) in seiner Pilgrimage (London, 1613) publiziert, und von Warburton (I, 5) erwähnt worden war. Und noch weniger wahrscheinlich ist, daß Vico davon wußte {Hauptsache N. weiß es}, daß es in Mexico noch «reichliches Material an Figuren, Symbolen, Charakteren und Hieroglyphen» gab, an dem in den Jahren 1736-44, also zu der Zeit, als die letzte Scienza nuova vorbereitet wurde, in Mexiko selbst Lorenzo Boturini-Benaduci aus Sondrio (1698-1749) arbeite, der in Worten voller Lobes den neapolitanischen Philosophen zitiert (vgl. Croce-Nicolini, Bibliografia vichiana, pp. 308-309, 735-36). Aus der zitierten Stelle der Scienza nuova prima zusammen mit dem § 470 der zweiten geht vielmehr hervor, daß außer auf die erwähnte Stelle des van Laet Vico sich vor allem auf Arnaud beziehen wollte, Deuxième dénonciation cit. (Œuvres, ed.cit. XXI, 111, und vgl. Bayle, Comète, cit. IV, 442), wo berichtet wird, daß in keinem Teil Amerikas die «connaissance de l'art d'écrire» sich gefunden hatte und daß in der Neuen Welt, mit wenigen Ausnahmen, «chaque famille était souveraine et indépendante»: von daher über eine willkürliche und ganz und gar vichianische Verbindung zwischen dem einen und dem anderen die im § 486 wiederholte Behauptung, daß die Bewohner Amerikas vor dem sechzehnten Jahrhundert, die als Analphabeten noch die Hieroglyphenschrift benutzten, und nach isolierten Familien oder Stämmen organisiert waren, sich der auf Grenzmarken eingeprägten Hieroglyphen bedienten, um die Familien selbst und ihren Landbesitz zu unterscheiden.  ¶  Zu den chinesischen Ideogrammen, § 83. (NICOLINI I, 170-174)