Was Kittler mit den beiden Titeln vorschwebt, ist
"Einübung in einen informationtheoretischen Materialismus, der auf
dem Stand der Dinge wäre".(363) "Unter dem Vorbehalt also, daß
meine Einübung nur für Silizium und nicht für die
optoelektronischen oder organischen Schaltkreise einer näheren
Zukunft zutreffen mag, könnte der informationstheoretische
Materialismus mit der These beginnen:
Nur was schaltbar ist, ist überhaupt."(363)
"Damit bleibt die gesprochene Sprache von
vornherein außer Betracht; nach Hegels gnadenlosem Wort ist »ein
Ton ein Daseyn, das verschwindet, indem es ist«".
Zeitachsenmanipulation vermag, was Sprache nicht kann: "einen
zeitseriellen Datenstrom anders anzuordnen. Zwar hat "als erste
solcher Zeitmanipulationstechniken [...] die Schrift
figuriert"(364) und, sofern sie über Trennzeichen verfügt, "erlaubt
jede Schrift [...] die elementaren Computeroperationen Swapping,
Copy und Delete. Vom Kreuzworträtsel (wie Shannon gezeigt hat) bis
zum Palindrom beruhen alle Spiele, die mit Buchstaben möglich sind,
auf solchen Operationen. Poesie war wahrscheinlich nicht mehr und
nicht weniger als ihre Maximierung." Aber "Zeitmanipulation unter
Bedingungen des Schriftmonopols schloß alles aus, was seit Thomas
Browns fundamentaler Entdeckung von 1830 das Rauschen des Realen
heißen darf."(364/65) "Unter Bedingungen des Schriftmonopols galt
sogar umgekehrt: weil und nur weil die Zeitachse kontingenter
Ereignisse nicht zu manipulieren war, hatte jede behauptete
Zeitachsenumkehr den erkennbaren Status von Fiktion."(365)
"In dieser Not blieb der Literatur [...] nur der
Ausweg, von Zeitachsenmanipulation wenigstens zu erzählen." Ilse
Aichingers Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond
bringt das Meisterstück fertig, "die Weltgeschichte von heute über
die Festung Europa bis zur Urkatastrophe von Atlantis und wieder
zurück zu durchlaufen". Das "bilderlose Reich akustischer Zufälle"
aber "ist ein Jenseits aller Literatur, Rhetorik und Schrift
geblieben. Sie hat es nur gar nicht erst ignoriert, bevor nicht
andere Medien begannen, den Zufall zurückzukoppeln. Erst im genauen
historischen Moment ihres Monopolverlusts nannte die Literatur ihr
Jenseits beim Namen. 1897 schrieb Mallarmé: »Un coup de dés jamais
n'abolira le hasard. - Nie wird ein Würfelwurf den Zufall
beseitigen."(366)
"Was das Würfeln mit sechsundzwanzig Buchstaben
und einem Leerzeichen nicht vermag, ist technischen Medien ein
Leichtes." So trat "ein oder zwei Jahre nach Mallarmés finalem
Diktum" Georges Méliès auf, um filmisch eine Schweinswurst in das
Schwein zurückzuspulen. "Die Analogmedien der Jahrhundertwende,
Film für die optische Wahrnehmung und Grammophon für die
akustische, machten kontingente zeitserielle Ereignisse erstmals
speicherbar. Es begann unsere Zeit unbegrenzter
Eingriffsmöglichkeiten, die in einem zweiten Zeitdurchgang auch den
Zufall beseitigen konnten und damit wahrscheinlich die historische
Zeit überhaupt beendet haben."(366) Die Eingriffsmöglichkeiten sind
beim Grammophon noch sehr beschränkt, im Film hingegen ist "eine
kaum abzählbare Menge von Manipulationen [möglich], also von
Löschungen und Umschreibungen, die das Zelluloid zum
Schreiblesespeicher machen und das heißt, mit einer Syntax
ausstatten"(367). Ein Vorschlag von Hugo Münsterberg, die Folge von
Aufnahmen Films zu versetzen, also bei damals 16 Aufnahmen pro
Sekunde diese etwa in der Reihenfolge 1,2,3,4,3,5,6,5,6,7,8,7 usw.
vorzuführen, hätte nach dessen Worten einen Effekt, der »in der
Natur und damit auch auf der Bühne schlichtweg ausgeschlossen«
wäre. »Denn die Ereignisse laufen einen Augenblick lang rückwärts.
