2. University of Manitoba 1928-1934

1928 bezieht Marshall McLuhan die Universität von Manitoba. Mit 3500 Studenten war sie die drittgrößte Kanadas. Der Campus bestand aus einer Ansammlung von Quonset-Hütten; ähnlich elementar war zum großen Teil die Lehre. Ein Ziel der Ausbildung war es, den Kindern von Pionieren und Immigranten einen standard of literacy beizubringen. Er belegte einen five-year honor course, der obgligatorisch Physik und Fremdsprachen einschloß, bevorzugte aber deutlich, in arkanen Überlieferungen oder abgelegenen Gebieten den Spuren einer fesselnden Idee zu folgen. Die Professoren fand er mittelmäßig, stundenlange Vorträge über Milton sagten ihm nichts Neues und die Frage, was das Wort imprimatur bedeute, überforderte ihn angesichts seiner Liste seltsamer Wörter auch nicht: er war der einzige, der sie beantworten konnte.(15) Seiner Meinung nach war Literatur Nahrung für die Seele, die nach Wahrheit und Schönheit durstete.
Die breite Wissensfundierung, die er anstrebte, umschloß englische Literatur, Geologie, Geschichte, Latein, Astronomie, Ökonomie und Psychologie. Im ersten Jahr hatte er Lust, sich ganz in die Ingenieursausbildung zu stürzen - angesichts der hilflosen Ehrfurcht, mit der er später bei Gelegenheit die Dampfwolken aus dem überhitzten Kühler seines Autos betrachtete, ein scheinbar seltames Vorhaben. Was ihn daran faszinierte, war aber eher ein Interesse für "Struktur und Design" weit auseinandergelegener Wissensgebiete. Er war eben, so Marchand, an großen Zusammenhängen interessiert. Astronomie und Geologie inspirierten den Untergraduierten, so dessen Tagebuch, mit Gedanken über die Großen Zyklen der menschlichen und göttlichen Geschichte.(16)
Im zweiten Studienjahr ließ er vom Ingenieursstudium ab. Aber welche Richtung sollte er einschlagen? Er fühlte sich den meisten Gleichaltrigen überlegen, aber, so fragte er sich im Tagebuch, auf welchem Gebiet? Er wollte ein Großer Mann werden und hatte das deutliche Gefühl, daß der Weg zur Größe nicht über eine Professur führte.(17) Nach einem Sommer mit einer survey crew in der ländlichen Umgebung von Manitoba vertraute er seinem Tagebuch an, daß sich ein schlacksiger junger Mann wie er, der in seinem Zelt Bücher las während seine co-worker auf Sauftour gingen, keiner großen Beliebtheit erfreuen konnte. So beschloß er, sich ganz auf English und Philosophie zu konzentrieren.
Der Unterricht in englischer Literatur an der Universität von Manitoba war damals fest auf dem viktorianischen Ideal des kultivierten Amateurs gegründet, der ästhetische Freude und Erbauung in der Bekanntschaft mit den anerkannten Größen der Literatur fand: Spenser, Shakespeare, Milton und den großen romantischen Dichtern. Die anerkannten critics waren Prosastilisten, die ihre Vorstellungen von Großen Männern und Großer Literatur in Essays voller Tiefe, Pathos, Humor und Charme ausbreiteten.(17) Diese Gentlemen schrieben in der Tat schöne Prosa, die zu Recht zu den belles lettres gezählt wurde. Aber in England war die Tradition der belles lettes um 1930 von T.S. Eliot, I.A.Richards und Ezra Pound niedergemacht worden. In Manitoba schien kein Mensch sich dessen bewußt zu sein. Auf den meisten Universitäten Nordamerikas war literary criticism nicht weit über rein historische und biographische Analysen hinausgediehen.
