§ 780 - N I C O L I N I

Um sowohl diesen Paragraphen wie auch die ganze Entdeckung des wahren Homer voll zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Vico in diesem dritten Buch drei wohlunterschiedene Thesen entwickelt: eine ästhetische, eine historische und eine philologische. Was die {1} erste angeht, so ist sicher, daß auch Vico zumindest ein Echo der lautstarken {rumorosa} Schlacht zu Ohren gekommen war, die mehrfach in Frankreich während der querelle des anciens et des modernes für und gegen Homer ausgefochten worden war und die schon 1708 Vico als Stimulus gedient hatte, De studiorum ratione zu verfassen. Sehr zu bezweifeln ist indes, daß er, obwohl ihm nicht die Namen unbekannt waren, direkt die einschlägigen Schriften von Boileau, Racine, Huet, Fénelon, der beiden Daciers und der anderen gallischen Homerverehrer {omerolatri} kannte. Ganz sicher waren ihm Namen und Schriften ihrer aufrührerischen Gegner unbekannt: Boisrobert, D´Aubignac, Perrault, Lamothe, Terrasson und so weiter. Jedenfalls {comunque} beginnt Vico, auch wenn er einmal den einen, dann wieder den anderen verglichen werden kann, ihre gemeinsame ideelle Grundlage zu bekämpfen, nämlich die intellektualistische, das 17. und einen großen Teil des 18. Jahrhunderts hindurch allgemein angenommene Voraussetzung cartesianischer Provenienz: daß die Poesie als nicht frivole Form des Wissens nur angesehen werden könne unter der Bedingung, daß sie der raison konform sei, oder, was auf dasselbe hinauskommt {tut es das?}, daß der größere oder geringere Wert eines poetischen Werkes in der größeren oder geringeren vom Autor an den Tag gelegten «verborgenen Weisheit» oder der Verfeinerung in Vernunft und Kultur liege. Natürlich legt Vico deshalb angesichts der im zweiten Buch entwickelten revolutionären Prinzipien seiner Poetik hier im dritten, das er selbst als Folgerung {corollario} aus dem zweiten präsentiert, den Akzent vor allem auf die These: daß Homer umso mehr den Namen «Vater und Fürst aller erhabene Dichter» verdiene, je mehr er sich arm an kultiviertem und vernünftelndem {raziocinante: SANS vernünftig} Intellekt und reich an robuster Phantasie, warmen Fühlen {caldo sentimento} und fast barabarischer Leidenschaftlichkeit zeige (§§ 810-838, 874-901). Die zweite These {2} betrifft nicht mehr die die Form sondern die Materie der beiden Epen {poemi}, die - bemerkt Vico, der darauf seit den Notae al Diritio universale großen Wert zu legen begann (Opp., II, 675-700) -, indem sie Gebräuche, Sitten, politische und soziale Institutionen/Einrichtungen {istitutioni}, Mentalität, Kultur, Religion, Auffassung {concezione} vom Leben und der Welt, historische Traditionen usw. von Zeiten widerspiegeln {rispecciando}, die unmittelbar auf die heroischen folgen, aufgrund dieser Tatsache selbst, zwei «große {insigni} Schatzkammern des natürlichen Rechts und der Stämme {genti} Griechenlands» sind (§§ 902-904), beziehungsweise zwei bedeutende Dokumente des griechischen Lebens während jener fast prähistorischen Epoche. Eine umso originellere These, als sie von Vico seit 1722 (vgl. Opp. II, l.c., besonders p. 689) entwickelt wurde, das heißt ein Jahrzehnt bevor sie dann wieder, aber nicht in gleicher Ausführlichkeit {ampiezza} und jedenfalls {comunque} fast ohne jede auf Details eingehende Darlegung das Triregno von Giannone (ed. cit., I, passim, vgl. auch Giannone, Vita, ed. cit., p. 237) formulierte; eine These auch von umso größerer Bedeutung, als auf sie gegründet und viele Untersuchungen des 19. Jahrhunderts vorwegnehmend, Vico sich sowohl im Universalen Recht wie auch in den beiden neuen Wissenschaften der homerischen Epen {poemi} bedient, um in seinen wesentlichen Zügen das Leben der heroischen Gesellschaften {società!!} zu rekonstruieren. Weniger originell und weniger bedeutend ist die {3} philosophische These bezüglich der nicht mehr poetischen sondern historischen Person Homers und der nicht mehr poetischen sondern strukturellen Entstehung der beiden Epen {poemi}. Weniger originell, weil die Verneinung der historischen Existenz des Dichters zusammen mit Konjekturen zur polygenetischen Entstehung {formazione poligenetica} zumindestens der Ilias, schon in Frankreich von Boisrobert, Perrault und vor allem von D´Aubignac formuliert worden waren. Weniger bedeutend, weil eine Frage bloß äußerlicher Geschichte betreffend, die, weil sie {non perché, specie dopo...- pleonastisches NON?