4. Apprentice Professor 1936-1940

Zurück aus Cambridge stand McLuhan vor dem Problem, mitten in der Depression einen Lehrjob an einer Universität zu finden. Sogar in Manitoba bewarb er sich, endete dann aber an der Universität von Wisconsin, als teching assistant am Department für englische Literatur. Die Studentenschaft in Wisconsin stand in einer Tradition sozialer Bewußtheit und progressiver Politik. Ein Kern von Kommunisten unter den Graduierten bestand hauptsächlich aus jüdischen New York intellectuals, die hier eine der wenigen Universitäten fanden, die sie in den Dreißigern willkommen hießen.
McLuhan bekam $895 pro Jahr für die Arbeit mit Erstsemestern. Anstatt die von einem freshman English teacher erwarteten Arbeiten zu erledigen, übernahm er die in Culture and Environment von Leavis gemachten Vorschläge und verwandelte seinen Unterricht in einen Überblick über die zeitgenössische Kultur auf der Grundlage von Reklame, Zeitungen und Populärliteratur. Er sah das später als den ausnehmenden Versuch, die ersten Amerikaner, auf die er im Klassenzimmer traf, über ihre eigene Kultur zu erreichen. "Es gab da eine Sprachbarriere", sagte er später. "Entweder hatten die Studenten meine Sprache zu lernen, oder ich die ihre. Ich beschloß, daß es besser sei, wenn ich ihr Idiom benutzte - obwohl nicht unbedingt für ihre Zwecke".(43) Das geschah natürlich - ganz im Sinne von Leavis - moralisch kritisierend. "Ich finde die meiste Popkultur monströs und krankmachend", erklärte er in den Sechzigern, "ich studiere sie, um zu überleben". Den Klagen von Erziehern über den Einfluß der Popkultur auf ihre Studenten begegnete er mit dem Hinweis, daß sie nur Comics, Fernsehen oder Rock-Musik genauso im Unterricht behandeln müßten, wie Dickens oder Shakespeare, um den Studenten alle Lust daran zu nehmen.
Um seiner Debattierlust Auslauf zu geben, richtete er einen informal talk club unter seinen gleichrangigen Kollegen ein. Dort konnte er Linke mit seinen rechten Positionen provozieren, so mit Chestertons distributionistischer Vision einer Gesellschaft von robusten, unabhängigen und gottefürchtigen Bauern. Solches trug er vor in sende- und druckreif extemporierter Rede, wobei er mit seinen Ideen virtuos wie mit Bällen jonglieren konnte. (44)
Nachdem McLuhan 1936 einen Artikel über Chesterton in einem in Nova Scotia erscheinenden Blatt veröffentlicht hatte, bekam er freundliche Post von Pater Gerald Phelan, dem Präsidenten des Pontifical Institute of Medieval Studies an der Universität von Toronto. Die folgende Korrespondenz führte McL zur Konversion zum Katholizismus. Nach einer Überprüfung seines Glaubensstandes trat er am 30 März 1937 über, fünfzehn Jahre nach Chesterton.
Elsie McLuhan führte das auf die verdorbenen McLuhanschen Gene zurück, war doch schon ein Bruder ihres Mannes Zeuge Jehovas geworden. Ihre Enttäuschung lag aber mehr daran, daß Katholizismus damals in Nordamerika ein schweres soziales Handicap war. Das war McLuhan nicht unbekannt. In der Öffentlichkeit war er immer sehr vorsichtig hinsichtlich seiner Religion; privat war er aber katholisch wie es nur ein vom Protestantismus Konvertierter sein konnte. "He had a direct connection with the blessed Virgin", beschreibt es ein Kollege im Interview mit Marchand; die tägliche Teilnahme an der Kommunion war für ihn the most efficacious channel fo divine grace.(45) Die Eucharistie war der Eckstein seines Denkens. The fact that real bread and real wine were transformed, through the action of the priest, into the real Body and the real Blood of Christ was the ultimate refutation of both materialism and gnosticism, the denial of the supernatural world and the denial of the natural world. (46) Die Existenz der Hölle war für ihn selbstverständlich. Genauso wie, bemerkte er häufig, schlechte Nachrichten ("wirkliche" Nachrichten) nötig waren, um die guten in Zeitungen und Journalen, verkaufen zu können (Reklame), so waren schlechte (die Hölle) nötig, um die guten (das Evangelium) als Religion zu verkaufen. Es sei der Job der Kirche, sagte er 1977 in McLuhan Asks for a Shakeup in Church in Companion, "to shake up our present population. To do that you'd have to preach mothing but hellfire."(46) Die Gewißheit der Möglichkeit ewiger Höllenstrafen ermögliche einen Blick sozusagen aus der Fremde auf die Welt, freier als der jener, die in ihr lebten. One could simply enjoy and explore this created universe, confident of its ultimate coherence and intelligibility, unconcerned that it fell short of perfection.(46)