Bei allem Zorn auf die Beschränktheit der Professoren hatte McLuhan doch nichts gegen belles lettres oder gegen "adventures of the soul amidst masterpieces". Er war im Gegenteil davon entzückt. Von allen großen Männern und Schriftstellern war für ihn der größte Thomas Babington Macauly, dessen Berühmtheit allerdings wie die anderer viktorianischer Giganten schon seit der Jahrhunderwende im Sinken begriffen war. In seinem Tagebuch bekannte er, seine Zuneigung grenze an "Heldenverehrung". Das war mehr als Faszination für stilistisches Können, denn aus Trevelyans klassischer Biographie Macaulys lernte er, so das Tagebuch, was es bedeuten könne, ein Mann und liebender Bruder in einer glücklichen Familie zu sein. Ähnliche Erbauung erfaßte ihn bei Berichten über die Tugenden und Fähigkeiten von T.H. Huxley und Thomas Carlyle, and there was no stopping his visions of noble self-possession when he discovered Matthew Arnold's Essay on Marcus Aurelius.(18) Dieser wohltuende Einfluß, so Marchand, half dem Heranwachsenden über die Angst angesichts der period of rapid change (18) hinweg, die ihm bevorstand. So war es wohl auch Linderung, daß es um 1930 in Manitoba einen Joyce, Eliot und Pound so gut wie nicht gab, nicht einmal in der Universitätsbibliothek oder in irgendeinem Buchladen in Winnipeg. So konnte McL in aller Unschuld in seinem Tagbuch ein aufgeschnappte Urteil wiederholen: daß ein tatkräftiger Mann ohne Schaden an seinem Geist zu nehmen alles, was nach 1842 geschrieben war, mißachten könne. Wäre er diesem Rat gefolgt, sein Leben wäre sicher easier gewesen.(19)
Bei dem enormen Lesestoff, den zu absorbieren er vorhatte und dem er mit verschiedenen Resumée- und Indexierungsmethoden zu Leibe rückte, fühlte er sich unter großen Zeitdruck. Da er während seiner fünf Universitätsrahe zu Hause wohnte, ließen ihn die Arbeitstörungen durch die elterlichen Ehezwiste schwermütig ein lebenslanges Junggesellentum in Aussicht nehmen. So wäre er in der Lage, hoffte er, bei etwas Frieden und Ruhe der Welt seine geistige Prägung aufzudrücken.
Eines Abends im April des Jahres 1930 überkam ihn auf der Toilette, so sein Tagebuch, eine Idee, die der Keim zu einem großen Werk sein könnte. Er stellte fest, daß das ganze Leben - intellektuell, spirituell und physisch - von Gesetzen regiert würde, die den Menschen noch größtenteils unbekannt seien. In mehreren Tagebucheinträgen entwickelt er diese Vorstellung: Wenn eine Person unwissentlich diese Gesetze verletzt, wird sie in ihrem Tun geschmälert, wenn sie gehorcht, gedeiht sie in ihm. In einer Welt, in der diese Gesetze schließlich erhellt wären - Gesetze, die auf einem psychologischen und metaphysischen Verständnis von Christi Vorschriften beruhten - wären "Tod, Krankheit und Sünde" niedergerungen. Er sah in dieser Idee, die vielleicht einiges der Christian Science seiner Mutter dankte, ein gutes Thema für eine Dissertation in Philosophie. Dort würden die Glaubenssätze des orthodoxen Christentums, die er auf jeden Fall bewahren wollte, nicht abgeschafft sondern großartig erweitert oder ausgeweitet werden. Gerade und erst in dieser totalen oder globalen metaphysischen Ausweitung konnte die ebenso weite und von ihm hochgeschätzte Aussicht des fundamentalistischen Christentums auf das in biblischer Prophetie schon je angekündigte Ende der Welt ihren angemessenen Raum finden.
