Die Welt, auf die Alan Mathison Turing 1912 kam,
hieß damals "auf der Machtbasis von Kriegsflotten und
unterseeischen Telegraphenkabeln" noch "Empire". Als er 1954 starb,
gab es das Empire nicht mehr. "Macht oder Imperium waren als
ungeheurer Technologietransfer über den Atlantik gewandert mit
allen Computern, Flüssigkeitraketen und Lenkwaffen der europäischen
Weltkriegslaboratorien. Mochte Britannien die Wellen und das Dritte
Reich (in ausdrücklicher Konkurrenz) die Ätherwellen beherrscht
haben, mit Rechenmaschinen, künstlichen Intelligenzen und
Spionagesatelliten begann die Pax Americana."(140) Eines "jener
schönen und neuen Gedichte vom Typ der human science fiction" hat
Enzensberger Turing gewidmet.(89) "Aber seitdem es
künstliche Intelligenzen gibt, wird auch die intelligenteste Poesie
zu Mythos oder Anekdote", denn "dank Turing verschwand das Wissen
aus den Köpfen und in kleinen Maschinen, die es (mit einem schönen
Technikerwort) implementieren"(141).
Dort reproduziert es sich selbst.
"Computerhardware von heute ist, bei aller Monotonie ihrer
hunderttausend Transistorzellen auf einem Siliziumchip, viel zu
labyrithisch organisiert, um noch von den Ingenieuren entworfen
werden zu können. Deshalb fällt die Schaltungsentwicklung mehr und
mehr an CAD, Computer Aided Design. Gans wie John von Neumanns
allgemeine Automatentheorie vorausgesagt hat, übernehem Computer
ihre eigenen Reproduktion, die als CAD nicht etwa bloße Nachahmung
oder Teilmengen der Eltern liefert, sondern von Generation zu
Generation die Komplexität selber steigert."(141)
Solche Komplexität, "ihre Gegenwart und Planung,
ist kaum zugänglich. Die Auftraggeber des Imperiums, zumal im
Pentagon, haben auch Auftrag gegeben, die Akten oder Datenbänke
über künstliche Intelligenz als Verschlußsachen zu behandeln. Was
der Geschichtsschreibung ( um von ihrer prinzipiellen Blindheit vor
Datenbänken zu schweigen) demnach bleibt, sind Verschlußssachen von
gestern, wie die Verteidigungsministerien sie nach einer Frist von
dreißig Jahren überlicherweise freigeben."
Die kriegsentscheidenden Computer des Zweiten
Weltkrieges waren "noch ohne künstliche Itelligenz im
Technikerwortsinn. Sie hatten keine Referenzrahmen, um mit dem
Symbolischen natürlicher Sprachen zu kommunizieren, keine
Gestalterkennungsprozeduren, um das Imaginäre von Formen und
Bildern zu verstehen. Aber auch sie genügten bereits den formalen
Bedingungen einer Intelligenz, wie Lacan sie aus Karl von Frisch
Bienen-Experimenten abgeleitet hat." Nach diesem schon in
Grammophon, Film, Typewriter geäußerten Gedanken (372 ff,
vgl. das Referat dazu in dieser Folge des Referateservice ) sind
Computer Subjekte. Kittler folgert: "Daß IF-THEN-Befehle aufhörten,
ein Privileg des Menschen zu sein, hat alle philosophischen
Debatten um den Tod des Subjekts erledigt, einfach weil Waffen
selber zu Subjekten wurden. Heutzutage steuern Cruise Missiles mit
optischen Sensoren und Fernsehbildgedächtnis die eigene
Flugstrecke. Ein Bordcomputer als künstliche Intelligenz sagt dem
Antriebsaggregat: »Fliege dort und dort lang, etwa nach der
Ukraine, und wenn du das und das, etwa Kiew siehst, biege zur
Explosion ein«".
Mit Norbert Wiener geht auch die Kybernetik "nach
Wort und Sache in Steuerung auf und Steuerung in militärischem
Befehlsfluß. Mit Turings Computern und Wieners automatischen
Flak-Kanonen [...] ist Kriegsgeschichte vollendet und der
Sternenkrieg möglich geworden." Darüber aber herrscht Schweigen,
obwohl all das schon in der Bibel steht. Denn "im Anfang war
selbstredend das Wort. Das Wort war bei Gott und versuchte sieben
Tage und Nächte lang, binäre Unterscheidungen, also Bits,
einzuführen: Tag und Nacht, Himmel und Erde, Sonne und Mond, Tag
und Nacht, Himmel und Erde, Sonne und Mond, um von Gut und Böse gar
nicht zu reden. Diese Tage vor dem Tag, diese wiederholten
Sequenzen digitaler Encodierung schufen buchstäblich nichts -
nichts, was nicht unterm infamen Titel Tohuwabohu immer schon
dagewesen wäre. Schließlich haben Himmel und Erde, Land und Wasser
nicht auf Elohims Verschriftung warten müssen. Was die Verwalter
jener Heiligen Schrift Gottes Schöpfung aus Nichts nennen, war also
eher Schöpfung von nicht: Gegensatzpaare, Codewörter,
Signifikanten. Aber genau darum entstand die fundamentale Differenz
zwischen Differenzen einerseits, weißem Rauschen andererseits,
genau darum trennt ein Signal-Rausch-Verhältnis befohlene Ordnung
und altes Chaos."(189) "Seit der Genesis prozediert die Sprache der
oberen Führung nur mit Ja und nein." Das gilt für den deutschen
Generalstab seit den Tagen Schlieffens, gilt nicht für
Generaloberst Jodl - "letzter Chef einer glanzvollen
Kurzgeschichte" -, gilt für den optischen Telegraphen, den
Aischylos erwähnt, gilt nicht für den optischen Telegraphen der
französischen Revolutionsarmee, gilt wieder seit 1848 mit der
Überführung aller Depeschentexte "in Morsepunkte und Morsestriche,
diese zwei Minimalsignifikanten eines schlechthin ökonomischen
Zeichensystems"(190).
