Friedrich Kittler. Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing. In: Friedrich A. Kittler, Georg Christoph Tholen (Hgg). Arsenale der Seele. Literatur und Medienanalyse seit 1870. München 1989. S 187-202.

Die Welt, auf die Alan Mathison Turing 1912 kam, hieß damals "auf der Machtbasis von Kriegsflotten und unterseeischen Telegraphenkabeln" noch "Empire". Als er 1954 starb, gab es das Empire nicht mehr. "Macht oder Imperium waren als ungeheurer Technologietransfer über den Atlantik gewandert mit allen Computern, Flüssigkeitraketen und Lenkwaffen der europäischen Weltkriegslaboratorien. Mochte Britannien die Wellen und das Dritte Reich (in ausdrücklicher Konkurrenz) die Ätherwellen beherrscht haben, mit Rechenmaschinen, künstlichen Intelligenzen und Spionagesatelliten begann die Pax Americana."(140) Eines "jener schönen und neuen Gedichte vom Typ der human science fiction" hat Enzensberger Turing gewidmet.(89) "Aber seitdem es künstliche Intelligenzen gibt, wird auch die intelligenteste Poesie zu Mythos oder Anekdote", denn "dank Turing verschwand das Wissen aus den Köpfen und in kleinen Maschinen, die es (mit einem schönen Technikerwort) implementieren"(141).
Dort reproduziert es sich selbst. "Computerhardware von heute ist, bei aller Monotonie ihrer hunderttausend Transistorzellen auf einem Siliziumchip, viel zu labyrithisch organisiert, um noch von den Ingenieuren entworfen werden zu können. Deshalb fällt die Schaltungsentwicklung mehr und mehr an CAD, Computer Aided Design. Gans wie John von Neumanns allgemeine Automatentheorie vorausgesagt hat, übernehem Computer ihre eigenen Reproduktion, die als CAD nicht etwa bloße Nachahmung oder Teilmengen der Eltern liefert, sondern von Generation zu Generation die Komplexität selber steigert."(141)
Solche Komplexität, "ihre Gegenwart und Planung, ist kaum zugänglich. Die Auftraggeber des Imperiums, zumal im Pentagon, haben auch Auftrag gegeben, die Akten oder Datenbänke über künstliche Intelligenz als Verschlußsachen zu behandeln. Was der Geschichtsschreibung ( um von ihrer prinzipiellen Blindheit vor Datenbänken zu schweigen) demnach bleibt, sind Verschlußssachen von gestern, wie die Verteidigungsministerien sie nach einer Frist von dreißig Jahren überlicherweise freigeben."
Die kriegsentscheidenden Computer des Zweiten Weltkrieges waren "noch ohne künstliche Itelligenz im Technikerwortsinn. Sie hatten keine Referenzrahmen, um mit dem Symbolischen natürlicher Sprachen zu kommunizieren, keine Gestalterkennungsprozeduren, um das Imaginäre von Formen und Bildern zu verstehen. Aber auch sie genügten bereits den formalen Bedingungen einer Intelligenz, wie Lacan sie aus Karl von Frisch Bienen-Experimenten abgeleitet hat." Nach diesem schon in Grammophon, Film, Typewriter geäußerten Gedanken (372 ff, vgl. das Referat dazu in dieser Folge des Referateservice ) sind Computer Subjekte. Kittler folgert: "Daß IF-THEN-Befehle aufhörten, ein Privileg des Menschen zu sein, hat alle philosophischen Debatten um den Tod des Subjekts erledigt, einfach weil Waffen selber zu Subjekten wurden. Heutzutage steuern Cruise Missiles mit optischen Sensoren und Fernsehbildgedächtnis die eigene Flugstrecke. Ein Bordcomputer als künstliche Intelligenz sagt dem Antriebsaggregat: »Fliege dort und dort lang, etwa nach der Ukraine, und wenn du das und das, etwa Kiew siehst, biege zur Explosion ein«".
Mit Norbert Wiener geht auch die Kybernetik "nach Wort und Sache in Steuerung auf und Steuerung in militärischem Befehlsfluß. Mit Turings Computern und Wieners automatischen Flak-Kanonen [...] ist Kriegsgeschichte vollendet und der Sternenkrieg möglich geworden." Darüber aber herrscht Schweigen, obwohl all das schon in der Bibel steht. Denn "im Anfang war selbstredend das Wort. Das Wort war bei Gott und versuchte sieben Tage und Nächte lang, binäre Unterscheidungen, also Bits, einzuführen: Tag und Nacht, Himmel und Erde, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Himmel und Erde, Sonne und Mond, um von Gut und Böse gar nicht zu reden. Diese Tage vor dem Tag, diese wiederholten Sequenzen digitaler Encodierung schufen buchstäblich nichts - nichts, was nicht unterm infamen Titel Tohuwabohu immer schon dagewesen wäre. Schließlich haben Himmel und Erde, Land und Wasser nicht auf Elohims Verschriftung warten müssen. Was die Verwalter jener Heiligen Schrift Gottes Schöpfung aus Nichts nennen, war also eher Schöpfung von nicht: Gegensatzpaare, Codewörter, Signifikanten. Aber genau darum entstand die fundamentale Differenz zwischen Differenzen einerseits, weißem Rauschen andererseits, genau darum trennt ein Signal-Rausch-Verhältnis befohlene Ordnung und altes Chaos."(189) "Seit der Genesis prozediert die Sprache der oberen Führung nur mit Ja und nein." Das gilt für den deutschen Generalstab seit den Tagen Schlieffens, gilt nicht für Generaloberst Jodl - "letzter Chef einer glanzvollen Kurzgeschichte" -, gilt für den optischen Telegraphen, den Aischylos erwähnt, gilt nicht für den optischen Telegraphen der französischen Revolutionsarmee, gilt wieder seit 1848 mit der Überführung aller Depeschentexte "in Morsepunkte und Morsestriche, diese zwei Minimalsignifikanten eines schlechthin ökonomischen Zeichensystems"(190).