Während er in dem ihm überlieferten Christentum nur auf ausdorrende und ertötende Schriftgläubigkeit nach Art seiner beiden bibellesenden Großmütter stieß, würde die durch ihn ins Christentum einzuführende metaphysische Erweiterung den Glauben greifbar, tastbar und sozusagen taktil machen.(19) [KM-»] Das Christentum seiner Vorfahren krankte letztlich an der Schrift. Gäbe es denn eine andere, erweiteterte Schrift, die jenseits des Buchstabens und des buchstäblichen Sinnes alle anderen 'Schriftsinne' ansprechen könnte? [«-KM]
Gesellschaftliche Kontakte pflegte er meistens in der Bibliothek mit Büchern. Auf Parties, so eine ehemalige Klassenkameradin, war er kaum zu sehen. Seinem Tagebuch bekennt er, daß er eher ein "onlooker" sei. Zunehmend wurde ihm sein alter Freundeskreis suspekt, gezeichnet wie dieser war von geistiger Degradierung und dem Hang zum Kartenspiel. Was nicht bedeutete, daß er nicht, to build up his frame, sportliche Ertüchtigung anstrebte. So erschien, was einigen als Schüchternheit vorkam, anderen als Selbstvertrauen bis hin zur Arroganz. Auch schrieb er Gedichte zu Ehren einer berühmten amerikanischen Teenager-Pilotin, Elinor Smith. Wenn nur die männliche Zuneigung zu Frauen nicht so glandular wäre. Frauen, auch wenn sie es nicht beabsichtigten, wirkten so mächtig auf die niederen Instinkte. So wurde er gequält von Begehrlichkeit. Sein Tagebuch, der Ort seiner ständigen strengen Selbstprüfung, enthält den vom inzestuösen Schrecken vor dem Vater verstärkten Wunsch, daß er von jeder Sexualität befreit sein möge.(20)
Doch konnte er dort zugleich festellen, daß seine Arbeitsamkeit und sein erhabener Ausblick auf die geschlechtlichen Dinge ihn sicher durch die Gefährdungen jugendlicher Versuchungen führten. Er kannte der Zielsetzung puritanischer Tagebuchführung entsprechend sich selbst so gut und war mit ausreichender Weisheit begabt, sich nicht durch Leidenschaften an ein Mädchen fesseln zu lassen. Sollte ihn nicht zuvor wahre Liebe überwältigen, würde er mit dreißig Jahren eine geistig hochstehende Frau heiraten, obwohl er bis jetzt noch nicht irgendeine solche entdeckt hatte.(20)
Die um Rettung vor Verdammnis kämpfende Selbsterforschung kann auch die familiäre Situation nicht außer acht lassen. So dringt er vor zu dem zwielichtigen Ort, wo er zutiefst abgestoßen und ebenso angezogen wird von der Frau, die er am besten kennt, seiner Mutter. Er liebte und bekämpfte sie, so Marchand, mit der Heftigkeit eines Mannes, dessen Leben an einem seidenen Faden hing.(21) Später sollte er, besser gewappnet und gerüstet, das wahre Ausmaß dieses Terrains vermessen.
Schon jetzt aber, 1944, bringt er in einem Ansatz zu seinem späteren ersten Buch, The Mechanical bride, frühe Klarheit in dieses Zwielicht und entdeckt unter dem Titel Dagwoods America an der Comic-Figur des Pantoffelhelden Dagwood die Ursache von Unmännlichkeit in der Koedukation. Wie können Schüler, so heißt es in Dagwoods America, jemals von Lehrerinnen inspiriert werden, die nur begreifen, was sie auswendiggelernt haben, einen engen intellektuellen Horinzont haben und alles persönlich nehmen.(21) Und doch war er der Sohn einer Elokutionistin und in Disputen mit dieser geliebten Widersacherin am Küchentisch erprobt. Bald entdeckte er an sich die gefährliche Fähigkeit, sich wirklich zu jeder Frage in eine Debatte stürzen zu können, die ihn umsomehr aufheiterte, je verlorener der Posten war und je weniger evident die Argumente zu dessen Verteidigung schienen.
