§ 855 - N I C O L I N I

Nach der traditionellen Chronologie fand die Verjagung der Peisistratiden aus Athen im Jahr der Welt 3474 oder 510 vor Chr. {= 6. Jhdt. vor Chr.; also 1996 = Jahr 5980 (3984+1996) der Welt} statt, die der Tarquinier aus Rom 3475/509 (Petau, II, 309 und 310). Jedoch setzt Vico in der Chronologischen Tafel das erste Ereignis auf 3491, das zweite auf 3499.  ¶  Statt, wie zu erwarten, zu versichern {asserire}, daß der Zeitraum, während dessen das einzige Überlieferungsmittel der homerischen Epen die Rezitation der Rhapsoden gewesen wäre {sarebbe stata...}, sich von ungefähr den Zeiten Numas bis zum Beginn der römischen Republik erstrecke, und somit an die zwei Jahrhunderte betrage {e sia quindi da ragguagliare a (angleichen...) due secoli} *, besteht Vico stattdessen darauf, zu betonen, daß «noch eine lange Zeit vergehen mußte» während der die Ilias und die Odyssee weiterhin allein mündlich durch die Rezitation überliefert wurden, die die Rhapsoden jedes Jahr auf den Panathenäen vornahmen; eine Behauptung, die implizit die andere enthält, die übrigens am Ende des Paragraphen explizit gemacht wird, daß die Neuordnung/Anordung/Einrichtung des Peisistratos oder des Hipparchos nur mithilfe des Gedächtnisses, nicht schon mithilfe der Schrift zu erreichen war {giungeresse}. Sicher ist, auch wenn man von der Tatsache absieht, daß heute alle glauben, daß die schriftlichen Redaktionen weit vor Peisistratos stattfanden, das Argument, mit dem Vico die eben erwähnte These stützen will, umso schwankender/schwächer {labile}, als man unter der Annahme daß, wenn die beiden Epen zur Zeit der Peisistratiden schriflich fixiert worden wären, «keine Rhapsoden mehr nötig gewesen [wären], die sie in Teilen und auswendig vortrugen», zu der absurden Schlußfolgerung kommen müßte, daß, solange {sin quando!!??} die Rhapsoden fortfuhren, sie auf den Panathenäen zu rezitieren (also, um nur dies zu sagen, auch noch viel später als nachdem Aristoteles schriftlich für Alexander den Großen die sogenannte «Redaktion der ~Kasette» {casetta} {schau nach: Pfeiffer} vorbereitete/vornahm {aprrestò}), die Ilias und die Odyssee weiterhin allein der mündlichen Überlieferung anvertraut blieben. Das sich Vico trotzdem eine Zeit lang genau einer solchen Folgerung hingab, geht aus dem Paragraphen 1115 hervor, in dem nach der Erinnerung an die Tradition, daß in Griechenland die alphabetische Schrift erst zur Vollendung und damit zu weiter Verbreitung gelangte durch Aristarchos {per opera di A.}, was so viel hießt wie im zweiten Jahrhundert vor Chr., die Konjektur formuliert wird, daß «vielleicht» erst von dieser Zeit an die homerischen Epen «aufzuschreiben begonnen wurde». Natürlich ist die Tatsache, daß dieser Paragraph in der definitiven Redaktion/Fassung gestrichen wurde, ein Zeichen dafür, daß Vico der letzten Vollendung und Verbreitung der alphabetischen Schrift in Griechenland ebenso wie der ersten schriflichen Redaktion der Ilias und der Odyssee ein frühere/weiter zurückliegendes Datum geben wollte. Und daß dieses Datum implizit, wenn nicht explizit, von ihm ins fünfte Jahrhundert gelegt wurde, geht aus den §§ 856 und 857 hervor, wo er als Grund für seine Behauptung, Hesiod und Hippokrates seien später als Peisistratas und fast Zeitgenossen von Herodot, eben die Tatsache angibt, daß sie «geschriebene Werke» hinterließen. Jedoch werden Hesiod, Hippokrates und Herodot in der Chronologischen Tafel auf {intorno} das Jahr 3500 der Welt gelegt (484 vor.Chr.), d.h. kaum neun Jahre nach dem von Vico selbst für die Vertreibung der Peisistratiden angesetzten Datum. Womit, wie man sieht, die «lange Zeit», die nach jener Vertreibung «vergehen mußte», - die lange Zeit, während der einziges Überlieferungsmittel der homerischen Epen weiterhin wegen des Fehlens der alphabetischen Schrift die Rezitation der Rhapsoden gewesen wäre - sich auf ein Jahrzehnt oder allerhöchstens auf fünfzehn Jahre {si riduce... an un quindicennino} reduziert.  ¶  Die «andere» Überlieferung, der laut Vico «jede Glaubwürdigkeit» genommen wird, ist jene, nach der die zweiundsiebzig Grammatiker, die von Peisistratos zusammengerufen waren, um jeder für sich die homerischen Rhapsodien zu ordnen, nach vollendeter Arbeit einstimmig die Rezensionen von Aristarchos und ~Xenodotos {di Aristarco e di Zenodoto} als die besten erklärt hätten. Nicht wahr ist also, daß auch Vico, wie von Wolf später behaupt, dem Anachronismus verfiel, Aristarchos zur Zeit der Peisistratiden leben zu lassen. Doch könnte Vico von dieser Legende aus einem Buch des sechzehnten Jahrhundert erfahren haben, das er in anderem Zusammenhang zitiert (§ 1237), nämlich aus den Chronographiae libri IV (Paris, 1598 und 155) des französischen Benediktiners Gilbert {Gilberto} Génebrand (1537-1597), der ihr vollen Glauben schenkt; oder auch, und noch wahrscheinlicher, aus dem erwähnten Werk des Allacci, der auf p. 57 sich nicht entblödet, zu (diesem) Thema {sull´argomento} den äußerst unwissenden Scholiasten/ Scholiographen {scoliaste} der damals noch ungedruckten/ unveröffentlichten {inedite:...; auch : neu,unbekannt} Arte rettorica von ~Dionysiu/os dem T(h)raker/ Dionysius T(h)rax anzuführen (vgl. auch ~Eustazio, Ad Iliadem, I, 1, zu Beginn {in principio}) (NICOLINI II, 33-35)

ZUSATZ *das tut Vico doch!!??, denn von Numa (3290) bis Vertreibung der Tarquinier (3499) an die 200 Jahre! - oder meint Vico mit «noch eine lange Zeit vergehen mußte» mehr als 200 Jahre? («Ja!» meint Nicolini weiter unten: ein Jahrzehnt!!) Wann denn nun «Beginn der römischen Republik»? § 104: Publilisches Gesetz Jahr der Welt 3658/Roms 416 = «Meilenstein in der römischeGeschichte, da die römische Republik mit diesem Gesetz in ihrem Zustand für umgewandelt erklärt wurde, und zwar aus einer aristokratischen in eine demokratische»; § 108 «Später führte Junius Brutus mit der Vertreibung der tyrannischen Taquinier [also Jahr der Welt 3499/Roms 245] die römische Republik wieder auf ihre [heroisch-aristokratischen] Prinzipien zurück».