Eine Art Vibration geht durch die Welt wie ein Tremolo durchs
Orchester«.(92) Münsterbergs nie
realisierter Vorschlag "brachte also schiere Zufallsketten, wie die
Filmaufnahme sie mit Notwendigkeit liefert, in eine temporale
Syntax aus lauter Parenthesen [...]", was darauf hinauslief,"gerade
durch Einfügung von Syntax oder Periodik in eine Zufallskette deren
überwältigende Fremdheit nur noch zu potenzieren: Die Augen der
Filmzuschauer hätten nicht umhin gekonnt, ins selbe Zittern,
Schwindeln und Tremolieren wie die ihnen projizierte Welt zu
verfallen. Und die »Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond«
wären auch optisch implementiert gewesen."(368)
Diese Beispiele "haben Zeitachsenmanipulationen im
Niederfrequenzbereich vorgeführt, dort also, wohin unsere optischen
oder akustischen Wahrnehmungen noch reichen. Technische Medien
dagegen sind durch nichts anderes definiert als durch ihre
Strategie, den Niederfrequenzbereich, um ihn simulieren zu können,
prinzipiell zu unterlaufen". Und dieses "strategische Ausweichen"
zwingt sie "in den Hochfrequenzbereich, dorthin also, wo uns Hören
und Sehen vergeht. Ein Würfelwurf, der den Zufall abschaffen würde,
müßte ja unendlich schnell sein. Deshalb gibt es ihn auch nicht.
Die Geschwindigkeit von optischen oder elektrischen Signalen ist
bekanntlich eine Konstante, die nach einer einfachen Formel die
maximal mögliche Informationrate auf einen angebbaren endlichen
Wert festlegt:
C ? 3.7007 ? ?(P/h)
wobei C der Informationsfluß pro Zeiteinheit ist,
P die Signalenergie der gesendeten Photonen und h das Plancksche
Wirkungsquantum. Deshalb kann man, nach Derridas Wort, die Zeit
nicht geben."(368/69)
"In der Technik allerdings, anders als in der
Philosophie, sind Annäherungen möglich. Hochfrequenztechnik, vor
allem in ihrer diskreten Form als digitales Signalprozessing, ist
die Beinahegabe von Zeit". Und Kittler kommt "zur Sache", indem er
zum "Optimum des heute schon Machbaren" übergeht. "Jede digitale
Signalverarbeitung - weil nur ist, was schaltbar ist - setzt
zunächst ein Zerhacken voraus. In Computern gibt es Zeit nur in
quantisierten und sychronisierten Paketen, deren Größe selbstredend
gegen Null streben sollte." Da entsteht denn "im ziemlich
hegelfremden Zeitbereich [...] ein Takt, der es seinerseits
erlaubt, alle anderen ungetakteten Eingangssignale im
Mikrosekundenrhythmus zu zerhacken. Das digitale Signalprozessing
kann starten, auch und gerade bei Zufallswerten."(369) Diese
digitalisierten Werte, "und nur sie sind schlechthin
speicherbar".
