1. Childhood on the Prairies 1911-1928

Herbert Marshall McLuhan wurde am 21. Juli 1911 in der Stadt Edmonton in Kanada geboren. Unter glücklichen Umständen, wie Marchand meint: Edmonton was booming.(4) In einem Jahr war die Bevölkerung um 60 Prozent gewachsen, und in Grundstückparzellen umgewandeltes Prairieland wurde zu fabelhaften Preisen verkauft. Die Hauptstraßen wimmelten von Grundstückhändlern, ihre Agenten versuchten Kunden vom Trottoir in ihre Büros zu ziehen und selbst am Bahnhof waren die Reisenden nicht vor ihnen sicher. Die kurz zuvor gegründete Immobiliengesellschaft McLuhan, Sullivan & McDonald prosperierte, wenn auch nur auf dem Papier.
Die streng baptistischen Eltern seiner Mutter, Elsie geborene Hall, waren Nachkommen eines Engländers aus Bristol, der sich vor 1800 in Nova Scotia angesiedelt hatte - genteel folk devoted to books and education, staunch Baptists, abstainers from tobacco and alcohol, observers of the Sabbath.(1) 1906 verließen die Halls Nova Scotia, um im kanadischen Westen in der Provinz Alberta ein Stück Land zur Beackerung zu begehren. Man lebte dort in einer pioneer community.(2) Vater Henry Seldon war so fromm - der Tag begann mit einem langen Gebet und Bibellesung - wie dominierend und jähzornig: Fußtritte für die Landarbeiter, falls ihm danach war. Die Tochter geriet in schwere Konflikte mit ihm und war voller emotionaler Unruhe, as if the conflict with her father had created a subtle inflammation of her nervous system (2). An der baptistischen Acadia University legte sie ein Examen für Lehrerinnen ab, um in den benachbarten Schuldistriken zu unterrichten. Dabei lernte sie Herbert McLuhan kennen.
Herbert McLuhan und seine Eltern waren von Ontario nach Alberta gezogen. Den Großvater William McClughan hatten 1846 seine Eltern von Nordirland aus in die Kolonien geschickt - nach der Familienlegende eine erzieherische Maßnahme für verkommene Söhne. Das harte Leben der Farmer in Ontario hatte auf den hard-drinking spendthrift den gewünschten Effekt. Dazu gehörte wohl auch die Amerikanisierung seines Namens. Sein Sohn James McLuhan heiratete eine fromme Frau aus Edinburgh, die gut dem Ontario Scottish ethos entsprach, wie es von einem seiner Produkte, John Kenneth Galbraith, beschrieben wird als die gottesfürchtige Religiösität eines inbrünstig betenden Volkes, das aber zugleich durchaus sich um sein Bestes zu kümmern wußte. Die McLuhans galten als gute Methodisten. James McLuhan aber - ohne Schulbildung - hatte den Durst seines Vaters nach belebendem Stoff geerbt - Wissen und Lektüre weltlicher Bücher - als Nahrung für seine ganz große Leidenschaft: heftiges und hitziges Debattieren. In einem Nachruf einer Edmontoner Zeitung nach seinem Tod 1919 wurde er "eine geniale Person" genannt. "He was a man of wide reading, fond of good music, and keenly interested in astronomy".(3)
Das ist der Hintergrund für eine achtundvierzig Jahre später formulierte Charakterisierung seines Enkels Marshall McLuhan durch einen englischen Kritiker, der ihn in die Tradition des populären oder populistischen Weisen einreiht: "the cracker barrel Socrates, the lofty or ribald annunciator of values moral, national, cosmic, ... the frontier publicist travelling the wide land with his grammars, recipe books, shreds of apocalypse and nostrums for spirit and bowels".(4)
James und sein Sohn Herbert begaben sich 1907 nach Alberta. Herbert steckte einen claim von 160 Morgen ab und heiratete 1909 Elsie Hall. Das Leben eines prairie homesteader war sie nicht bereit zu teilen. Ein Prairiewinter, das waren Blizzards und Frost bis zu 40 Grad. It meant surviving on leftover grain and rabbits caught in snare wires and hung up frozen in the shed, if winter work could not be found.(4) Also Edmonton, Grundstückgeschäfte und Seine Geburt als erstes Kind. Er wuchs in der Umgebung von Edmonton in prosperous neighbourhood auf.
