Friedrich A. Kittler. Real Time Analysis. Time Axis Manipulation. In: Georg Christoph Tholen und Michael O.Scholl (Hgg.) Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim 1990. S.363-77.

Was Kittler mit den beiden Titeln vorschwebt, ist "Einübung in einen informationtheoretischen Materialismus, der auf dem Stand der Dinge wäre".(363) "Unter dem Vorbehalt also, daß meine Einübung nur für Silizium und nicht für die optoelektronischen oder organischen Schaltkreise einer näheren Zukunft zutreffen mag, könnte der informationstheoretische Materialismus mit der These beginnen:
Nur was schaltbar ist, ist überhaupt."(363)
"Damit bleibt die gesprochene Sprache von vornherein außer Betracht; nach Hegels gnadenlosem Wort ist »ein Ton ein Daseyn, das verschwindet, indem es ist«". Zeitachsenmanipulation vermag, was Sprache nicht kann: "einen zeitseriellen Datenstrom anders anzuordnen. Zwar hat "als erste solcher Zeitmanipulationstechniken [...] die Schrift figuriert"(364) und, sofern sie über Trennzeichen verfügt, "erlaubt jede Schrift [...] die elementaren Computeroperationen Swapping, Copy und Delete. Vom Kreuzworträtsel (wie Shannon gezeigt hat) bis zum Palindrom beruhen alle Spiele, die mit Buchstaben möglich sind, auf solchen Operationen. Poesie war wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als ihre Maximierung." Aber "Zeitmanipulation unter Bedingungen des Schriftmonopols schloß alles aus, was seit Thomas Browns fundamentaler Entdeckung von 1830 das Rauschen des Realen heißen darf."(364/65) "Unter Bedingungen des Schriftmonopols galt sogar umgekehrt: weil und nur weil die Zeitachse kontingenter Ereignisse nicht zu manipulieren war, hatte jede behauptete Zeitachsenumkehr den erkennbaren Status von Fiktion."(365)
"In dieser Not blieb der Literatur [...] nur der Ausweg, von Zeitachsenmanipulation wenigstens zu erzählen." Ilse Aichingers Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond bringt das Meisterstück fertig, "die Weltgeschichte von heute über die Festung Europa bis zur Urkatastrophe von Atlantis und wieder zurück zu durchlaufen". Das "bilderlose Reich akustischer Zufälle" aber "ist ein Jenseits aller Literatur, Rhetorik und Schrift geblieben. Sie hat es nur gar nicht erst ignoriert, bevor nicht andere Medien begannen, den Zufall zurückzukoppeln. Erst im genauen historischen Moment ihres Monopolverlusts nannte die Literatur ihr Jenseits beim Namen. 1897 schrieb Mallarmé: »Un coup de dés jamais n'abolira le hasard. - Nie wird ein Würfelwurf den Zufall beseitigen."(366)
"Was das Würfeln mit sechsundzwanzig Buchstaben und einem Leerzeichen nicht vermag, ist technischen Medien ein Leichtes." So trat "ein oder zwei Jahre nach Mallarmés finalem Diktum" Georges Méliès auf, um filmisch eine Schweinswurst in das Schwein zurückzuspulen. "Die Analogmedien der Jahrhundertwende, Film für die optische Wahrnehmung und Grammophon für die akustische, machten kontingente zeitserielle Ereignisse erstmals speicherbar. Es begann unsere Zeit unbegrenzter Eingriffsmöglichkeiten, die in einem zweiten Zeitdurchgang auch den Zufall beseitigen konnten und damit wahrscheinlich die historische Zeit überhaupt beendet haben."(366) Die Eingriffsmöglichkeiten sind beim Grammophon noch sehr beschränkt, im Film hingegen ist "eine kaum abzählbare Menge von Manipulationen [möglich], also von Löschungen und Umschreibungen, die das Zelluloid zum Schreiblesespeicher machen und das heißt, mit einer Syntax ausstatten"(367). Ein Vorschlag von Hugo Münsterberg, die Folge von Aufnahmen Films zu versetzen, also bei damals 16 Aufnahmen pro Sekunde diese etwa in der Reihenfolge 1,2,3,4,3,5,6,5,6,7,8,7 usw. vorzuführen, hätte nach dessen Worten einen Effekt, der »in der Natur und damit auch auf der Bühne schlichtweg ausgeschlossen« wäre. »Denn die Ereignisse laufen einen Augenblick lang rückwärts. Eine Art Vibration geht durch die Welt wie ein Tremolo durchs Orchester«.(92) Münsterbergs nie realisierter Vorschlag "brachte also schiere Zufallsketten, wie die Filmaufnahme sie mit Notwendigkeit liefert, in eine temporale Syntax aus lauter Parenthesen [...]", was darauf hinauslief,"gerade durch Einfügung von Syntax oder Periodik in eine Zufallskette deren überwältigende Fremdheit nur noch zu potenzieren: Die Augen der Filmzuschauer hätten nicht umhin gekonnt, ins selbe Zittern, Schwindeln und Tremolieren wie die ihnen projizierte Welt zu verfallen. Und die »Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond« wären auch optisch implementiert gewesen."(368)