Nun war auch schon die Erfindung eines
musikalischen Notationssystems "im Prinzip nichts anderes als
digitale Signalverarbeitung. "Unabzählbare Unendlichkeiten
schrumpften, zumindest auf dem Papier, zu abzählbar endlichen
Mengen. Metaphysik war immer nur die Verwechslung solcher
Datenkompressionen mit einem sogenannten Wesen, immer nur die
Unterstellung, daß Kontingenz in Schrift aufgeht, Klang in Musik
und Entropie in Ordnung. Alles dagegen, was, wie bei Platon die
Haare, der Schmutz und der Kot, schlichthin keine Idee hatte,
schied die Metaphysik von vornherein aus - in einen »Abgrund der
Albernheit«."(Parmenides, 130 D)(370)
Die Schwierigkeiten beginnen erst jenseits von
einzelnen Schweineaufnahmen oder buchstabierbaren Sprachlauten,
nämlich "bei Frequenzen oberhalb menschlicher
Wahrnehmungsschwellen, also genau dort, wo alle technischen Medien
arbeiten, einfach weil sie sonst Augen oder Ohren gar nicht
systematisch täuschen können. Um einen Computer zum Sprechen oder
Hören zu bringen, muß er in der Lage sein, mit jedem Einzellaut
genauso analytisch zu verfahren, wie wir es [...] mit ganzen
Lautketten können. Es muß, mit anderen Worten, Ordnung auch und
gerade in der Entropie entdecken."(370/71) Und darum geht es im
Folgenden: Fourieranalyse(93), Fourierintegrale und
für Computer "die schnelle Fouriertransformation, wie es im
langsamen Deutsch heißt", die "unter den wunderbar amerikanischen
Sprachkürzeln Fast Fourier Transform oder gar FFT zum
Standardverfahren digitaler Signalverarbeitung aufgerückt
[ist]"(372).
Die Wirklichkeit konnte "von Herodot bis
Heidegger", weil sie, wie irgendwo dazwischen Malte Laurids Brigge
sagt, langsam ist, ihre Analyse im Zeitbereich nur als
Geschichtsschreibung haben. "Erst wenn es gelingt, einen
Zeitbereich ganz ohne Metaphysik oder Geschichtsphilosophie in den
Frequenzbereich zu transformiern, schwindet diese
Unbeschreiblichkeit. Nichts anderes leistet die FTT", die erst, da
sie die Zeitachse durch eine Frequenzachse ersetzt, eine effektive
Datenkompression erlaubt. Um den Preis allerdings eines minimalen
Aufschubs oder der Öffnung eines sogenannten "Fensters von zehn bis
zwanzig Millisekunden"(373), bis das erste Frequenzsprekturm
ermittelt werden kann. "Es gibt mithin überhaupt keine
Echtzeitanalyse in dem Sinn, daß Ereignisse ohne jeden Aufschub
analysabel würden. Alle umlaufenden Theorien, die zwischen
historischer und elektronischer Zeit wie zwischen Aufschub und
Gleichzeitigkeit unterscheiden möchten, sind Mythen. Real Time
Analysis heißt einzig und allein, daß Aufschub oder Verzögerung,
Totzeit oder Geschichte schnell genug abgearbeitet werden, um
gerade noch rechtzeitig zur Speicherung des nächsten Zeitfensters
übergehen zu können. [...] Gegensatz zur Echtzeit ist demnach nicht
historische Zeit, sondern bloß eine Simulationszeit, bei der es
entweder unmöglich oder unnötig ist, mit der Geschwindigkeit des
Simulierten mitzuhalten. Als John von Neumann einen der ersten
Computer überhaupt in Auftrag gab, um die dreidimensionalen
Druckwellen der ersten Atombomben zu simulieren, konnte er ein Lied
davon singen."(373)
"Rechenaufwand und damit Zeitverbrauch bei einer
numerischen Fourieranalyse sind allerdings so beträchtlich, daß die
Frage nach einfacheren Analyseverfahren aufkommt." Das menschliche
Ohr aber verfährt nach einem solchen Verfahren. Es arbeitet
"offenbar im Zeitbereich und nicht wie die Fourieranalyse im
Frequenzbereich". Die einzige mathematische Funktion, die den damit
notwendig verbundenen Bedingungen von Variabilität gerecht wird -
"und erst durch Norbert Wiener informationstheretischen Rang
erlangt hat" - ist die Autokorrelationsfunktion.