1914 war der Boom in Edmonton und für McLuhan, Sullivan & McDonald zu Ende und der Verlust total. Man siedelten um in die Hauptstadt der Provinz Manitoba, Finanz- und Verwaltungszentrum des kanadischen Westens: Winnipeg. Dort lebten die McLuhans in einer Enklave von Schotten und Iren, weit entfernt von den lebendigeren aber weniger respektablen Ghettos der Juden und Ukrainer im Norden der Stadt. Der Vater verkaufte für die North American Life Assurance Company, die Mutter machte eine Ausbildung in öffentlicher Vortragstechnik an der Alice Leone Michell School of Expression, einem Ableger der Emerson School of Oratory in Boston. Um die zwanziger Jahre begann allerdings die Beliebtheit der elocutionary performances von hoher Literatur in kristalliner Diktion und kraftvollem Ausdruck von Gefühlen an Beliebtheit abzunehmen.
In der Prärielandschaft sah der Sohn später ein Antidotum zur konventionellen 'Perspektive' und schrieb ihr machtvolle unbewußte Wirkung auf die Psyche zu. In einem 1974 in Speaking of Winnipeg veröffentlichten Interview bestimmt er die 'Perspektive' des Westlers als die des voralphabetischen Menschen: "The Westerner doesn't have a point of view. He has a vast panorama ... he has at all times a total field of vision, and since he can take this total field at any time, he doesn't have to worry about goals".(5) 'Prairie' war also a kind of "counterenvironment" to the great centers of civilisation. Von den boondocks kommend, sieht der outsider die umgreifenden Muster dessen, was ihn ohne diese Sicht vernichten würde: the overall patterns missed by the inhabitants who have been molded by those patterns.(5)
Zur Jugendlektüre McLuhans gehörte Tom Brown's Schooldays von Thomas Hughes (1822-96). Hier lernte er eine erste harte Kritik am konventionellen Christentum und den Kampf für "Christian Socialism" kennen, ein erneuertes Christentum, das die sozialen und kulturellen Probleme der Industrialisierung zu bewältigen in der Lage wäre. Zugleich konnte er bei solcher Lektüre stundenlang in Tagträumen mit englischen Knaben in gotischen Kapellen Chorgesänge anstimmen und in der englischen Landschaft herumstreifen. Denn seine Mutter war seit 1922 für immer längere Zeiten auf Tournée as an elocutionist and monologist.(7)
Die Beziehung der Eltern verschlechterte sich dadurch zusehends. Die Mutter war stolz auf ihre Abkunft von den English "bluenose" settlers of Nova Scotia und verachtete die irische Herkunft der McLuhans. Durch ihre Ausbildung war sie mit der 'Hochkultur' in Boston in Berührung gekommen; in Ontario, ganz zu schweigen von Winnipeg, sah sie den Tiefpunkt des kulturellen Lebens Kanadas. Ihrem Sohn vertraute sie gelegentlich an, daß der Vater kein 'Mann' sei.
Der konnte nicht ohne sozializing arbeiten. Anekdoten und interessante Neuigkeiten gehörten ebenso zu seinen Verkaufsgesprächen wie zaghafte Versuche, psychologische Kenntnisse zu verwenden. Dafür waren die zwanziger Jahre eine Boom-Periode mit ihren Doktrinen von Emile Coué -"Auf allen Wegen und allen Stegen werd ich besser Tag für Tag" - und Zeitschriftenanzeigen für Dynamic Success Secrets.(8) Auch neigte er dem Mystischen zu und diskutierte mit seinem Sohn gerne über Metaphysik. The Higher Plane war ein Artikel, den er dem lokalen Klub für Psychologie überreichte. Als der Sohn 12 Jahre alt wurde, entdeckten seine Eltern die große Pseudowissenschaft des 19. Jahrhunderts, Phrenologie. In Winnipeg war sie um 1920 durchaus noch aktuell. Beide versuchten, in Kursen die Kunst zu erlernen, Charakter und Fähigkeiten eines Individuums aus seiner Schädelform zu ergründen. Eine Begutachtung Seiner Winzigkeit durch einen zu einem Abendessen geladenen Phrenologen fiel außerordentlich vielversprechend aus.