} besonders nach dem Erscheinen der Prolegomena von Wolf {..wolfiani} (1795) sich unter dem Namen «homerische Frage» in einer elephantösen Literatur verkörperte und zu verkörpern fortfuhr, schließlich angesichts des Mangels an Dokumenten nur durch mehr oder wenig einfallsreiche Konjekturen nicht mehr gelöst werden kann. Auf jeden Fall hatte Vico, obwohl {pure} Vorläufer der Wood, Merian, Wolf, Koeppen, der Heyne, Lachmann, Welcker, Nitsch, der Otto Friedrich {Otofredi} Müller und so weiter im Verzeichnis der Philologen, die, wie schon er, sich der Sammlung und Diskussion von «philologischen Beweisen» zum Thema {sull´argomento} widmeten, und obwohl er auch hier {anche a codesto prosoito} sich in Ungenauigkeiten, Verwechslungen und Übertreibungen verlor, die man mit der Zeit bemerken wird {que si verranno notando via via}, soviel klaren Verstand und guten Geschmack, sich bis auf ein einziges Mal und nur bei wenigen Versen die schon seit der Antike für apokryph gehalten wurden (vgl. § 399), der Interpolationen und Suturen zu enthalten. Und, was mehr ist, weit davon entfernt, die historische Existenz des Poeten ganz zu leugnen, verneinte er sie, wie an seinem Ort deutlich werden wird (§ 873) nur «zur Hälfte».  ¶  Nicht nur behauptet Platon überhaupt nicht, daß Homer «im Besitz einer erhabenen geheimen Weisheit» gewesen sei, sondern beklagt, so wie er im dritten Buch des Staates (vgl. auch Eutyphron, pp. 5 und 6) versichert, daß der Autor der Ilias und der Odyssee um so mehr vom Staate fernzuhalten ist, als er die Götter als Betrüger und manchmal {a volte} als Übeltäter darstellt, im zweiten Buch, indem {mentre} er findet, daß die Heroen schwächlich und haltlos nach Art alberner Weiber seien, daß die Götter und Heroen vom Dichter nicht so dargestellt würden, wie sie müßten, sondern ganz im Gegenteil als Vielfraße, Bordellwirte, gottlos und grausam. Vielmehr ist es {Che anzi,...} ~Dio Chrysostomus (Reden, II, 1 sqq.), der in Polemik gegen gegen dieses Urteils Platons Alexander sagen läßt, daß die homerische Dichtung geeignet ist, den zukünftigen Herrscher des Staates zu erziehen. Deswegen schrieb Vico entweder dem Platon Lehren von Platonikern oder Neuplatonikern zu, - z.B., in einem Fall, von Maximus ~Tirio, ~Dissertazioni, XVI, dem zufolge die alte Weisheit, in der Homer sich auszeichnete, edle Sprößlinge wahrer und gültiger Philosophie getrieben habe; und, im anderen Fall, von Proclos, Leben Homers und von Porphyr, Leben und Dichtung Homers, auch sie Verfechter {assertori} einer homerischen Philosophie; - oder aber er wollte sich auf die vielem Male berufen, wo Platon, indem er von Homer berichtete/erzählte {riferiti} Mythen allegorisch interpretierte, diese, wie es in der ersten neuen Wissenschaft heißt, «platonisierte», nämlich ihnen jene geheime oder philosophische Weisheit unterjubelte {a intrudervi...}, die es dort nicht gab, um sie dann schließlich {auch dort} zu finden (§ 371 und passim {SNP?, SN: nix; aber Nicol, Komm?}).  ¶  Nicht ganz exakt ist, daß «sämtliche übrigen Philosophen» nach Platon «begeistert» {Hösle/Hermann: «mit vollen Segeln»} von einer «erhabenen» homerischen Philosophie sprechen. Seneca z.B., der sich präviconisch {!!!}die Frage stellt, «ob Homer ein Philosoph gewesen sei», klärt sie nicht in affermativem Sinn (vgl. Epist., 78). Vielmehr fand Vico {«er»=Vico?} hierbei/hierin selbst die Senecaer/Senecanisten des 17. Jahrhunderts uneinig: vgl. z.B. den Kommentar, den Lipsius hierzu verfaßte (ed. cit, p. 565, nota 5) und, ebenfalls von Lipsius, die Manductio ad stoicam philosophiam, Buch I, diss. III, in Opera, ed. cit, IV, 479-81.  ¶  Die Meinung {tesi} des Pseudoplutarch, Leben und Dichtung Homers, lautet, daß sich bei diesem Dichter die Quintessenz der Wissenschaften, Künste und auch der Philosophie seiner Zeit finde: eine Meinung, die auch anderen Schriftstellern der Antike teilten (z.B. Strabo, I, passim) und die sich Boileau, Madame Dacier und andere französische Homerolatren zueigen gemacht hatten, sowie in Neapel Giannone, der von dem Dichter als «tiefschürfendem Philosophen» spricht (Vita, loc. cit).  ¶  Nicht Diogenes Laertios im Leben des Pyrron, wo gesagt wird (IX, 11, 8, 71), daß die Skeptiker Homer als ihren Vorgänger beanspruchten, sondern {LEXNAMEN.RTF} {verknüpfen!}Suda {Suida} ad v. LogginoV, schreibt Longinos eine Schrift des Titels Ei jilosojoV OmhroV zu. Das Versehen Vicos kommt daher, daß in seiner direkten Quelle, und zwar unter der Nr. 3 der von Gerhard Langbaine {Gerardo Langbaine: s. Ü H/J §856} seiner weiter unten (§ 856) angeführten {citata} Ausgabe von Longinos vorangestellten Bibliographie, nachdem die eben erwähnte Schrift von Longinos erwähnt wurde, hinzugefügt wird: «Apud Laërtium, in Pyrrhone, sunt qui Homerum scepticorum principem putant»: von diesen Worten bezog Vico, im Eifer der Lektüre, «Apud Laërtium in Pyrrhone» auf die Schrift des Longinos, statt auf «qui sunt» und auf das folgende. {las also «apud..» als einfachen bibliogr. Hinweis : «vgl. Diogenes Laertios im Leben des Pyrrhon»} . (NICOLINI II, 9-12)