§ 879 - N I C O L I N I

Vgl. § 803, 804 und 866.  ¶  Da der erste Teil des Abschnitts sich zweifelsohne auf den Homer-als-Symbol bezieht, dürfte er in dem Sinn zu deuten sein {essa parebbe da interpretare nel senso} , daß die historische Materie //die historischen Materialien der Ilias in einer viel früheren Zeit Gestalt angenommen hätte {si sarebbe venuta configurando} als der, in welcher der gleiche Prozeß für die Materie der Odyssee von statten gegangen wäre (vgl auch § 880). Jedoch das Argument, dessen Vico sich bedient - daß die kriegerische {guerresca} Illias wilde und primitive Mentalität, Psychologie, Sitten und Gebräuche verrät, die also {quindi} unvereinbar sind mit den zarten und aus menschlichen Zeiten stammenden, wie sie die Odysse offenbart - ist unvereinbar gerade mit der allgemeinen Maxime Vicos (die schon vor ihm Hobbes formuliert hatte), daß der Kriegszustand für jede Nation, sei sie auch noch so zivilisert, einen unausweichlichen Rückgang von der Vernunft und der «voll entfalteten» Menschlichkeit zum «Recht der Gewalt»; von der Mentalität, der Psychologie, von den Sitten und Gebräuchen der «menschlichen Zeiten» zu denen der «heroischen» oder primitiven Zeiten; also, alles in allem, von der Zivilisationen {civiltà} zur Barbarei {widerspricht das dem Entwicklungssschema?}mit sich bringt. Und es ist noch weniger vereinbar mit dem, was Vico selbst (Opp V, 199) über das aischyleische und sophokleische Theater bemerkt, das er um einige Jahrhunderte später als die Odyssee anzusetzen sich gezwungen sieht, in dem er aber trotzdessen die selbe Grausamkeit {truculenza} der Sitten findet, wie sie die Ilias bezeugt.  ¶  Unter den verschiedenen Dingen, die Plato im zweiten und dritten Buch der Politeia an den Sitten der homerischen Götter und Helden zu tadeln findet (vgl. schon § 780), erwähnt er keineswegs den «Luxus des Alkinous {H/J}/Alkinoos», die «Lustbarkeiten der Kirke» {le «delizie di Circe»} {RTF-KOMM § 879} usw, und wie er dann konsequenterweise nicht der Übertreibung verfällt, die Sitten der Phäaken als «abstoßend» zu qualifizieren - die doch, in einigen Teilen {per qualche parte} zumindest, von solcher Schlichtheit inspiriert sind, daß Nausikaa, obwohl Tochter des Königs, persönlich die eigene Wäsche wäscht - so behauptet er von ihnen auch nicht, daß sie mit den in der Ilias bezeugten Sitten unvereinbar wären, und noch weniger schreibt er, daß Homer sie «in einer Eingebung... vorhergesehen» habe - wahr ist hinsichtlich des letzten Punktes [nur], daß Vico die Bemerkungen {osservazioni} falsch interpretieren oder erinnern konnte, die im Ion zum wahrsagerischen Raptus {estro} der Dichter und besonders Homers gemacht werden. Was nun die weitere Kritik angeht: - daß auf diese Weise der griechische Philosoph Homer «zu einem törichten Begründer der griechischen Zivilisation» gemacht hätte  ¶  so steht dagegen {sta in fatto che} , daß im zehnten Buch {nel decimo} {?}der Politeia Sokrates, nachdem er hervorgehoben hat, daß es keine Beispiele von Staaten gibt, welche sich Homerm als Gesetzgebers, Heerführers {capitano} oder Erziehrs der Jungend bedient hätten (599 d-600 b), den Glaukos mit gutmütiger und scherzhafter Ironie ermahnt, wenn er [mal] auf jene stößt, welche den Dichter als Erzieher Griechenlands feiern, er sie toto corde umarmen solle, denn es gäbe auf der Welt keine treuherzigeren /naiveren Leute {giacché non v´ha al mondo gente più candida} (606 e). Wahrscheinlich verwechselte Vico auch dieses mal, wie im § 780, Plato mit Dion Chrysostomos. Vgl. auf jeden Fall § 899. (NICOLINI II, 40/41)