§ 1091 - N I C O L I N I

Natürlich bedeutet «Humanität» nicht «Humanitarismus», sondern die «den menschlichen Zeiten eigene Zivilisiertheit - civiltà» (§ 978). Dabei konnte Vico sicherlich nicht einen unveröffentlichten Brief des Jesuiten Organtino Gnecchi Soldi über Japan kennen, der 1577 schrieb, daß die Europäer verglichen mit den Japanern «äußerst barbarisch» seien (P. Tacchi-Venturi, Il carattere dei giapponesi secondo i missionari del secolo XVI, Rom 1960, p. 24, und vgl. 33 sqq.). Wohl aber konnte er kennen und kannte sicherlich das Werk eines anderen Jesuiten, Pierre-François[-Xavier de]  Charlevoix aus Saint-Quentin (1682-1761) mit dem Titel Histoire de l'établissement, des progrès e de la décadence du christianisme dans l'empire du Japon (Rouen, 1715); in diesem Buch (I, 11) schreibt Charlevoix, daß die Japaner freimütig, aufrichtig und treu «jusqu' au prodige» seien, den Handel verachten, und deshalb eines der ärmsten Völker der Welt seien; dann aber fährt er fort, daß es sich um «cette pauvreté» handle, «qui produit l'indépendance, que la vertu rend respectable, et qui éleva si fort les  p r e m i e r s  r o m a i n s  au dessus des autres hommes».  ¶  Zu ihrer «Wildheit in den Waffengängen - la ferocia nell'armi» hatte schon Francisco Xavier bemerkt, daß bei den Japanern «sowohl die Adligen wie das niedrige Volk immer Schwert und Dolch bei sich führen» (Brief an die Schüler in Coimbra [Portugal] aus Kagoshima [Japan], 5. November 1549, ins Italienische übersetzt in den Diversi avisi particulari dall'Indie di Portogallo, Venedig 1564, cc. 104-105 und von Tacchi-Venturi, op. cit., p. 17 referiert). Wenige Monate später schrieb ein anderer Jesuit, Cosimo ~de Torres aus Valenza [Oberitalien?] (1510-1570) «Dieses Volk ist sehr kriegerisch und verhält sich, wenn es um die Ehre geht, ähnlich den a l t e n  R ö m e r n» (Bericht vom 8. Oktober 1561, aufgenommen in die Nuovi avisi delle Indie di Portogallo IV, Venezia 1565, c. 1 a und von Tacci-Venturi op. cit. p. 23 referiert). Um zu den Quellen zu kommen, die für Vico am zugänglichsten waren, so hebt Pater Daniello  Bartoli im ersten Teil seiner Asia, ed. Roma 1667, p. 129, die große Geschicklichkeit der Japaner bei der Handhabung «nicht allein der Katanen» hervor, «die Schwerter nach Art der Krummsäbel sind, sondern auch der Musketen und der Lanzen{armi in aste}» und des Bogens, um dann die in Japan geläufige Redensart mitzuteilen, «daß die Adligen nicht geboren werden, um, wenig besser als die Tiere, in einem Bett, auf pöbelhafte Weise alle viere von sich streckend, den Geist aufzugeben, sondern um auf dem Schlachtfeld als starke und mutige Kämpfer zu fallen». Zu diesen Quellen gehört auch ein Buch, das fast mit Sicherheit die direkte Quelle Vicos war, und von dem 1722 in Venedig eine italienische Übersetzung von Selvaggio Centurini erschien, nämlich die Histoire de l'église du Japon des Jesuiten ~Jean Crasset aus Dieppe (1618-1692), der die soeben erwähnten Auskünfte über den Ehrenstandpunkt und die Furchtlosigkeit der Japaner mit mehr Einzelheiten wiederholt.  ¶  Daß die Sprache der Japaner «etwas der lateinischen Ähnliches - un aria simile alla latina» habe (vgl. auch § 1399), hat Vico vielleicht einer falsch verstandenen Stelle des Crasset, op. cit. I, 7, entnommen: «Leur langue est grave, élégante et riche: elle surpasse sans contrédit le grec  e  l e  l a t i n  tant en l'abondace qu'en la variété de ses expressions».  ¶  Was er dann über die «entsetzlichen Götter, alle ausgestattet mit bedrohlichen Waffen» sagt, ist vielleicht eine dunkle Erinnerung an Bartoli, op. cit., p. 172, der unter anderen japanischen religiösen Sekten eine erwähnt, die «bestimte Tiere und besonders Wölfe» verehrt; eine andere, die ~statt dessen{diversamente} «chamis» und «fotoches» (die einen einheimische Halbgötter, die anderen aus China importiert) anbetet; schließlich eine, welche dem Teufel opfert «in seiner ihm eigenen Gestalt, das heißt in der  e n t s e t z l i c h e n  u n d  m o n s t r ö s e n, in der wir ihn darzustellen pflegen».  ¶  Was den Adelsstolz der Japaner angehrt, so hatte schon Francisco Xavier in dem eben angeführten Brief (vgl. Tacchi-Venturi p. 17) bemerkt, daß «um keinen Preis ein Edelmann in ein nichtadliges Haus einheiraten würde, weil er dann die Ehre verlieren würde». Aber auch hier muß Vico nicht ohne einige Verzerrungen aus Crasset geschöpft haben, der, nachdem er berichtet, daß «le vice des nobles est de mépriser et de fouler aux pieds ceux qui ne le sont pas», und daß sie «les bourgeois» als Menschen ansehen «nez pour la servitude et [qui?] n'ont pas droit de jouir de la liberté», fortfährt: «Il n'y a que la religion chrétienne qui leur puisse oster cette fierté d'esprit; e c'est un des grands miracles de la grâce que de rendre humble un japonais».  ¶  Was Vico dann über den Kaiser von China sagt, schöpfte er außer aus den mündlichen Mitteilungen des [Missionars Matteo] Ripa [aus Eboli, 1682-1746] (§ 99) vielleicht aus dem sechsten Kapitel des ersten Buches des zum § 50 zitierten Werkes von Trigault (De sinensis reipublicae administratione); in diesem Kapitel (pp. 41 sqq.) wird der menschliche Charakter der chinesischen Regierung genau wie bei Vico mit der Pflege in Beziehung gesetzt, die man dort den «Wissenschaften - lettere» angedeihen läßt.  ¶  Zum «[Kaiser] Indiens - dell'Indie» - so wurde zur Zeit Vicos der Großmogul genannt - schrieb La Martinière im zitierten Dictionnaire géographique ad v. Mogol fast gleichzeitig mit Vico (1732), daß die ganz unfriedliche Hauptsorge dieses Herrschers war, ein Heer von 422.000 Fußsoldaten, 211.000 Reitern und zahlreicher Elephanten auf die Beine zu stellen, um (nicht immer erfolgreich) die großen von ihm abhängigen Gebiete zu halten. Auch wird in einigen Reiseberichten des siebzehnten Jahrhunderts über den Mogul von keiner Neigung zu den «Künsten vor allem des Friedens» gesprochen: weder in der Relation de la cour du Mogol des Kapitän Hawkyns, noch in den Mémoires des Thomas Rhoe, ambassadeur du roy d'Angleterre auprès du Mogol pour les affaires de la Compagnie angloise des Indes orientales, noch in der Voyage de Edouard Terry aux Indes orientales; drei Schriften aus einem Sammelband, den Vico kannte, weil er an anderer Stelle (§ 337) daraus einen anderen Beitrag [von Joost Schouten] zitiert, nämlich aus den schon erwähnten Relations de divers voyages curieux, hg. [1663 in Amsterdam]. von [Melchisedech] Thévenot{[..] nach § 337 hier eingetragen}. Vgl. ferner zum hohen Ansehen, das der Großmogul im Gegensatz zu Rußland und der Türkei am [persischen] Hof von Isfahan genoß einen Brief von Pietro Della Valle vom 20 August 1619 (Viaggi, ed.cit. 22 sqq.).  ¶  Die Quelle zu den übrigens sehr allgeinen Angaben über Persien ist nicht festzustellen. Diejenigen über die Türkei hingegen sind sehr wahrscheinlich ein Echo aus Bodin, der als typisches Beispiel für den muselmanischen Hochmut anführt, daß «le roy des turcs ... se qualifie le plus grands de tous les empereurs et le premier sarrach des musulmans» (franz. Ausgabe p. 211); und als Beispiel für Pracht und Prunk usw., daß der Großsultan «fait estaller en haut lieu et mette en vue les présents qui luy sont faicts par ses amis, aussi bien que par ceux qui luy sont tributaires, pour donner à cognoistre combien il est redouté des estrangers; et desfraye par magnificence tous les ambassadeurs des autres princes qui sont à sa Porte», usw. (p. 867). (NICOLINI II, 141-143)

ZUSATZ: "die «den menschlichen Zeiten eigene Kultur -civiltà»" (§ 978): eine solche Formulierung findet sich weder in § 978, noch an den Stellen, wo nach Auskunft der Konkordanz zur SN44 von Marco Veneziano Vico das Wort «civiltà» benutzt hat. Diese Stellen sind im einzelnen (Seitenzahlen der Ausgabe 1744 Neapel): 63.31; 381.09; 405.09; 407.04; 407.10; 426.05; 493.20 [unter Berücksichtigung der Fehlpaginierung =483.20 ]; nach der §§-Einteilung Nicolinis finden sie sich in § 100 «leggi valevoli di addimesticare una gente barbara ad un' umana civiltà» - H/J «zu menschlicher Kultur»; § 783 «Ecco l'Omero finor creduto ordinatore della greca Polizia, o sia Civiltà» - H/J «Begründer der griechischen Zivilisation, das heißt der politischen Kultur»; § 879 «Ma egli [Platone] così fece Omero uno stolto Ordinature della Greca Civiltà»- H/J «Begründer der griechischen Zivilisation»; §899 «l'Ordinatore della Greca Polizia o Civiltà» - H/J "Begründer der politischen Kultur, das heißt der Zivilisation»; § 901 «fondare la Greca Civiltà»- H/J «die griechische Zivilisation»; § 950 «celebrare la civiltà»- H/J «zivilisiert zu leben» ; § 1055 «o debbon trattare co' Turchi con civiltà» - H/J «mit den Türken zivilisiert`umgehen»; Im § 978 spricht Vico hingegen von den «zivilen oder gesitteten Zeiten - tempi civili ovvero modesti» als dritter «Zeitepoche» - Epoche des «natürlichen Rechts der Völker», das Ulpian durch den Zusatz«menschlich» kennzeichnete.