§ 440 - N I C O L I N I

Vgl. § 439.  ¶  «gewöhnliche Sprachen» ist gleichbedeutend mit «Prosa»: «gewöhnliche Buchstaben» mit «alphabetischen Buchstaben»  ¶  Im Unterschied zu heute, besaß man zu Vicos Zeiten kein graphisches Dokument des phönizischen (oder syrophönizischen) Alphabets. Folglich waren ausschließlich auf Konjekturen gegründet die gegensätzlichen Theorien, nach denen die Erfinder der alphabetischen Buchstaben den einen zufolge die Ägypter waren, den anderen, darunter auch Vico, zufolge die Phönizier: Theorien, auf deren Grundlage eine möglicherweise über das hebräische Alphabet vermittelte Herkunft entweder des phönizischen Alphabets von dem ägyptischen oder des ägyptischen von dem phönizischen behauptet wurde. Mit dem Hinweis auf diejenigen, nach denen die alphabetische Schrift eine ägyptische Erfindung gewesen wäre, bezieht Vico sich besonders auf Marsham : s. oben § 66. Viele hingegen, von Athenaios {von Naukratis?, Deipnosophisten? - LexdAW}, I, 22, und von Lukan, Phars. III, 220 sqq., an, bis zu Morin, op.cit., p. 181, schrieben diese Erfindung den Phöniziern zu. Diese vielen spalteten sich während des siebzehnten Jahrhunderts in Befürworter bzw. Gegner eine ganze Kette von Konjekturen, die man in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts sich auszdenken begonnen hatte, und die dann 1617 von Joseph Justus Scaliger in einer Abhandlung über die alten jonischen Buchstaben, eingefügt in seinem Kommentar zur Praeparatio evangelica des Eusebius, ausgebaut und koordiniert wurden. Befürworter waren unter den Protestanten Thomas van Erpen (1584-1624), Johann van Driesche (s. hier nachfolgend § 517), Hugo Grotius, Isaac Casaubon (s. oben § 94), Johann Caspar Wasen (1565-1625), Johann Heinrich Hottinger (s. oben § 94), Louis Cappel (1585-1658) usw; unter den Katholiken Roberto Bellarmino, Gilbert Genebrard (s. nachfolgend § 1237), Jean Morin (1591-1656), sozusagen der Begründer der Bibelkritik, usw. Gegner waren Baronius, Wilhelm Schickhardt (1592-1635), Hermann Conring (1606-81), Richard Broughton (?-1642), der schon erwähnte Buxtorf (s. oben § 94), Ezechiel Spanheim (1629-1710) usw. Die Kette von Konjekturen aber, um die man sich stritt, war folgende: daß die Phönizier der profanen Geschichte die Kanäer der heiligen Geschichte gewesen seien; daß das, was man als das Alphabet der einen ansah, folglich das Alphabet der anderen gewesen sei; daß das kanäische Alphabet, das es seit den Zeiten Abrahams gab, vom Autor des Pentateuch und den folgenden Schreibern des Alten Testamentes bis zur babylonischen Gefangenschaft benutzt worden wäre; daß erst, als die Hebräer aus dieser zurückkehrten, Esdra sie veranlaßt habe, ihr Alphabet mit aus Babylon importierten Elementen zu erweitern und zu transformieren; daß dessen ungeachtet die Samaritaner hartnäckig an dem alten kanäischen Alphabet festgehalten hätten; daß folglich der sogenannte Samaritanischen Pentateuch ein bedeutendes Dokument der alten litterae phoeniciae wäre, also jener Buchstaben, die zur Zeit Jakobs die Israeliten in das Land der Ägypter mitgebracht hätten, welche sich ihrerseits davon zur Ausbildung ihres Alphabets hätten inspirieren lassen (zu weiteren Informationen vgl. unter den zahllosen Autoren Pietro della Valle, Brief aus Aleppo vom 15 Juni 1616, in Viaggi I, 13, 15, ed.cit. I, 407, ~Stefan {vs. Jean, s.o; s. Nicolinis