Beim Autokorrelationsverfahren "braucht die
Messung Zeit". In diesem Zusammenhang wurde entdeckt, "daß
Zeitachsenanalyse und Frequenzachsenanalyse voneinander nicht
unabhängig sind". Von Dennis Gabor wurde im Zweiten Weltkrieg der
Satz aufgestellt, "daß das Produkt aus der mittleren Dauer und der
mittleren Frequenzbandbreite eines Signals nicht beliebig klein
gemacht werden kann"(375) "In menschlicheren Worten: Jedes Feld,
also jedes Ereignis im Zeit-Frequenz-Diagramm, bildet eine nicht
unterschreitbare Grenze, also keinen Punkt. Es mußte aber einen
Punkt darstellen, wenn die gleichzeitige Messung von Zeit und
Frequenz beliebig exakt sein sollte. Was Gabor damit anschrieb, war
nichts Geringeres als die direkte informationstheoretische
Entsprechung zu Heisenbergs quantenphysikalischer
Unschärferelation, derzufolge ja Spin und Position eines
Elementarteilchens nicht gleichzedit exakt zu bestimmen sind." Das,
so Kittler, grenze an Befehlsverweigerung.
Diegleiche "Unschärferelation" zeigt Kittler nun
in seiner "kleinen Populärwissenschaft" an dem Fall auf, daß eine
englische Radarstation eine V-2 erfaßt hätte. Sie zu orten und sie
gleichzeitig als V-2 über ihre Fluggeschwindigkeit - "also das
Wesen der V 2 im porphyrischen Baum des Zweiten Weltkriegs"(375) -
zu identifizieren, würde Gabors Unschärferelation wieder in Kraft
treten lassen, also unmöglich sein. "Eine auf den dreidimensionalen
Fall verallgemeinerte Autokorrelationfunktion, die den schönen
Namen Ambiguitätsfunktion trägt und von der Form des gewählten
Radarsignals abhängt, ist das Maß dieser Unmöglichkeit selber. Wenn
wir wissen, wann die Rakete kommt, wissen wir nicht mehr, was sie
ist; wenn wir wissen, was sie ist, wissen wir nicht mehr, wann sie
kommt. Sie kommt aber deshalb, weil die erste
Differentialgleichung, die Konrad Zuses Computermeisterstück lösen
durfte, die Servomotorik der vier Steuerruder an der V 2 optimiert
hat."(375/76)
Aus dieser 'Verschaltung' von Computer an Land mit
Computer in der Luft ergibt sich, daß "das Meßobjekt, auf das
digitale Signalverarbeitung anspricht oder reagiert, [...] eine
andere digitale Signalverarbeitung ist. DSP ist keine
Naturwissenschaft, die nach dem alteueropäischen Modell der Uhr
Kontingenzen der Natur auf Gesetze bringen würde. DSP, wie Lacan so
früh wie genau erkannt hat, spielt im Raum einer doppelten
Kontingenz: Verschiedene Systeme, also mindestens zwei, verarbeiten
kontingente und zeitabhängige Ereignisse einer Umwelt, wobei sie
selber Zeit verbrauchen und füreinander angreifbar werden. Sieger
bleibt, wer den Zufall am schnellsten und effektivsten reduzieren
kann.
Seitdem, also seit den Raketen aus Penemünde und
ihrer Nutzlast aus Los Alamos steht das Gesetz nicht mehr in der
dritten Sure des Koran, um nach Allahs Willen allen Frauen und
Männern die Stunde ihrer Wahrheit zuzumessen. Die Mikrosekunde der
Auschaltung, wenn sie denn überhaupt noch anschreibbar ist, steht
auf der ersten Seite von Gravity's Rainbow und heißt: »A
screaming comes across the sky.«".(376)