§ 873 - N I C O L I N I

Tatsächlich {Veramente} hatte Vico, wie in den vorangehenden Anmerkungen zu sehen war, schon in die Notae zum Diritto universale {Dissertationes} etliche der Beobachtungen gesammelt, die in der Zweiten Neuen Wissenschaft die «philologischen Beweise für die Entdeckung des wahren Homer» (§§ 839-72) bilden werden. Aber daß er 1722 tatsächlich noch keine These zur Impersonalität Homers «vorgenommen {Ü H/J von SN «proposto»}» [bzw. «vorgeschlagen»] hatte, ja nicht einmal darüber «nachgedacht» hatte, daß eine solche aus jenen Beobachtungen hervorgehen könne, wird daran deutlich, daß er aus diesen keine anderen Folgesätze {corollari} entwickelt hatte außer daß die alphabetische Schrift zu Zeiten Homers noch unbekannt war, und daß die in der Ilias und in der Odyssee gesungenen Mythen, die schon vor dem Dichter verdorben waren, auch nach ihm {poi} weiterhin verdorben wurden {DU - DISSERTATIO IV} (Opp. II, 679-80). Dennoch, wie im ersten Folgesatz schon implizit das enthalten war, was Vico von der mündlichen Übermittlung der beiden Gedichte, so in dem zweiten das, was er über die jahrhundertlange {secolare} Ausarbeitung ihrer Materie sagen wird.  ¶  «in Gelehrtheit und Gründlichkeit herausragender Männer»: einer davon ist, mit großer Wahrscheinlichkeit, Francesco Spinelli Fürst von Scalea, mit dem Vico eben über Homer in Briefwechsel stand (Opp. V, Namensindex). Man kann ebenfalls an Matteo Egizio denken, den tüchtigen Archeologen und brüderlichen Freund Vicos, der ihn {wer wen?} offensichtlich zu seinen eigenen Arbeiten konsultierte (Opp. I, 140 und vgl. V, VII und VIII, Namensindizes). Außerdem bedenke man, daß, in Neapel, nutzlose Mühen dem Homer gewidmet hatte ein Universitätskollege und häufiger Quälgeist von Vico, nämlich Nicola Capasso (Vico, Opp. V, VII und VIII, Namensindizes). Dieser hatte eine gewissermaßen {in qulche guisa} antihomerische Position angenommen, seitdem er 1699 oder 1700 in der Accademia Palatina del Medinaceli (vgl. Vico, Opp. VI, 440), und somit auch in Gegenwart Vicos {e quindi presente anche il Nostro} eine höchst dürftige Abhandlung zu Incendio e presa di Troia vorgetragen hatte. In dieser - sie wurde posthum 1747 in Venedig im Band VIII einer Miscellanea di varie operette veröffentlicht - vertrat err die These, die übrigens auch D´Aubignac vertrat und die auf das angeführte Werk von ~~Giovanni Magnus (§ 430), ed. cit., p. 207, ja, in scherzhafter Form direkt auf die schon erwähnte Stanze /~Oktave {ottava} des Furioso von Ariost (XXXV, 27) zurückging, die These nämlich {jetzt kommt sie endlich}, daß die Griechen als Verlierer aus dem trojanischen Krieg hervorgegangen wären; und dann, um 1728, während er nach und nach {via via che veniva leggendo} in den neapolitanischen literarischen Zirkel seine ebenfalls posthum herausgebrachte vernakuläre Parodie der ersten Bücher der Ilias vorlas, kommentierte er mündlich, so scheint es, indem er neapolitanisierte, einige der antihomerischen ~Narreteien {buffonerie} , welche die französischen Antihomeristen in Umlauf gebracht hatten (vgl. dazu einige unveröffentliche Briefe aus diesen Jahr von Pietro Giannone an seinen Bruder Carlo, von denen allen sich eine Kopie in der Biblioteca della Società napoletana di storia patria {... für vaterländische Geschichte}befindet). Nicht zu vergessen schließlich, {Non si dimentichi} , daß die homerischen «Entdeckungen», die er schon in den verlorenen Annotazioni zur Scienza nuova prima (1728-29) erörtert {riagionate} hatte, von Vico seit den ersten Monaten von 1728 dem Graf Gian Artico Porcia vorangekündig worden waren, der davon, wenn auch ungenau, Muratori in Kenntnis gesetzt hatte (Vico, Opp. VIII, 257).  ¶  Der Satz {La frase} «auf den Verdacht kam, daß der bisher angenommene Homer nicht der wahre sei», ist zu unbestimmt /unverbindlich /allgemein {troppo generica} und andererseits vermischt und verwechselt Vico selbst in diesem dritten Buch zu oft seine drei unterschiedlichen homerischen Thesen (§ 780) {RTF-KOMM § 873} , daß man sicher sein könnte, daß der «Verdacht» sich bei den scharfsinnigsten unter diesen «hervorragenden Männern» nur auf die dritte sowohl weniger originelle wie auch weniger wahre homerische Entdeckung Vicos bezieht und nicht auch und sogar vor allem {prevalentemente} auf die originellste und wahrste erste. Dies umso mehr, als er in der Scienza nuova prima bei der Erörterung des Ursprungs und der Natur der Dichtung (vgl. Opp. III, Namensindex, unter «Homer») keineswegs {punto} zur historsichen Person des Dichters und zur Struktur und Überlieferung seiner Dichtungen die erwähnten philologischen Beobachtungen {osservazioni} der Notae [Dissertationes] zum Diritto universale wiederholt hatte; und in einem etwas späteren Vergleich {parallelo} zwischen Homer und Dante (Dezember 1725) hatt er sogar so sehr {a tale punto} die historische Individualität eines einzigen Homer [wieder] behauptet {aveva riaffermato} , und es also für so selbstverständlich gehalten, daß ein einziger Dichter Autor des einen wie des anderen Gedichts sein könne, daß er ~bereit war {da porsi a indicare} , zahlreiche Übereinstimmungen {punti di contatto} nachzuweisen zwischen der allgemeinen poetischen Inspiration der Ilias und des Inferno und zwischen der allgemeinen poetischen Inspiration der Odyssee und jener des Purgatorio und des Pariadiso (Opp. V, 198-99)  ¶  Da nun «drängen - strascinare» bedeutet, «jemanden mit Gewalt dorthin schleppen, wohin er nicht will» {trarre qualcuno con la violenza dove non vorebbe} {RTF-KOMM § 873} , ist überdeutlich {è sin troppo chiaro (vgl ITA.DBA «sin» und Nicolini, Commento I, p. 291} klar, daß Vico in sich selbst etwas fand, daß ihn daran hinderte, vollständig die historische Existenz eines Homer-als-Individuum zu verneinen; in der Ilias und in der Odyssee also jenes individuelle künstlerische Element zu verneinen, das in einem Kunstwerk alles ist, und dem er selbst großes Gewicht beimißt, wenn er auf die «Gewalt» anspielt, welche die beiden Gedichte, nämlich ihre strahlende Schönheit {sfolgorante bellezza}, auf ihn ausgeübt haben. Da nun {Comunque, poiché...} die historische Existenz eines Individuums «zur Hälfte» zu verneinen heißt, sie zur anderen anzunehmen {ammetterla} , muß man logischerweise schließen, daß Vico in der Ilias und in der Odyssee sowohl das Werk eines Homer-als-Symbol sah, d.h., wie er hinzusetzt, des griechischen Volkes, daß in einem Jahrhunderte währenden Zykel {in un ciclo secolare} singend die eigene Geschichte erzählt, oder, was auf dasselbe hinauskommt, eines Haufens /Schwarms //einer Menge {turba} von minderen volkstümliche Dichtern {minori poeti popolari}, wie auch das eines Homer-als-Individuum, also eines oder sogar/vielleicht {magari} zweier großer Dichter, welche, indem sie diese historische Materie poetisch /dichterisch überarbeiteten, sie, auch wenn mit den Verderbnissen /Schäden {guasti} , die der folgenden mündlichen Überlieferung zuzuschreiben sind, ungefähr in der Form überlieferten, in der sie auf uns gekommen ist. (vgl. §§ 780, 875-78, 905). (NICOLINI II, 37-39)