Schwartenverzeichnis} Morin, op. cit. pp. 154 sqq.; Bang, pp. 209 sqq.; Hotmann II, 830-31; Léonard, in Warburton, Essai II, 344-45; Goguet I, 192-95. Dazu noch kurz gesagt: wie aus neuesten Untersuchungen über die phönizische Epigraphie die Herkunft des hebräischen Alphabets aus dem phönizischen als tatsächlich bewiesen hervorgeht, so ist man nach einigen Funden von 1916 auch der Meinung, daß die Ägypter zwar die ersten waren, ihren Hierogylphen vermischte Funktionen zu geben (ideographisch, syllabisch, konsonantisch) , daß der erste (zumindest unter den bis heute bekannten) Versuch aber, sich dieser Hieroglyphen als richtiger alphabetischer Buchstaben zu bedienen, im dritten Jahrtausend vor Christus von semitischen Stämmen der Sinaihalbinsel unternommen wurde: von daher die große Wahrscheinlichkeit einer analogen Herkunft des phönizischen Alphabets von den ägyptischen Hieroglyphen.  ¶  Daß Clemens Alexandriner war, ist sicherlich kein hinreichender Grund, ihn für besser als jeden anderen Schriftsteller über die Verhältnisse Ägyptens informiert zu halten. Auf jeden Fall geht es hier nicht um ihn, sondern wieder einmal um den alexandrinischen Kyrill. Vgl. den § 83, den man sich auch für das, was dann über Sanchuniathon gesagt wird, vor Augen halte.  ¶  Zur «gewöhnliche[n] Überlieferung», daß die alphabetische Schrift von den Phöniziern nach Griechenland gebracht wurde, vgl. unter vielen anderen antiken Schriftstellern Herodot V, 58; Plutarch, Gastmahl IX, 3; Q. Curtius IV, 4; Plinius, N.h. V, 12; und vor allem Tacitus, Ann. XI, 14: in dieser Stelle wird übrigens ganz klar gesagt, daß die Ägypter zuerst die Hieroglyphen fanden, dann auch die alphabetische Schrift, und daß eben sie es waren, und nicht, wie Vico behauptet, die Phönizier, die letztere mit Kadmos nach Griechenland brachten. Vgl. jedenfalls § 442. Nicht zu verstehen ist sodann, warum diese von den Phöniziern nach Griechenland gebrachten Hieroglyphen die «mathematischen Charaktere oder geometrische Figuren» gewesen sein sollen, die diese von den Chaldäern übernommen hätten. Immerhin kann es sein, daß Vico zu einer solchen Behauptung veranlaßt wurde a) durch die communis opinio seine Zeit über die chronologische Präzedenz der Zahlzeichen vor den alphabetischen (Bianchini, Istoria universale, ed.cit. pp. 111-13; Léonard in Warburton, Essai II, 612-16; Goguet, I, 230-33; b) von der bei den antiken Schriftstellern häufigen Verwechslung von Syrien und Assyrien, und damit der syro-phönizischen Zeichen und der assyrisch-babylonischen, d.h gewissermaßen der chaldäischen (Goguet I, 192-95); c) von einer persönlichen Interpretation einer berühmten Stelle von Porphyrios (in Siplicius' Kommentar zu De caelo von Aristoteles, ed. Heimberg, Berlin 1894, p. 501), die im § 1141 angeführt wird, und in der gesagt wird, daß Kallisthenes {von Olynthos?} auf Verlangen von Aristoteles die astronomischen Beobachtungen, die von den Chaldäern Babylons schon seit 1903 Jahren vor der Thronbesteigung Alexander des Großen schriftlich gesammelt worden waren, nach Griechenland brachte (s. unter den üblichen Quellen Vicos Van Heurn, Babilonica p. 25; Petau, II, 18; Marsham, p. 504; Bang, p. 12; Morin, pp. 191-92; Hofmann, II, 831). Wie dem auch sei, im Geiste Vicos waren diese «mathematischen Charaktere» nicht etwa die «magischen Charaktere», auf die im § 435 angespielt wird, sondern, wie es aufs deutlichste eine korrelative Stelle im Diritto universale zeigt (Opp. II, 386-87), Zeichen, die, obwohl sehr ähnlich den alphabetischen, noch keinen phonetischen, sondern entweder arithmetischen (I = 1; V = 5; X = 10, usw) oder geometrischen (I = eine Gerade; O = eine Kreislinie, A = ein Dreieck, usw) Wert hatten.  ¶  Zu der Parenthese über Zoroaster vgl. §§  55 und 59. Zu der Stelle des Flavius Josephus, § 66. Hier wird seine Behauptung, daß die Griechen trotzt der alten Handelsbeziehungen mit den Phöniziern noch nicht die alphabetischen Schriftzeichen kannten, benutzt, um zu zeigen, daß damit Hypothese mehr Gewicht gewinnen würde, nach der die von den Phöniziern in Griechenland eingeführte Schrift noch ideographisch gewesen wäre.  ¶  Ohne historische Grundlage ist auch die andere korrelative Hypothese, daß die Griechen die ersten gewesen wären, den Schriftzeichen phonetischen Wert zu geben: womit natürlich ihnen, und und nicht den Ägyptern oder Phöniziern das an der Entdeckung des alphabetischen Schrift Wesentliche als Erfindung zugeschrieben wird. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, daß Vico auf diese Weise die Überlieferung, auf die er selbst im § 1115 anspielt, von dem polygenetischen Ursprung des griechischen Alphabets erweitert und deformiert: diese Überlieferung wird von Tacitus, l.c., in der Version berichtet, daß Kekrops oder der Thebaner Linos, oder zur Zeit des trojanischen Krieges der Argiver Palamedes in Griechenland nur sechzehn Buchstaben eingeführt hätten, die dann vor allem durch das Werk von Simonides auf vierundzwanzig erhöht worden wären (vgl. Morin, p. 178); dazu gibt es aber natürlich die abweichende Version, nach der die Additionen zu diesen sechzehn Buchstaben, die ursprünglich Kadmos geschuldet waren, von Palamedes, Epicharmos und Simonides bewerkstelligt worden wären (Morin, pp. 183-84).  ¶  Zu der Ähnlichkeit der lateinischen Buchstaben mit den «veterrimae» griechischen (vgl. schon § 307) sehe man nicht nur Tacitus, l.c., sondern ebenso Dionysios von Halikarnaß IV, 26 (vgl. auch Morin, pp. 176-77), sowie Plinius, N.h. VII, 57 (vgl auch D. Romano, Origine della giurisprudenza, cit. pp. 77-78).  ¶  Nach Tacitus, l.c., hätte Demaratos aus Korinth die alphabetischen Buchstaben nicht den Lateinern, sondern den Etruskern beigebracht: ein Dienst, der den Ureinwohnern Latiums nicht von Carmenta — auf jeden Fall Mutter, nicht «Gemahlin» des Evander — , sondern von letzteren erwiesen wurde. Was aber Carmenta angeht, so schöpfte Vico mehr als aus Tacitus direkt oder indirekt aus einem carmen über die Erfinder der verschiedenen Alphabete, das noch zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts «tritum» oder geläufig war, obwohl es schon zwei Jahrhunderte zuvor von dem florentinischen Humanisten Pietro Crinito (mit bürgerlichem namen Riccio) im Kapitel I des XVII Buches von De honesta disciplina veröffentlich worden war. Denn in diesem carmen (vgl. dazu auch Voss, De arte grammatica cit., I, 9, Opera II, 13) taucht der Vers auf «Quae latini scriptitamus litteras edidit Nicostrata»: welcher Name, wie Morin, p. 176 anmerkt, nichts anderes ist, als eine Hellenisierung des lateinischen Namens der Carmenta. Zu Reduktion dieser und ihres Sohnes auf mythische Personifikationen für alte, nach Latium geführte griechische Kolonien s. hier weiter unten §§ 762 und 772. (NICOLINI I, 176-180)