Dieses "haranguing", wie er es nannte, beschränkte sich nicht auf offizielle Universitätsdebatten. Kurz nach der Entdeckung seiner metaphysischen Erneuerung des Christentum begegneten ihm beim Essen mehrere Anti-Evolutionisten, die offen ihre Verachtung für Darwin kundtaten. Obwohl oder gerade weil ihr Fundamentalismus ihm prinzipiell sympathisch war, hatte er doch zuviel von T.H. Huxley und überhaupt gelesen und war allzu erregt von seiner neuen Vision des ausgeweiteten Christentums, daß er nicht über seinem Sandwich mit hausgemachtem Käse und ebensolcher Butter auf die Gelegenheit zum Zuschlagen gewartet hätte. Eine winzige Gesprächspause nutzend, drang er vor mit seiner Überzeugtheit von neunzehn Jahren, die jeden zur Raserei bringen konnte, und erklärte, daß Gott nicht mit einem den Menschen unverständlichen fiat arbeite, sondern durch intelligible Gesetze einschließlich denen der der Evolution. Ein Gott, der die modernen Theorien eines T.H.Huxley nicht umgreifen - oder neutralisieren -könne, schien ihm undenkbar. Unter mitleidigen Lächeln zog einer der Jungen seine Bibel und replizierte. Drei Stunden später war der Kampf noch in vollem Gange. Aber McLuhan konnte seinen Gegnern nicht klarmachen, daß sein System auf den grundlegenden christlichen Glaubenssätzen ruhte und sie erweiterte statt zu ersetzen. Mit "You are lost my boy" überließen sie ihn schließlich seinem verlorenen Posten und seinen Magenkrämpfen. (23 nach Tagebuch von 1930)
In einem Mitstudenten namens Tom Easterbrook fand er schließlich einen Sparring-Partner, der ihm Nächte hindurch standhalten konnte. Mit ihm schiffte er sich 1932 auf einem Viehfrachter als Besatzungsmitglied nach Enland ein. Von vier Uhr morgens bis zwei Uhr mittags hatten sie das Vieh zu versorgen, das Wetter war schlecht, Seekrankheit machte schwer zu schaffen und die Koje wurde zu einem kleinem Purgatorium.(22) Einmal in England fand er sich mit Fahrrad und Palgraves Golden Treasury im Himmel. Golden Treasury, ein Monument des viktorianischen literarischen Geschmacks und die Verzweiflung von Dichtern wie Pound und Eliot, hüllte Klosterruinen und Weiden in einen zarten Dunst. (23] [KM-»] Noch 1969 erinnert er sich in dem Vorwort zu der von Eugene McNamara unter dem Titel The Interior Landscape herausgegebenen Sammlung seines Literary Criticism - ein Versuch, den unter dem Medienguru begrabenen hochqualifizierten Philologen McLuhan wieder hervorzuholen - an diese Fahrradtour durch England unter dem poetischen Reiseführer, wo nach Versen, die er ihm entnimmt, "aye", viele blühende Inseln in den Gewässern weltweiter Agonie liegen und seinen Geist mit der Gewißheit stärken, daß Kunst und Dichtung Klage gegen menschliche Fühllosigkeit führen. [«-KM]
Hier in England war die Heimat all der Großen Männer, die er auf der Universität gelesen hatte, hier sangen Shakespeares und Keats Lerchen und Nachtigallen und die Straßen von London bewahrten noch einen leichten Nachschimmer der Aura von Johnson, Macauly und Arnold. Winnipeg und Nordamerika hingegen, das war die moderne Vulgarität eines mechanisierten und kommerzialisierten Leben. In Dichtung aber sprach edler Protest der menschlichen Seele und ein Echo davon konnte man noch in England finden, something cultivated and literary that had once set the tone of civilization. Es war, als käme man nach Haus, sagte McLuhan 1972. England sei immer sein geistiges Hauptquartier gewesen.(23)