Seitdem "ist militärischer Nachrichtenfluß nicht mehr jene Post oder Literatur, als die er bis zu Napoleons Depeschen lief". Wenn Napoleon bis zu zwanzig Briefe vor den Schlachten an seinen Generalstab diktierte, machen "solche Briefmengen [...] zwischen militärischem Oberbefehl und literarischen Durchführungsbestimmungen, also Briefromanen wie Werther oder Nouvelle Héloise, nur einen numerischen Unterschied". "Kein moderner Aischylos dagegen könnte mit Zeichentechniken konkurrieren, die in Codes, Kanälen und Netzen ihre zweitausendjährige Kopplung mit Literatur gelöst haben. Charles Babbage, der der britischen Marine die erste Rechenmaschine mit automatischen IF-THEN-Bedingungen vorschlug, gab auf die Schriftstellerbemerkung, nun könne er wohl auch automatische Romane schreiben lassen, die kühle Antwort, Buchmesse zu Leipzig und Saumesse zu Padua seien ein und dieselbe Menagerie. An diskreten Rechenschritten und rekursiven Funktionen zerbrach das Schriftmonopol."(190/91)
Es folgen Einzelheiten zum "war of coal and cables" von 1898 zwischen Spanien und den USA, in dem der Beweis erbracht wurde, "daß Energie nicht ohne Information ist, Boltzmann nicht ohne Shannon"(191). Es folgen die drahtlose Telegraphie und Telephonie und "das nachmalige Radio"(91) -eine "frohe Botschaft" des Poststaatssekretärs Dr. Bredow. Es folgen die Schützengräben des Ersten Weltkrieges, "die ja alle Probleme technischer Speicherung lösten", denn "das vierjährige Eingegrabensein von Soldaten setzte nur das von Bilder- und Klangsequenzen fort"(192), das Film und Grammophon ermöglicht hatten. "Gleichzeitig hatte die neue Schreibmaschine, durch Anonymisierung oder gar Verweiblichung der Textproduktion die moderne Trinität von Realem, Imaginärem und Symbolischem vervollständigt - anders gesagt, die drei Speichermöglichkeiten von Phonographie, Kinematographie und diktiertem Standardbefehl."(192/93)
Es fehlte noch die Kopplung dieser drei Speichermedien "mit technisch-adäquaten Übertragungsmedien, mit Radio, Fernsehen und ihren Kriegszwillingen: Sonar und Radar"(193). So lief denn "die frohe Botschaft des Blitzkrieges von 1939 auf eine neue Technologie hinaus" : UKW. "Den festgefahrenen Stellungskrieg in Schützengräben und Speichermedien löste der Blitzkrieg in Übertragungsmedien ab: Kesselschlachten und Panzerdurchbrüche wurden möglich."(194) Zu beiden aber gehörte "das Verschlüsselungssystem Enigma", um den umfassend gewordenen Funkverkehr vor Interzeption zu schützen. "Seit 1939 fällt der Krieg selber mit seinem Nachrichtennetz zusammen: er ist, wie alsbald jeder Computer auch, das Organigramm aller Adressen, Daten und Befehle. Elektrische Netzwerke aber müssen einfach über elektrische Netzwerke laufen. Deshalb bewaffnete sich der Blitzkrieg, obwohl und weil auf Übertragungsmedien basierend, mit dem unspektakulärsten aller drei Speichermedien. Alle Befehle, Daten, Adressen liefen über Schreibmaschinen, die Enigma und den noch geheimeren Geheimschreiber."
Die Enigma aber bescherte "alle Freuden einer diskreten, nämlich kombinatorischen Mathematik". Jedoch "jede von einem Algorithmus gesteuerte Maschine kann geschlagen, ja überboten werden, vorausgesetzt, daß die Feindmaschine über eine Obermenge von Algorithmen verfügt. Genau das hat den Zweiten Weltkrieg entschieden. Computer waren und sind die strategisch entscheidende Gegenoffensive eines Medienkriegs. Der Zweite Weltkrieg, um es kurz zu machen, konfrontierte einfach zwei Schreibmaschinen."