Müde des ewigen politischen Gerangels in Wisconsin, wandte er sich an die St. Louis Universität, eine Institution der Jesuiten und als die beste katholische Universität in Amerika bekannt. Ihr Department für englische Literatur war eine Art Cambridge-Festung, ihr Präsident William McCabe S.J. ein Cambride Ph.D. 1937 heuerte er McLuhan an. Allerdings war die Universität - wie alle katholischen Universitäten zu der Zeit in den USA - entschieden schlechter ausgestattet als die säkularen. Der Zustand der Bibliothek war appaling, verglichen mit der von Cambridge. Auch lag St. Louis University unter der toten Hand des Klerikalismus und hatte sich noch nicht von der Vorstellung befreit, hauptsächlich eine Ausbildungsstätte für junge Priester zu sein. There was a musty Jansenist air about American Catholik thinking as well.(47)
Trotzdem hatte die Universität eine große Stärke: ihr philosophisches Department. Philosophie begann und endete dort mit Thomas von Aquin, aber hier wurde er in neuem Licht betrachtet. Da war Bernhard Muller-Thym, der seine thesis eben mal in Latein geschrieben hatte und am pontifikalen Institut in Toronto unter Étienne Gilson - für Gilson war er einer seiner cleversten Schüler - an einer Dissertation zu Meister Eckart arbeitete, um später dann eine besondere Art von Mystiker zu werden, nämlich Management-Berater. McLuhan schloß Freundschaft mit ihm und Muller-Thym führte ihn ein in eine reiche Welt voll Metaphysik, guter Küche, Musik und liturgischer Erneuerung. Auch machte er ihn mit einer sehr raffinierten mittelalterlichen Theorie über die Wirkungsweise der menschlichen Sinne bekannt. Und man mochte über die Jesuiten sagen, was man wollte: sie konnten Latein.
So vervollständigte die St.Louis University seine Ausbildung in der Geschichte der abendländischen Zivilisation, indem sie ihn in das Denken des Mittelalters und der Renaissance eintauchte. Auch in anderer Hinsicht war St.Louis ein interessanter Platz für einen katholischen Intellektuellen in den Dreissigern und Vierzigern. Katholische Intellektuelle mußten immer noch das amerikanische Stereotyp vom Katholiken als Einwanderer mit skanalös vielen Kindern und der Bildung eines Salonkeepers bekämpfen. Die katholischen Wissenschaftler in St. Louis waren aber ein oder zwei Generationen von diesen Einwanderern entfernt und fühlten sich stark genug, auf die nordamerikanische Kultur einen prägenden Einfluß auszuüben. Um sich herum sahen sie eine gottlose Welt, von Krieg und ökonomischer Depression verwüstet. Diese Welt, das war klar, war wieder einmal reif für die Wahrheiten von Aquinas und der anderen mittelalterlichen Denker, die sie in ihren Forschungen wiederbelebten. Im universitären literarischen Magazin Fleur des Lis wurde 1938 der Niedergang des Protestantismus voraussgesagt sowie das Erstehen von unzählbaren anti-christianisms: die untergehende westliche Zivilisation würde bald gezwungen sein, sich an den Katholizismus zu klammern.
McLuhan reihte sich ein. Ebenfalls 1938 veröffentliche er in eben diesem Magazin einen Artikel unter dem Titel Peter or Peter Pan. Dort verdammte er Reklame, Industrialisierung, Big Business und Marxismus - also seine bekannten Zielscheiben - wegen ihrer Irreligiösität und weil sie die ökonomische und soziale Basis der Familie (ein beliebtes Thema der Distributionisten) unterminierten. Diese Kräfte würden die Entscheidung heranführen: die Wahl zwischen Peter (die katholische Kirche unter dem Vorsitz des Nachfolgers des hl.Petrus) und Peter Pan (das Bild ewiger Phantasterei und von der modernen Zivilisation geförderter emotionaler Unreife). Schon waren die ersten Zeichen sichtbar, schon bezog Peter Pan Prügel in Francos Spanien und Hitlers Deutschland. [KM-»] Auch hatte Wyndham Lewis in seinem 1931 erschienenen Buch Hitler den "Klassenmensch - or 'Class-person'" als einen "featureless, infantile Robot - a mechanical Infant-Robot, without any mental or physical background at all", nämlich als "standardized Peter Pan" bezeichnet , 'Klasse' aber war ein "concept" im Sinne McLuhans, im Gegensatz zu 'Rasse' als "percept", "Race is a more i n c l u s i v e  thing than Class" (a.a.O. 83) [«-KM] Diese Art von Sozialkritik und Verkündigung akokalyptischer Kämpfe zwischen Kirche und moderner Welt sollte McLuhan noch für mindestens ein Jahrzehnt weiterführen.(49)