Immer auf der Suche nach Einblick in die Grundzüge von Disziplinen, die möglichst weit von Literatur entfernt waren, fand er beim Stöbern in einem Antiquariat ein vielversprechendes Buch über Ökonomie, sein Freund Easterbrook eine Ausgabe von What's Wrong with the World von G.K. Chesterton. Beide waren gelangweilt und tauschten die Bücher. Das sollte bleibenden Einfluß auf sein Denken haben. Aus der gesättigten edwardianischen Prosa Chestertons schossen nicht nur häufig die brillianten Einzeiler, die McLuhan so sehr schätztenlernen sollte, sondern Chestertons Denken war nach einer von ihm später entwickelten bedeutsamen Unterscheidung viel eher analogisch denn dialektisch oder logisch. Noch wichtiger aber war, daß das Buch eine großartige Verteidigung der Vorstellungen war, zu deren Vorkämpfer er werden wollte: Persönliche Freiheit, die Heiligkeit der Familie und die Traditionen des Christlichen Europas als Gegengift gegen Sozialismus und Kapitalismus.(24)
Chesterton argumentierte nicht in methodischer und logischer Entwicklung seiner Gedanken, sondern wirkte durch das, was McL später als Strategie gegen solches mit "concepts" arbeitendes lineares Denken "percepts" nannte. Perzepte entstanden im freien Spiel eines erhellten Geistes mit Topoi, Allgemeinplätzen oder clichés und plazierten sie in fehlende und unerwartete Kontexte. Den Allgemeinplatz "Man kann die Uhr nicht zurückstellen" zum Beispiel brach Chesterton auf, indem er nach uralter 'vorrationaler' Auslegungskunst analogisch oder typologisch 'bewies': "Man kann". Denn wie die Uhr eine von Menschen gefertigte Konstruktion ist und ihr Zeiger vom menschlichen Finger auf jede Zahl oder Stunde zurückgestellt oder jede Zeit und Stunde auf ihr restauriert oder wiederhergestellt werden kann, ist es möglich, die Gesellschaft, die auch Menschenwerk ist, jederzeit zu rekonstruieren oder zu restaurieren.(24)
Unter dem Kugelhagel von Chestertons Perzepten beklagten seine Gegner eine gewissen Indifferenz gegenüber oder Neutralisierung von Wahrheit und Realität. Aber das waren die Vorwürfe von "Experten", die Chesterton und in seinem Gefolge McLuhan verachteten. "What ruins mankind is the ignorance of the expert", sagte Chesterton (24) und für McL lag gerade in dem, was der Experte nicht wußte und nicht fragte, sein eigentliches Wissen, das zu wahrem Einblick führen konnte.
Auch führte Chesterton McL dem Römischen Katholizismus zu. Chesterton glaubte, daß die Welt, wie immer beschaffen, kein Gewirr von täuschenden Erscheinungen, sondern real, vernunftgemäß letztlich gut sei, denn Gott hatte sie geschaffen. So verwies alles in der Welt in einem unendlichen Netz von Analogien auf ihren Schöpfer. Marchand erläutert das an Chestertons Beispiel des Hirtenhundes. So wie dieser treu die Herde hütet, so hütet der Priester die Gemeinde so wie Christus sein Volk hütet. Aber der Hund war für Chesterton kein Symbol für Treue, er w a r treu in seinem Hundesein, so wie es der Priester in seinem menschlichen war. Und beide waren analogisch auf die Treue Christi bezogen, der das Sein selbst war. Hund und Priester waren real und in ihrem Sein unterschieden und doch partizipierten sie an dem Einen Sein Gottes. Dies war das analogische Denken des Thomas von Aquin, so wie später für McL das rationale das des Descartes und das dialektische das von Hegel sein sollte. Es gab keinen Zweifel, welchem Denken er anhing. Analogisches Denken wurde Teil seines Wesens wie es sein kanadischer Akzent war. Das verwirrte viele seiner Leser, die in seinen Analogien bloße Gleichungen sahen.
Wie verwirrend und phantasievoll diese Analogien auch sein sollten, so vergaß McLuhan doch nie Chestertons Lehre, daß alle Dinge der Welt real und liebenswert seien und letztlich ein kohärentes Ganzes darstellten, weil Gott sie geschaffen hatte. So tief war er von dieser einfachen Wahrheit beeindruckt, daß er später nicht im Materialismus sondern im Gnostizismus die wahre Häresie des zwanzigsten Jahrhunderts sah: die Leugnung der Realität, Vernunftgemäßheit und Güte der Schöpfung Gottes zugunsten irgendeines intellektuellen Konstruktes oder zugunsten des Einen, einer esoterischen und versteckten Realität, die nur auserwählter menschlicher Erkenntnis oder Gnosis zugängig war.
