Medienblitze und Mediendonner. McLuhan,
Medien, Mythen, Vico.

Karl Moormann

Seit der Übersetzung (mit buchlanger Einleitung) der Autobiographie (1944) und der Neuen Wissenschaft (1948) des neapolitanischen Rhetorikprofessors und ´Geschichtsphilosophen´ Giovanni Battista Vico (1668-1744), vor allem aber seit dem Vico-Symposion von 1968 zu seinem dreihundertjährigen Geburtstag hat die große Vico-Renaissance in den USA in zahllosen Veröffentlichungen zahllose Bindestrichpaare (Vico-Hegel, Vico-Marx, Vico-Cassirer usw.) erzeugt, die sich wie ein Who is who der Geistes- und Sozialwissenschaften lesen. Unter den hunderten von Titeln zu Vico, die die CD-ROM des "Philosophers Index" auswirft, findet sich allerdings keiner, der die grundlegenden Auswirkungen der USAmerikanischen Vico-Renaissance für die Medien- und Pop-Philosophie der sechziger Jahre Marshall McLuhans erwähnt. Das mag an der schrill anachronistischen Art dieser exzentrischen Philosophie liegen, aber immerhin ist für McLuhan Giambattista Vico nicht nur eine einflußreiche historische Gestalt gewesen, sondern, wie sein Sohn Eric McLuhan 1988 in Laws of Media enthüllt, ebenso wie Francis Bacon (1561-1626) ein über jeden historischen Abstand unmittelbar verfügbarer Identifikations- und Gesprächspartner, mit dem man konferieren kann "as one would consult colleagues". So handelt es sich nicht nur um ein Bindestrich- oder Rezeptions- und Auseinandersetzungsverhältnis, sondern um die Vollendung einer Mission: die Medientheorie McLuhans bilde den krönenden Abschluß einer Reihe von "Neuen Wissenschaften", nämlich des Novum Organum von Francis Bacon und der Scienza Nuova von Giambattista Vico, und der Sohn überlegt im Vorwort zu seinem Buch, das er in langjähriger Zusammenarbeit mit dem Vater erarbeitet habe und als dessen endgültiges Medienbuch hinstellt, ob er den Untertitel von Laws of Media , nämlich The New Science, nicht als Haupttitel hätte nehmen sollen, denn hier handle es sich um "volume three of a work begun by Sir Francis Bacon and carried forward a century later by Giambattista Vico".
Machen wir also ein kleines Lektüreexperiment und versuchen, McLuhans Medienfabeln durch die Brille eines mythendeutenden Vico zu entziffern, wie ihn McLuhan durch seine mediendeutende Brille gelesen haben könnte. McLuhan hatte schon als Jüngling sich ein Kompendium von seltsamen Wörtern voll geheimer Bedeutung und von kernigen Zitaten und Redewendungen, also eine Art Enzyklopädie von Allgemeinplätzen oder Topoi zum Zwecke unendlichen Disputierens und gewaltigen Deutens und Redens angelegt. Er hatte dann in seiner zum Teil während seiner Studienzeit in Cambridge angefertigten Dissertation von 1943 die europäische Rhetoriktradition und ihre ´symbolistischen´ allegorischen Deutungstechniken des Buches der heiligen Schrift wie auch der Natur von den Anfängen bis zur Renaissance aufgearbeitet und sich angeeignet. Als schlecht bezahlter Englischprofessor an kleinen katholischen Universitäten der USA kam er dann in den fünfziger Jahren auf die Idee, als Gegenstand von Deutungen in dieser von ihm weiterentwickelten ´symbolistischen´ Tradition - er hatte sie zu einer speziellen und originellen Form des New Criticism ausgebaut - das ´Buch der Literatur´ durch das der Medien zu ersetzen. ´Medien´ bilden nun eine wirkliche, weltweit verständliche poetische Universalsprache, die jedes Buch und alle Grenzen sprengt: sie sind Metaphern, Hieroglyphen, Ikone, "inclusive images" oder, schreibt er 1959 in Myth and Mass Media, Mythen, die auf eine verborgene, intelligible neue Ordnung der Dinge verweisen.