Um über den elizabethanischen Literaten Thomas Nashe forschen zu können, dem er seine Dissertation widmen wollte, mußte McL die Huntington Bücherei bei Los Angeles konsultieren. Dort lernte er Corinne Lewis von Fort Worth, Texas, kennen. Sie kam aus einer Familie mit vornehmen schottischen Ahnen und einem Air von welkender gentility, sie war stolz auf ihre bloodlines, ihren texanischen Akzent und ihre gracious manner redolent of the Old Plantation.(50) Ihre Mutter - laut McLuhan eine Frau "mit dem Willen und der Figur Napoleons" - hatte dreierlei gegen ihn: er war katholisch, sie Baptistin, er war College-Professor, also zur Armut verdammt, er war Kanadier, d.h. eine Abart von Northerner. Eine Einladung nach Forth Worth sollte ihn abschrecken. Corinnens Gentlemen-Freunde waren geladen, darunter einer, der sich ernsthafte Hoffnungen machen sollte. In Rom besichtigte das Hochzeitspaar die Gräber von Keats und Shelley und sah das Colosseum im Mondlicht, in Venedig sang der Gondolier Opernarien, an Krieg glaubte McL nicht [KM-»] und schrieb 1940 sowohl seinem Bruder, die texanischen Männer seien unglaublich infantil, außen hart und innen matschig (ML 124), als auch einen unpublizierten Artikel über die entmannten Amerikaner überhaupt, Fifty Million Mama's Boys, vielleicht ein Vorgänger des oben erwähnten Dagwood's America von 1944 und damit auch ein Keimling der Mechanical Bride.(ML 127, Anm.d.Hgs.) [«-KM]
September 1939 ließen die McLuhans sich für zwei Jahre in Cambridge nieder, wo McL mit einem Stipendium der kanadischen Regierung ausgestattet seine Dissertation erstellen sollte. Supervisor war ein junger Elizabethaner-Forscher namens Muriel Bradbrook, den McLuhan noch auf den Höhen seiner Karriere immer wieder in Fragen bestimmter Arcana der elisabethanischen Literatur konsultierte, so als ob, schreibt Machand, all der Rummel um die Medien eine Ablenkung von der großen Arbeit wäre, die sie zusammen 1939 begonnen hatten. Lange Stunden im Rare Books Room der Cambridger Bibliothek, ein Berg von Arbeit vor sich, Kriegszeit. Und doch, so Marchand nach einem Interview mit Bradbrook, war McLuhan wohl nie so glücklich in seinem Leben gewesen.(53)
Seine erste Idee war, über The Arrest of Tudor Prose zu schreiben. Die schon von R.W. Chambers in seinen von McL besuchten Vorlesungen formulierte These war, daß die Englische Prosa mit der Exekution des großen englischen Humanisten und katholischen Märtyrers Thomas More einen ernsten Rückschlag erlitten hatte. Das entsprach McLuhans Vorstellung von der Reformation als dem größten kulturellen Desaster der Geschichte der Zivilisation. Als er genug Tudor-Prosa gelesen hatte, mußte er festellen, daß sie im Gegenteil floriert hatte. Es gab während der ganzen Periode eine unglaublich reiche Prosaliteratur. Einer ihrer interessantesten Schreiber war Nashe, ein Satiriker, Journalist und Polemiker.(54)
Je mehr er sich in Nashe vertiefte, desto mehr stieß McLuhan auf den tiefgreifenden Einfluß der alten Theorie und Praxis der Rhetorik auf Nashes angeblich aus dem Handgelenk geschütteltes, rein journalistisches und satirisches Schreiben. Eine erstaunliche Welt tat sich auf. Mit wachsender Erregung stellte McLuhan fest, daß es nicht nur die einmalige Katastrophe der Reformation gab, sondern einen andauernden und oft versteckten Krieg zwischen den Vertretern jedes der drei Zweige des Trivium - Grammatik, Logik und Rhetorik.
Leute wie Nashe zum Beispiel haßten die Philosophen des Mittelalters und waren damit schlicht in einen Streit involviert zwischen Anhängern der auf Cicero zurückgehenden rhetorischen Tradition auf der einen und den schoolmen des Mittelalters, den Vertretern der Dialektik auf der anderen Seite. Der Streit habe mit der Verachtung des Dialektikers Sokrates für die 'rhetorischen' Sophisten begonnen. Sich selbst sah McLuhan natürlich als Rhetoriker und als Meister einer Technik, die er später "putting on the audience" nannte. So entwarf er 1944 für das Jahrestreffen der MLA, an dem er als job hunter teilnahm, eine komplizierte Strategie für den Vortrag von zwei Papieren. Seine Maske war die eines demütigen und tückelosen Junior-Akademikers, der unbewußt nach einem Mentor rief, daß er ihn führe: er hatte die Techniken des fünften Teils der Rhetorik angewandt, pronunciatio oder delivery.