Diese Beispiele "haben Zeitachsenmanipulationen im Niederfrequenzbereich vorgeführt, dort also, wohin unsere optischen oder akustischen Wahrnehmungen noch reichen. Technische Medien dagegen sind durch nichts anderes definiert als durch ihre Strategie, den Niederfrequenzbereich, um ihn simulieren zu können, prinzipiell zu unterlaufen". Und dieses "strategische Ausweichen" zwingt sie "in den Hochfrequenzbereich, dorthin also, wo uns Hören und Sehen vergeht. Ein Würfelwurf, der den Zufall abschaffen würde, müßte ja unendlich schnell sein. Deshalb gibt es ihn auch nicht. Die Geschwindigkeit von optischen oder elektrischen Signalen ist bekanntlich eine Konstante, die nach einer einfachen Formel die maximal mögliche Informationrate auf einen angebbaren endlichen Wert festlegt:
C ? 3.7007 ? ?(P/h)
wobei C der Informationsfluß pro Zeiteinheit ist, P die Signalenergie der gesendeten Photonen und h das Plancksche Wirkungsquantum. Deshalb kann man, nach Derridas Wort, die Zeit nicht geben."(368/69)
"In der Technik allerdings, anders als in der Philosophie, sind Annäherungen möglich. Hochfrequenztechnik, vor allem in ihrer diskreten Form als digitales Signalprozessing, ist die Beinahegabe von Zeit". Und Kittler kommt "zur Sache", indem er zum "Optimum des heute schon Machbaren" übergeht. "Jede digitale Signalverarbeitung - weil nur ist, was schaltbar ist - setzt zunächst ein Zerhacken voraus. In Computern gibt es Zeit nur in quantisierten und sychronisierten Paketen, deren Größe selbstredend gegen Null streben sollte." Da entsteht denn "im ziemlich hegelfremden Zeitbereich [...] ein Takt, der es seinerseits erlaubt, alle anderen ungetakteten Eingangssignale im Mikrosekundenrhythmus zu zerhacken. Das digitale Signalprozessing kann starten, auch und gerade bei Zufallswerten."(369) Diese digitalisierten Werte, "und nur sie sind schlechthin speicherbar".
Nun war auch schon die Erfindung eines musikalischen Notationssystems "im Prinzip nichts anderes als digitale Signalverarbeitung. "Unabzählbare Unendlichkeiten schrumpften, zumindest auf dem Papier, zu abzählbar endlichen Mengen. Metaphysik war immer nur die Verwechslung solcher Datenkompressionen mit einem sogenannten Wesen, immer nur die Unterstellung, daß Kontingenz in Schrift aufgeht, Klang in Musik und Entropie in Ordnung. Alles dagegen, was, wie bei Platon die Haare, der Schmutz und der Kot, schlichthin keine Idee hatte, schied die Metaphysik von vornherein aus - in einen »Abgrund der Albernheit«."(Parmenides, 130 D)(370)
Die Schwierigkeiten beginnen erst jenseits von einzelnen Schweineaufnahmen oder buchstabierbaren Sprachlauten, nämlich "bei Frequenzen oberhalb menschlicher Wahrnehmungsschwellen, also genau dort, wo alle technischen Medien arbeiten, einfach weil sie sonst Augen oder Ohren gar nicht systematisch täuschen können. Um einen Computer zum Sprechen oder Hören zu bringen, muß er in der Lage sein, mit jedem Einzellaut genauso analytisch zu verfahren, wie wir es [...] mit ganzen Lautketten können. Es muß, mit anderen Worten, Ordnung auch und gerade in der Entropie entdecken."(370/71) Und darum geht es im Folgenden: Fourieranalyse(93), Fourierintegrale und für Computer "die schnelle Fouriertransformation, wie es im langsamen Deutsch heißt", die "unter den wunderbar amerikanischen Sprachkürzeln Fast Fourier Transform oder gar FFT zum Standardverfahren digitaler Signalverarbeitung aufgerückt [ist]"(372).