Seitdem "ist militärischer Nachrichtenfluß nicht
mehr jene Post oder Literatur, als die er bis zu Napoleons
Depeschen lief". Wenn Napoleon bis zu zwanzig Briefe vor den
Schlachten an seinen Generalstab diktierte, machen "solche
Briefmengen [...] zwischen militärischem Oberbefehl und
literarischen Durchführungsbestimmungen, also Briefromanen wie
Werther oder Nouvelle Héloise, nur einen numerischen
Unterschied". "Kein moderner Aischylos dagegen könnte mit
Zeichentechniken konkurrieren, die in Codes, Kanälen und Netzen
ihre zweitausendjährige Kopplung mit Literatur gelöst haben.
Charles Babbage, der der britischen Marine die erste Rechenmaschine
mit automatischen IF-THEN-Bedingungen vorschlug, gab auf die
Schriftstellerbemerkung, nun könne er wohl auch automatische Romane
schreiben lassen, die kühle Antwort, Buchmesse zu Leipzig und
Saumesse zu Padua seien ein und dieselbe Menagerie. An diskreten
Rechenschritten und rekursiven Funktionen zerbrach das
Schriftmonopol."(190/91)
Es folgen Einzelheiten zum "war of coal and
cables" von 1898 zwischen Spanien und den USA, in dem der Beweis
erbracht wurde, "daß Energie nicht ohne Information ist, Boltzmann
nicht ohne Shannon"(191). Es folgen die drahtlose Telegraphie und
Telephonie und "das nachmalige Radio"(91) -eine "frohe Botschaft"
des Poststaatssekretärs Dr. Bredow. Es folgen die Schützengräben
des Ersten Weltkrieges, "die ja alle Probleme technischer
Speicherung lösten", denn "das vierjährige Eingegrabensein von
Soldaten setzte nur das von Bilder- und Klangsequenzen fort"(192),
das Film und Grammophon ermöglicht hatten. "Gleichzeitig hatte die
neue Schreibmaschine, durch Anonymisierung oder gar Verweiblichung
der Textproduktion die moderne Trinität von Realem, Imaginärem und
Symbolischem vervollständigt - anders gesagt, die drei
Speichermöglichkeiten von Phonographie, Kinematographie und
diktiertem Standardbefehl."(192/93)
Es fehlte noch die Kopplung dieser drei
Speichermedien "mit technisch-adäquaten Übertragungsmedien, mit
Radio, Fernsehen und ihren Kriegszwillingen: Sonar und Radar"(193).
So lief denn "die frohe Botschaft des Blitzkrieges von 1939 auf
eine neue Technologie hinaus" : UKW. "Den festgefahrenen
Stellungskrieg in Schützengräben und Speichermedien löste der
Blitzkrieg in Übertragungsmedien ab: Kesselschlachten und
Panzerdurchbrüche wurden möglich."(194) Zu beiden aber gehörte "das
Verschlüsselungssystem Enigma", um den umfassend gewordenen
Funkverkehr vor Interzeption zu schützen. "Seit 1939 fällt der
Krieg selber mit seinem Nachrichtennetz zusammen: er ist,
wie alsbald jeder Computer auch, das Organigramm aller Adressen,
Daten und Befehle. Elektrische Netzwerke aber müssen einfach über
elektrische Netzwerke laufen. Deshalb bewaffnete sich der
Blitzkrieg, obwohl und weil auf Übertragungsmedien basierend, mit
dem unspektakulärsten aller drei Speichermedien. Alle Befehle,
Daten, Adressen liefen über Schreibmaschinen, die Enigma und den
noch geheimeren Geheimschreiber."
Die Enigma aber bescherte "alle Freuden einer
diskreten, nämlich kombinatorischen Mathematik". Jedoch "jede von
einem Algorithmus gesteuerte Maschine kann geschlagen, ja überboten
werden, vorausgesetzt, daß die Feindmaschine über eine Obermenge
von Algorithmen verfügt. Genau das hat den Zweiten Weltkrieg
entschieden. Computer waren und sind die strategisch entscheidende
Gegenoffensive eines Medienkriegs. Der Zweite Weltkrieg, um es kurz
zu machen, konfrontierte einfach zwei Schreibmaschinen."