Vico seinerseits hatte, voll eingetaucht in die ´symbolistische´ Renaissancetraditon weitgreifender Deutung von ägyptischen Hieroglyphen und griechischen Mythen, von Emblemen, Devisen, Standarten, Wappen und anderer sinnträchtiger Gerätschaften und zugleich im Bewußtsein einer revolutionären Neuerung, die er auch unter dem Eindruck von Berichten und Deutungen von fremdartigen Gebräuchen, Zeichen und Mythen der damals noch immer neuentdeckten ´amerikanischen Wilden´ vornahm, dieser Tradition folgende Wendung gegeben: in Mythen und Hieroglyphen war nicht eine uralte geheime und höchste Weisheit verborgen und verschlüsselt worden, um sie vor Mißbrauch durch die ungebildeten Massen zu schützen und den wenigen erwählten Weisen späterer Zeiten zur Entzifferung zu überliefern. Vielmehr waren sie - geschichtlich - als rohe Dichtungen einer barbarischen Zeit aus den Uranfängen der (heidnischen) Menschheit im Übergang von tierischer Lebensform zu den ersten Anfängen der Humanität zu deuten. Nach der Sintflut waren die Nachkommen Noahs (bis auf das Volk der Hebräer) in den Zustand tierischer Wildheit abgesunken. Sie irrten ziellos, einsam und verstreut in dem ungeheuren Wald der Erde umher, waren von riesiger Körpergröße und nur auf der Jagd nach Nahrung und Frauen. Als dann die Ausdünstungen der großen Flutkatastrophe sich zu schweren Wolken verdichtet hatten, begann es "eines Tages" furchtbar zu blitzen und zu donnern, und die umherirrenden Tiermenschen wurden in Furcht und Schrecken an einem Platz festgebannt und gezwungen, ´aus sich herauszugehen´ und aus ihrer rohen, ungeheuerlichen und ganz körperlichen Phantasie die von der göttlichen Vorsehung in ihnen keimhaft angelegte Idee eines Gotts in primitivster Form zu erfinden, aus sich herauszustellen und auf den tobenden Himmel zu projizieren. Sie entdecken den Himmel nach dem Maß ihrer eigenen ungeheuerlichen Körperlichkeit und Phantasie als maßlos großen Körpers eines grunzend, brüllend und blitzend vernichtenden Jupiters: der erste primitive Gott eines jeden Volkes. Gründungsmythen erwachen: jedes heidnische Volk dichtet seinen Herkules, der den großen Wald anzuzündet und urbar macht. Auspizien oder Weissagungen entstehen als erste rohe Theologie, und eine erste poetische Sprache entspringt aus furchtsam-furchtbar stummen Zeichen, Gesten, Dingen, später heroischen Sprüchen, Metaphern, Hieroglyphen oder Mythen der ersten primitiven Dichter oder barbarischen Theologen. Der rohe Ursprung der Menscheit ist, so Vico, poetisch und Poesie ist die erste rohe Form des Selbstausdrucks ihrer beginnenden Entwicklung zur Humanität. Diese Entwicklung verläuft zyklisch. Im Gang der Geschichte entwickeln Völker sich aus primitiven und rohen Anfängen zur Höhe der Humanität und Zivilisation, um dann in erneute Barbarei zu fallen und unter den Trümmern ihrer von ihnen selbst durch die "Barbarei der (´zersetzenden´ und schriftverseuchten, so McLuhans Lektüre Vicos?) Reflexion" zerstörten Kultur wieder wie im ersten ungeheuren Wald als Menschentiere umherzuirren, bis neuerliches (aber ganz anderes?) Blitzen und Donnern sie anhält, den einen Gott neu zu erfinden.
Um diese Entdeckung zu machen, hatte Vico, so sagt er in seiner Neuen Wissenschaft, zwanzig Jahre seines Gelehrtenlebens benötigt, hatte dann alle Bücher vergessen müssen und "wir mußten von diesen unseren menschlichen, zivilisierten Naturen zu jenen ganz wilden und schrecklichen hinabsteigen, die vorzustellen uns vollständig versagt ist und die wir nur mit großer Mühe begreifen können." McLuhan aber hatte in unserem Lektüreexperiment sich nicht nur die erwähnte ´symbolistische´ Tradition angeeignet, um Understandig America , wie es in der Mechanical Bride im Vorgriff auf Understandig Media hieß, zu gewinnen. Dazu hatte vielmehr der im englischen Cambridge zur europäischen (so sah er es) Hochkultur und kurz danach zum Katholizismus konvertierte Fremdling aus den kanadischen boondocks in heroischer Identifikation mit dem heroischen Abstieg Vicos in das Chaos un- und vormenschlicher Barbarei mit der Mechanical Bride (1951) oder dem Guide to Chaos and Typhon in America (so der Titel einer früheren Version) den Abstieg in die Untiefen des - wie es dort heißt - "Maelstrom" der in seinen Augen barbarischen götzendienerisch-heidnischen Sitten, Gebräuche, Hieroglyphen und Mythen der ´amerikanischen Wilden´ (ihre Häuptlinge oder "Super Chiefs" findet man in Varietés "idolatrously seated in front of the...Love-Goddess Assembly Line") begonnen, um deren rohe poetische Sprache und "dithyrambic poetry of industrial man" aus Deodorant-Reklame, Wurlitzerorgeln, Comics und Kinsey-Statistiken als Zeichen eines neuen Aufstiegs zur Humanität aus rohen Anfängen zu entdecken. Zugleich aber hatte er damit nicht nur seine Neue Wissenschaft von den Medien zu begründen, sondern sich auch als einer der barbarischen und wilden theologischen Dichter oder Orpheus (jedes heidnische Volk hatte nach Vico seinen Orpheus) dieser neuen Urzeit zu verstehen begonnen, der, die Weissagung oder "electric auspices" der Neuen Medien betreibend, in der rohen Sprache dieser ´amerikanischen Wilden´ die wilden Gesänge und Mythen des postliterarischen Medienzeitalters dichtet.
