MACH\BOLZ1.SCN * 24.12.91
Thomas Manns ,Zauberberg' tritt, in der Figur des Naphta zur Kenntlichkeit entstellt, Georg von Lukács auf; er tritt aus dem geschichtsphilophischen Clair-obscur der Romantik hervor, jener Zeit, in der sich die einfachen weltordnenden Begriffe von Revolution und Reaktion verwirrten. Lukács/Naphta entfaltet die große Antithese Jehova vs. Luzifer. JEHOVAISCH heißt das GESETZ im Strukturzentrum der geschichtlichen Welt des objektiven Geistes; der Triumph einer strafenden Gerechtigkeit, den Staats- und Kircheninstitutionen verewigen; der Sieg des konservativen Paulus über den antinomischen Christus. In der Prädestinationslehre hat diese Austreibung des utopischen Geistes dann ihre Lehrform gefunden. Der vollständige Triumph des Jehovaischen, das in Hegel seinen letzten großen Apologeten hat, verurteilt jeden heroischen Protest zu Einsamkeit der Hybris. So steht der Aufstand eigenwilliger Ichheit, des Fürsichseins der Kreatur, im Zeichen dessen, der Luzifer hieß, "prae ceteris luxit, suae pulchritudinis consideratio eum excoecavit". Dieser Satz Bonaventuras betont das ästhetische Moment des Luziferischen. Entsprechend mußte - im Sinne Kierkegaards - ,ethische' Kritik weltsetzender Kunst das Luciferische als den metaphysischen ,Ort' des Ästhetischen" erkennbar machen. Luzifer heißt die Energie des Negativen in Gott selbst gegen das verfestigt Jehovaische, der gnostische Statthalter des Menschensohns. Der in dieser Welt ihm adäquate Schauplatz ist die Tragödie, die eine zum neuen religiösen Mythos potenzierte Gottlosigkeit präsupponiert. Die neuklassischen Tragödien, die Paul Ernst, ein Freund des jungen Georg von Lukács, geschrieben hat, bekunden "ein Grauen vor der Eristenz, weil [14/15] diese gottverlassen ist". Sein Weg zur Form ist die fanatische Suche nach einem Notwendigkeitsersatz. Er will die Entfremdung des Lebens bis zum Äußersten treiben, um darin ein Negativ von Schicksal zu bi1den, d. h. die Absenz des Tragischen bis zur Tragödie steigern. Die neuklassische Tragödie ist auf der Bühne vereinsamt. Ihr Bemühe um eine neue einfache Linearität und Monumentalität spricht mit kaltem Pathos an den Zuschauern vorbei. "Wir formloses Volk haben, wollen wir nicht völlig verkommen, die letztgebliebene Form, die Sprache, zum Grund unserer Bi1dung zu nehmen." Wie hier F. Chr. Rang denkt auch Paul Ernst das Formproblem zugleich als politisches, denn für ihn gibt es keine angemessene bürgerliche Dichtung. Die Bourgeoisie hat keine Heimat in der apriorischen Formenwelt. "Wo alles sich als Komplex gibt dort hört die Form auf. Das neuk1assisch Tragische macht die Szene zur Totalität, nichts Heteronomes ist mehr in Geltung, nur das in ihr rein Gesetzte. Tragisch empfinden heißt für Ernst in der größten Einsamkeit die Vollendung sehen, die der Tod nicht dementiert, sondern besiegelt. "Deshalb stirbt der Held eigentlich auch nicht. Der Tod sperrt ihm gewissermaßen nur die Temporalien der Individualität." Der Tod wird reflexiv; "sich sterben" ist die Formel der Formwerdung im Drama. Plötzlich wird der tragische Held geboren und er bleibt ohne Werden. Sein Leben ist eine Gerade, die den Kreis des natürlichen Gattungslebens kaum berührt. Er läßt die Götter unter sich und tastet nach einer autonomen Ethik. Die Tragödie ist eine der Befreiung, aber nicht selbst befreiende form. Doch die ästhetische Formung, buchstäblich die Gewalt der Kunst, bringt die einsame Seele auf den Weg zur Gemeinsamkeit: zur Gemeinschaft der Einsamen.
Georg von Lukács hat einmal von Paul Ernst gesagt, seine Tragödien seien so gestaltet, als ob eine deutsche Kultur wieder da wäre. Eine, wie vielleicht zu Zeiten des deutschen Idealismus, lebendige Metaphysik als Bedingung der Möglichkeit einer echten Tragödie - Paul Ernst hat den Raum ihres Fehlens durchmessen. Gerade das Fehlen einer formbestimmenden Weltanschauung wird zum Stilisationprinzip der tragischen Form erhoben.