Die Rolle, die Alan Turing dabei spielte, wird
nach der Biographie von Adrew Hodges erörtert.(90) Turings
tintenklecksende Handschrift kollidierte an der Public School von
Sherborne mit dem noch heute gültigen alten Auftrag von
Schulsystemen überhaupt, "durch Adressur einer schönen,
zusammenhängenden und individuellen Handschrift Individuen im
Wortsinne herzustellen"(195). Schon dort aber wich Turing, "ein
Meister im Unterlaufen von Bildung und intellektueller
Priesterkaste", aus und entwarf eine »ungemein primitive
Schreibmaschine«.(91) Später wurde eine
"zum reinen Prinzip abgemagerte Schreibmaschine [...] zum Prototy
jedes denkbaren Computers". "Turing-Maschinen sind noch ungemein
primitiver als der Sherborner Schreibmaschinenentwurf. [...] Sie
kommen, frei nach Boole, mit einem Zeichen und seiner Abwesenheit
aus, mit Eins und Null. Diese Binärinformation können sie abtasten
und nach einer IF-THEN-Bedingung, die ihre ganze künstliche
Intelligenz ausmacht, automatisch ausführen." Das, und noch einige
Einzelheiten, "ist alles".
Damit ist eine Schließung vollendet. "Künstliche
Intelligenzen von heute laufen schneller, paralleler, nur nicht
prinzipiell anders. Mit der Universalen Diskreten Maschine ist das
Mediensystem geschlossen. Speicher- und Übertragungsmedien gehen
beide in einer Prinzipschaltung auf, die alle anderen
Informationsmaschinen simulieren kann, einfach weil sie in jeder
einzelnen Programmschleife speichert, überträgt und berechnet. Eine
menschenlose Bürokratie übernimmt alle Funktionen, die zur formalen
Definition von Intelligenz hinreichend und notwendig sind."(196/97)
"Computing, bis 1936 der Name einer menschlichen Fähigkeit, nahm
jenen neuen und technischen Wortsinn an, der mittlerweise
Weltgeschichte gemacht hat. Künstliche Intelligenzen [...] erobern
die Gesamtheit dessen, was sie können. Und das war nicht
Naturwissenschaft, sondern Strategie. Gerade daß Finite State
Maschinen gegenüber dem physischen oder neurophysiologischen
Universum den Vorzug hatten, durchgängig vorhersagbar zu sein,
qualifizierte sie für den Krieg. Turing ersetzte die Natur durch
den Feind, ein analoges durch ein binäres, die physikalischen
Gesetze durch eine Encodierungstechnik, die beobachtbaren
Erscheinungen durch abgefangene Botschaften und die Naturkonstanten
durch kryptologische Schlüssel."(196) Im Folgenden wird
dargestellt, wie im englischen Bletchley Park der kryptoanalytische
Einbruch in die deutsche Kriegsmaschinerie möglich wurde.(197 ff).
Dessen Voraussetzung war nicht nur die computerisierte
Entschlüsselung des Enigma-Codes, sondern die Interzeption und
Simulierung der gesamten deutschen Wehrmachtsorganisation und ihres
Nachrichtensystems durch Bletchley Park und seine Computer. "Was an
Adressen, Daten, Befehlen in der Wehrmacht oder ihrem britischen
Simulakrum noch zwischen Menschen und Schreibmaschinen zirkulierte,
konnte endlich Hardware werden", als COLOSSUS gebaut wurde. Aber
auch "der erste Computer in Wissenschaft- oder Kriegsgeschichte
wäre nur eine tonnenschwere Ausgabe der Remington-Schreibmaschine
mit Rechenwerk gewesen, hätte er nicht bedingten Sprungbefehlen
gehorcht. Bedingte Sprünge, in Babbages unvollendeter Analytic
Engine von 1835 erstmals vorgesehen, kamen 1938 in Konrad Zuses
Berliner Privatwohnung zur Maschinenwelt, die seitdem mit dem
Symbolischen selber eins ist". "An allen Fronten, von der geheimen
Kryptoanalyse bis hin zur spektakulärsten Zukunftswaffenoffensive,
ging der Zweite Weltkrieg von Menschen oder Soldaten auf
Maschinensubjekte über"(199). Nicht viel hätte gefehlt, daß Zuses
Binärrechner für die V 2 "schon von Anbeginn an den freien
Raketenflug programmiert hätten", denn "die Waffe als Subjekt (oder
Subjektil, wie Artaud alsbald formulierte) brauchte das
entsprechende Gehirn. Mit der Folge, daß COLOSSUS Sohn auf Sohn
gebar, jeder kolossaler noch als der geheime Vater"(199): ACE,
ENIAC, EDVAC, BINAC, ATLAS, MANIAC.
Folgen noch Hinweise auf die Verwicklung des
Homosexuellen Alan Turing nach Kriegsende in verschärfte
geheimdienstliche Sicherheitsbestimmungen nach der Übernahme des
kryptoanalytischen Fortschritts durch die USA. (200 ff).