Die Rolle, die Alan Turing dabei spielte, wird nach der Biographie von Adrew Hodges erörtert.(90) Turings tintenklecksende Handschrift kollidierte an der Public School von Sherborne mit dem noch heute gültigen alten Auftrag von Schulsystemen überhaupt, "durch Adressur einer schönen, zusammenhängenden und individuellen Handschrift Individuen im Wortsinne herzustellen"(195). Schon dort aber wich Turing, "ein Meister im Unterlaufen von Bildung und intellektueller Priesterkaste", aus und entwarf eine »ungemein primitive Schreibmaschine«.(91) Später wurde eine "zum reinen Prinzip abgemagerte Schreibmaschine [...] zum Prototy jedes denkbaren Computers". "Turing-Maschinen sind noch ungemein primitiver als der Sherborner Schreibmaschinenentwurf. [...] Sie kommen, frei nach Boole, mit einem Zeichen und seiner Abwesenheit aus, mit Eins und Null. Diese Binärinformation können sie abtasten und nach einer IF-THEN-Bedingung, die ihre ganze künstliche Intelligenz ausmacht, automatisch ausführen." Das, und noch einige Einzelheiten, "ist alles".
Damit ist eine Schließung vollendet. "Künstliche Intelligenzen von heute laufen schneller, paralleler, nur nicht prinzipiell anders. Mit der Universalen Diskreten Maschine ist das Mediensystem geschlossen. Speicher- und Übertragungsmedien gehen beide in einer Prinzipschaltung auf, die alle anderen Informationsmaschinen simulieren kann, einfach weil sie in jeder einzelnen Programmschleife speichert, überträgt und berechnet. Eine menschenlose Bürokratie übernimmt alle Funktionen, die zur formalen Definition von Intelligenz hinreichend und notwendig sind."(196/97) "Computing, bis 1936 der Name einer menschlichen Fähigkeit, nahm jenen neuen und technischen Wortsinn an, der mittlerweise Weltgeschichte gemacht hat. Künstliche Intelligenzen [...] erobern die Gesamtheit dessen, was sie können. Und das war nicht Naturwissenschaft, sondern Strategie. Gerade daß Finite State Maschinen gegenüber dem physischen oder neurophysiologischen Universum den Vorzug hatten, durchgängig vorhersagbar zu sein, qualifizierte sie für den Krieg. Turing ersetzte die Natur durch den Feind, ein analoges durch ein binäres, die physikalischen Gesetze durch eine Encodierungstechnik, die beobachtbaren Erscheinungen durch abgefangene Botschaften und die Naturkonstanten durch kryptologische Schlüssel."(196) Im Folgenden wird dargestellt, wie im englischen Bletchley Park der kryptoanalytische Einbruch in die deutsche Kriegsmaschinerie möglich wurde.(197 ff). Dessen Voraussetzung war nicht nur die computerisierte Entschlüsselung des Enigma-Codes, sondern die Interzeption und Simulierung der gesamten deutschen Wehrmachtsorganisation und ihres Nachrichtensystems durch Bletchley Park und seine Computer. "Was an Adressen, Daten, Befehlen in der Wehrmacht oder ihrem britischen Simulakrum noch zwischen Menschen und Schreibmaschinen zirkulierte, konnte endlich Hardware werden", als COLOSSUS gebaut wurde. Aber auch "der erste Computer in Wissenschaft- oder Kriegsgeschichte wäre nur eine tonnenschwere Ausgabe der Remington-Schreibmaschine mit Rechenwerk gewesen, hätte er nicht bedingten Sprungbefehlen gehorcht. Bedingte Sprünge, in Babbages unvollendeter Analytic Engine von 1835 erstmals vorgesehen, kamen 1938 in Konrad Zuses Berliner Privatwohnung zur Maschinenwelt, die seitdem mit dem Symbolischen selber eins ist". "An allen Fronten, von der geheimen Kryptoanalyse bis hin zur spektakulärsten Zukunftswaffenoffensive, ging der Zweite Weltkrieg von Menschen oder Soldaten auf Maschinensubjekte über"(199). Nicht viel hätte gefehlt, daß Zuses Binärrechner für die V 2 "schon von Anbeginn an den freien Raketenflug programmiert hätten", denn "die Waffe als Subjekt (oder Subjektil, wie Artaud alsbald formulierte) brauchte das entsprechende Gehirn. Mit der Folge, daß COLOSSUS Sohn auf Sohn gebar, jeder kolossaler noch als der geheime Vater"(199): ACE, ENIAC, EDVAC, BINAC, ATLAS, MANIAC.
Folgen noch Hinweise auf die Verwicklung des Homosexuellen Alan Turing nach Kriegsende in verschärfte geheimdienstliche Sicherheitsbestimmungen nach der Übernahme des kryptoanalytischen Fortschritts durch die USA. (200 ff).