Herbst 1933 begann McL mit seiner Magisterarbeit über George Meredith as a Poet and Dramatic Novelist. Meredith war wie Macauly eine der literarischen Größen des 19. Jahrhunderts. Nach seinem Tod 1903 begann sein Ruhm rapide zu sinken. In der Magisterarbeit aber sollte Meredith gerettet werden. So war diese Arbeit selbst zuweileln von einem fin de siècle mauve (27) gefärbt oder von der Zwielichtigkeit durchsetzt, die ihr Autor Meredith selbst zuschrieb. Meredith, so heißt es dort, "has all the joyous freshness that belongs to the morning of the world, besides the inspired common sense that is sadly associated with that twilight in which the owl of Minerva commences its flight". Doch habe Meredith eine ganz unaffektierte Liebe zu menschlicher Größe sowohl im Leben wie in der Literatur gezeigt - eine Liebe, die der junge McLuhan voll teilte.(27)
1934 schreib er eine Reihe von Artikeln über allgemeine Themen für die Studentenzeitschrift The Manitobian. Schon 1930 hatte er dort Macauly - What a Man! veröffentlicht. Unter dem Einfluß Chestertons war er aber von Macaulys Annahme abgerückt, die politischen und ökonomischen Abenteuer der englischen Bourgeoisie stellten eine großartige Erfolgsstory dar. Vielmehr war die moderne Welt, schrieb er 1934 in Tomorrow and Tomorrow, hoffnungslos in Korruption versunken. Dabei berief er sich auf solche viktorianischen Denker wie Carlyle, Ruskin and William Morris, deren Inspiration sich mehr oder weniger aus dem Mittelalter speiste. Später, 1965, stellt er dann fest, daß ihm als Jugendlichem das zwanzigste Jahrhundert menschlich als schlicht unbewohnbar erschienen war. So antizipierte er damals schon ein Thema der späteren Mechanical Bride, wenn er den kaptalistischen Industrialismus der Verzerrung und Depravierung des menschlichen Lebens und der menschlichen Sexualität beschuldigte.
Im Marxismus sah er keine Lösung und fand ihn auch später nicht einmal der Verachtung würdig. Mit zurückhaltender Zustimmung erwähnt er den Faschismus; trotz seiner zahlreichen Irrtümer habe der Faschismus die richtige Diagnose der Krankheit der modernen Zivilisation gestellt und zu recht die einzige mögliche heroische Therapie gefordert. The Fascists, in urging a return to heroic enterprises, in rejecting the dull, "emasculationg" utopias of socialism as well as the rapacious appetites of capitalism, seemed to him to be on the right track.(27)
Die Thematik der Sackgasse, in die die moderne Ziviliation geraten war, wurde in anderen Artikeln vertieft. In einem fiktiven Interview mit Dr.Johnson wird dessen Vorstellung eines auf Wissenschaft und Technologie gründenden Fortschritts lächerlich gemacht. Gepriesen wird Eamon De Valera für seine Politik der nationalen Selbstversorgung auf der Basis von Landwirtschaft und Kleinindustrie. Und in einem Artikel über Meredith wird dessen expliziter Feminismus kritisiert, während seine weiblichen Charaktere Billigung erfahren als "symbols of the sweetness and health and sanity of Earth". Das alles unter freizügigen Anleihen bei den Ideen Chestertons und manchen seiner Formulierungen.(28)
Inzwischen war ihm klargeworden, daß er seine Studien anderswo fortsetzen müsse, wollte er nicht in einer Sackgasse steckenbleiben. Er entschied sich für Oxbridge. Oxford fiel flach, weil Er die Professoren einer Gutachterkommission für ein einschlägiges Stipendium in eine Debatte verwickelte, statt seine Kenntnisse unter Beweis zu stellen. Ein anderer Professor und ehemaliger Cambridgestudent konnte ihn von der Überlegenheit von Cambridge über Oxford überzeugen. Mit einem Stipendum der Imperial Order of Daughters of the Empire und Zuschüssen einer chiropraktizierenden Tante, Ethel McLuhan, ausgestattet brach er in das Land des Goldenen Schatzkastens auf.