Understanding Media: Das jeder ´linearen´ ("lineaL" schreibt McLuhan, um den genealogischen Zusammenbruch der Götterfamilien der Schriftkultur anzuzeigen) Buchform spottende Werk von 1964, eigentlich eine zyklisch rotierende Enzyklopädie oder Summe aller Ikonen, Hieroglyphen oder ´Medien´ nach Renaissancevorbild, kulminiert in einer absurden poetisch-heroischen Darstellung des unwiderstehlichen Effekts des Fernsehbildschirms als unabweisbare Botschaft des Mediums selbst: Fernsehen blitzt. Lag es nun an der geringen Auflösung des alten Fernsehbildes, oder war McLuhan so kurzsichtig, daß er nicht fern, sondern nah und nur Funken sah, oder beides? Vielleicht ermöglicht gerade die im Lektüreexperiment angenommene gedoppelte Vico-Perspektive den Zugang. Der Fernsehzuschauer sieht nicht zu, sondern wird von Lichtpunkten oder -blitzen gesehen oder getroffen. "He is bombarded with light impulses that James Joyce called the ´Charge of the Light Brigade´ that imbues his ´soulskin with sobconscious inklings.´". Fernsehen ist sensorische und kulturelle Deprivation in brutalster Form, die, so zeigen (meint McLuhan) Experimente, zu seiner halluzinatorischen Erfindung als Medium oder Mythos führen: "the subject begins a furious fill-in or completion of senses that is sheer hallucination." Da der TV-Himmel keine Inhalte oder Bilder oder sonst Faßbares, sondern nur Lichtpunkte oder -blitze aussendet, verlangt das Fernsehbild "each instant that we 'close' the spaces in the mesh by a convulsive sensuous participation". TV-Sendung ist unsere Sendung, TV als Neues Medium zu halluzinieren, und unter dem Blitzen des Fernsehhimmels werden wir neuen Wilde gezwungen, in epileptischen "do-it-yourself"-Zuckungen aus uns herauszugehen, unser Innerstes nach Außen zu kehren ("declare our beings totally"), die in ihm vergrabenen himmlischen Funken ("seeds of change") zu befreien, um aus und nach Maßgabe unsrer von TV-Blitzen "superstimulierten" Phantasie Neue Medien als Mythen ("gods or minor religions") zu erfinden.
In einem zweiten Lektüreschritt aber wäre dieser Fernsehschirm eine autoreferentielle ´Hieroglyphe´ von Understandig Media selbst: jener blitzende und donnernde, fast hautnahe und perspektivlose Schirm eines "mosaic mesh" aus "light-impulses" oder schrecklichen, furchtbaren und erschlagenden McLuhanesischen Geistesblitzen und heroisch-poetisch donnernden Sprüchen, Gesängen, Schlagworten, Devisen und Gemeinplätzen, die uns im "primeval forest" oder in der "ingens sylva" dieser Universalmedienenzyklopädie verstreut und verwirrt umherirrende informationssammelnde Nomaden (so schrieb er) oder schriftentkernte Leser auf der Stelle bannen soll, um uns in Furcht und Schrecken und unter partizipatorischen Zuckungen hingebungsvoller Gestalterkennung zu provozieren, in heilig erschrockener Verehrung Understanding Media als neue Mythologie und unerschöpfliche Medienspruchkammer verstehend selbst zu dichten und ihren ersten Mythographen als Gründungs-heroen eines neuen Zeitalters (als Herkules sah sich McLuhan, den Augiasstall der Moderne zu reinigen) unter dem magisch-heroischen Namen "McLuhan" durch erschrockenes "fill-in" seines blitzenden und donnernden Verstehens unseres Verstehens von Neuen Medien zu erfinden. Soweit das selbst etwas blitzende und donnernde Lektüreexperiment zu McLuhan - und nur zu ihm in seiner wilden und exzentrisch wirren Begrifflichkeit - als neuem Medium. Aber Vicos Prinzipien einer neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker möchte man vielleicht doch einmal genauer lesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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