Am meisten aber interessierte ihn der dritte Teil des Trivium. Für grammatica war alles menschliche Wissen der Sprache inhärent. Das Universum war für die antiken Stoiker selbst der Logos; die Ordnung der menschlichen Sprache und die der Welt waren eng verwandt. Adam hatte vor seiner Vertreibung aus dem Paradies die Kreaturen mit Namen benannt, die ihr eigentliches Wesen enthielten. Die Geheimnisse der Sprache knacken, hieß tief in das Herz des Universums vorzudringen. Die antiken Grammatiker studierten Dichter wie Homer und Vergil mit technischer Leidenschaft für die Kategorisierung von Redefiguren, die Analyse von Prosodie und für die Ableitung der Bedeutung von Wörtern.
War diese Leidenschaft nicht auch die Seine. In seinen späteren Jahren verging kaum ein Tag, wo er, der als Heranwachsender drei neue Wörter pro Tag gelernt hatte, nicht das Oxford English Dictionary zur Hand nahm. So groß war diese Leidenschaft, daß er seine Kollegen zu deren Entsetzen mit completely bogus etymologies konfrontierte. So konnte er die Natur von Gewalt aus der Herleitung von violence aus dem lateinischen Wort für Kreuzungen/crossroads(56) herleiten, wo man sich im Großstadgewimmel doch so schrecklich unwohl fühlt. Und Namen erst - als ob er den Glauben der alten Grammatiker an die Gewalt der Namen teilte und glaubte, mit dem Namen habe man Gewalt über eine Person oder einen Gegenstand. In Understandig Media sagte er es so: "the name of a man is a numbing blow from which he never recovers" und wenn man wie sein eigener unmännlicher Vater Herbert heißt, unterdrückt man das besser. Namen waren der Schlüssel zur Identität einer Person .
[KM-»] Über McLs Etymologien haben sich auch andere aufgeregt. So schreibt der Rezensent von UM in The Times Literary Supplement August 1964 "No doubt, prophets grow loud" und fährt fort: "A man who believes that Narcissus derives vom 'narcosis', or that jazz comes form 'jaser' - meaning a light conversation - might believe anything". Und wie ist es mit der Ethymologie von pollution? In Take Today, The Executive as Dropout wird sie vom lateinischen 'proluere': wash forth (TD 5) abgeleitet. Na und? Es ist eben ein percept, in der Krise steckt die Rettung, in der Verschmutzung die Reinigung, in der Vergiftung das Heilmittel: Every process pushed far enough tends to reverse or flip suddenly. (TD 6) Nicht nur mit Etymologien hält McL es eben wie der superreiche Texaner: bei jedem Scheck, den er einwechselt, wackelt die Bank.(TD 6) Gewisse Leser schlagen einfach im Oxford Dictionary nach, um unter pollution erwartungsgemäß - aber mal ehrlich, verunsichert waren sie schon - zu polluere geführt zu werden. Na bitte, die Bank wackelt. Joyce saß für zwanzig Seiten Finnegans Wake 1200 Stunden am Schreibtisch , auf dem Skeats Etymological Dictionary lag (Marchand 56), und wußte, daß er damit die Gelehrten für die nächsten hundert Jahre auf Trab halten würde. McLs Bücher wurden, auch wenn er sie selbst schrieb, viel schneller fertig und dennoch....[«-KM]
Abgesehen von diesen eccentricities war für McL klar, daß die Kultur des Westens unmöglich ohne die wechselnden Beziehungen zwischen Grammatik, Rhetorik und Dialektik verstanden werden konnten. Und seine Forschungen bewegten sich in der Renaissance, in der Zeit also, wo Rhetorik und Grammatik ein großes Comeback erlebt hatten. Im zwanzigsten Jahrhundert wiederum erlebte grammatica eine erneute Renaissance with the advent of the New Criticism. James Joyce legte über Etymologien an jedem Wort, das der zu Papier brachte, Bedeutungschichten frei, die die Gegenwart mit unvorstellbar fernen Zeiten der menschlichen Geschichte verbanden. Später assoziierte McL grammatica oder den vieldimensionalen 'Sinnraum' eines Wortes, Satzes oder Textes mit dem 'akustischen Raum' - eben der Welt der "auditory imagination" Eliots -, der dann mit dem environment zusammenfallen sollte, das die elektronischen Medien bildeten. Dialectica hingegen gehörte zu der visuellen Welt, die das phonetische Alphabet und die Erfindung des Buchdrucks erzeugt hatten.(56)