Die Wirklichkeit konnte "von Herodot bis Heidegger", weil sie, wie irgendwo dazwischen Malte Laurids Brigge sagt, langsam ist, ihre Analyse im Zeitbereich nur als Geschichtsschreibung haben. "Erst wenn es gelingt, einen Zeitbereich ganz ohne Metaphysik oder Geschichtsphilosophie in den Frequenzbereich zu transformiern, schwindet diese Unbeschreiblichkeit. Nichts anderes leistet die FTT", die erst, da sie die Zeitachse durch eine Frequenzachse ersetzt, eine effektive Datenkompression erlaubt. Um den Preis allerdings eines minimalen Aufschubs oder der Öffnung eines sogenannten "Fensters von zehn bis zwanzig Millisekunden"(373), bis das erste Frequenzsprekturm ermittelt werden kann. "Es gibt mithin überhaupt keine Echtzeitanalyse in dem Sinn, daß Ereignisse ohne jeden Aufschub analysabel würden. Alle umlaufenden Theorien, die zwischen historischer und elektronischer Zeit wie zwischen Aufschub und Gleichzeitigkeit unterscheiden möchten, sind Mythen. Real Time Analysis heißt einzig und allein, daß Aufschub oder Verzögerung, Totzeit oder Geschichte schnell genug abgearbeitet werden, um gerade noch rechtzeitig zur Speicherung des nächsten Zeitfensters übergehen zu können. [...] Gegensatz zur Echtzeit ist demnach nicht historische Zeit, sondern bloß eine Simulationszeit, bei der es entweder unmöglich oder unnötig ist, mit der Geschwindigkeit des Simulierten mitzuhalten. Als John von Neumann einen der ersten Computer überhaupt in Auftrag gab, um die dreidimensionalen Druckwellen der ersten Atombomben zu simulieren, konnte er ein Lied davon singen."(373)
"Rechenaufwand und damit Zeitverbrauch bei einer numerischen Fourieranalyse sind allerdings so beträchtlich, daß die Frage nach einfacheren Analyseverfahren aufkommt." Das menschliche Ohr aber verfährt nach einem solchen Verfahren. Es arbeitet "offenbar im Zeitbereich und nicht wie die Fourieranalyse im Frequenzbereich". Die einzige mathematische Funktion, die den damit notwendig verbundenen Bedingungen von Variabilität gerecht wird - "und erst durch Norbert Wiener informationstheretischen Rang erlangt hat" - ist die Autokorrelationsfunktion.
Beim Autokorrelationsverfahren "braucht die Messung Zeit". In diesem Zusammenhang wurde entdeckt, "daß Zeitachsenanalyse und Frequenzachsenanalyse voneinander nicht unabhängig sind". Von Dennis Gabor wurde im Zweiten Weltkrieg der Satz aufgestellt, "daß das Produkt aus der mittleren Dauer und der mittleren Frequenzbandbreite eines Signals nicht beliebig klein gemacht werden kann"(375) "In menschlicheren Worten: Jedes Feld, also jedes Ereignis im Zeit-Frequenz-Diagramm, bildet eine nicht unterschreitbare Grenze, also keinen Punkt. Es mußte aber einen Punkt darstellen, wenn die gleichzeitige Messung von Zeit und Frequenz beliebig exakt sein sollte. Was Gabor damit anschrieb, war nichts Geringeres als die direkte informationstheoretische Entsprechung zu Heisenbergs quantenphysikalischer Unschärferelation, derzufolge ja Spin und Position eines Elementarteilchens nicht gleichzedit exakt zu bestimmen sind." Das, so Kittler, grenze an Befehlsverweigerung.
Diegleiche "Unschärferelation" zeigt Kittler nun in seiner "kleinen Populärwissenschaft" an dem Fall auf, daß eine englische Radarstation eine V-2 erfaßt hätte. Sie zu orten und sie gleichzeitig als V-2 über ihre Fluggeschwindigkeit - "also das Wesen der V 2 im porphyrischen Baum des Zweiten Weltkriegs"(375) - zu identifizieren, würde Gabors Unschärferelation wieder in Kraft treten lassen, also unmöglich sein. "Eine auf den dreidimensionalen Fall verallgemeinerte Autokorrelationfunktion, die den schönen Namen Ambiguitätsfunktion trägt und von der Form des gewählten Radarsignals abhängt, ist das Maß dieser Unmöglichkeit selber. Wenn wir wissen, wann die Rakete kommt, wissen wir nicht mehr, was sie ist; wenn wir wissen, was sie ist, wissen wir nicht mehr, wann sie kommt. Sie kommt aber deshalb, weil die erste Differentialgleichung, die Konrad Zuses Computermeisterstück lösen durfte, die Servomotorik der vier Steuerruder an der V 2 optimiert hat."(375/76)
Aus dieser 'Verschaltung' von Computer an Land mit Computer in der Luft ergibt sich, daß "das Meßobjekt, auf das digitale Signalverarbeitung anspricht oder reagiert, [...] eine andere digitale Signalverarbeitung ist. DSP ist keine Naturwissenschaft, die nach dem alteueropäischen Modell der Uhr Kontingenzen der Natur auf Gesetze bringen würde. DSP, wie Lacan so früh wie genau erkannt hat, spielt im Raum einer doppelten Kontingenz: Verschiedene Systeme, also mindestens zwei, verarbeiten kontingente und zeitabhängige Ereignisse einer Umwelt, wobei sie selber Zeit verbrauchen und füreinander angreifbar werden. Sieger bleibt, wer den Zufall am schnellsten und effektivsten reduzieren kann.
Seitdem, also seit den Raketen aus Penemünde und ihrer Nutzlast aus Los Alamos steht das Gesetz nicht mehr in der dritten Sure des Koran, um nach Allahs Willen allen Frauen und Männern die Stunde ihrer Wahrheit zuzumessen. Die Mikrosekunde der Auschaltung, wenn sie denn überhaupt noch anschreibbar ist, steht auf der ersten Seite von Gravity's Rainbow und heißt: »A screaming comes across the sky.«".(376)