In den esoterischen Gefilden jedoch, die der Vater erwanderte, kam immer wieder das Grundgestein seines spirituellen Lebens zum Vorschein: die Bibel, wie sie ihn seine Mutter gelehrt hatte. Seine Kinder gingen zu verschiedenen Kirchen - Baptisten, Presbytierianer, Unitarier - und empfingen die 'Erwachsenentaufe' (etwa im Konfirmationsalter). "Seek ye first the Kingdom of God and all these things will be added unto you", war eine seiner Reden. Die Mutter aber zog es in andere Bereiche - Elsie dabbled in Christian Science and Rosicrucianism.(8) Gleichzeitig erweiterte sie ihre elokutionären Tournéen über eine Netzwerk von Kirchen und war damit trotzt der sinkenden Beliebtheit dieser Vorführungen in der neuen Konkurrenz gegenüber Radio und Kino ziemlich erfolgreich. Einer ihrer typischen Vorträge könnte ihre Ein-Frau-Performance der Gerichtszene aus dem Kaufmann von Venedig enthalten haben, sowie einen Monolog mit dem Titel How the Larue Stakes Were Lost, worin ein junger Jockey den ihm sicheren Sieg opfert, um ein Kind zu retten, das von den Pferden zertrampelt zu werden droht, dazu ein playlet mit dem Titel Are You Using Life or Is Life Using You - und dazwischen vielleicht eingestreut einige Einlagen des Kirchenchors oder eines Geigers.(9) Von ihren Einnahmen konnte sie die wegen der geringen Bezüge ihres Mannes mangelhafte Einrichtung des Hauses mit einem Hartholzfußboden und Perserteppichen verbessern.
Auf die Söhne blieb ihre elokutionäre Tätigkeit nicht ohne Einfluß. McLuhans jüngerer Bruder Maurice, wurde später Prediger. Er hingegen lernte ungeheure Mengen an Poesie auswendig, bis er mit den Werken der größten englischen Poeten vertraut war. In seinem Tagebuch beklagt er seine Unfähigkeit, Dichtung wirklich einschätzen zu können und beschließt zur Abhilfe, sich in die Quelle des poetischen Genius selbst, in Miltons Paradise Lost hinabzustürzen, um auswendig zitierend und mit geschärftem Urteil daraus wieder aufzutauchen.(9)
Während der immer öfteren und längeren Tournéen der Mutter vertrieb der Vater seine Zeit, indem er mit den Kindern obskure und interessante Wörter im Wörterbuch nachschlug. Ein Fund wie transubstantiationist wurde mit heller Freude begrüßt. Sein Ältester entwickelte daraus eine Leidenschaft. Ihm konnte, so bemerkte er später, ein einziges Wort interessanter sei als das ganze NASA Raumprogramm. Er legte lange Wortlisten an, versuchte, jeden Tag drei Wörter daraus auswendig zu lernen - Wörter wie scaturient und sesquipedalian - um sie im Gespräch zu benutzen zu können, und brütete später über Etymologien aus dem Oxford English Dictionary, als ob es mystische Runen wären.
Seinem Vater gegenüber nahm er die Einstellung seiner Mutter an. Nach der Sonntagsschule war es des Vaters Gewohnheit, mit seinen Söhnen auf langen Spaziergängen Themen aus der Moral und Philosophie zu besprechen. Später zeigte sich, daß wenn einer der Belehrende war, es Er sein sollte, indem er freizügig Ratschläge offerierte, angefangen von den schädlichen Auswirkungen des Teetrinkens auf die Verdauung bis zu nützlichem Lektürestoff. Sein Vater schien das alles ernstzunehmen und als er später einmal sozialistische Neigungen andeutete, verpaßte ihm sein Sohn der Student a tongue-lashing und bewies ihm in einem eineinhalbstündigen Vortrag nach den Notizen aus seinen Ökonomiestudien die Irrtümer des Marxismus.(12)
Mit seiner Mutter hingegen gab es scharfe Auseinandersetzungen. Ihren Ausbrüchen von Disziplinierungsversuchen begegnete er im Gegensatz zu seinem Bruder mit zunehmend schärferem Widerstand und wachsenden rhetorischen Fähigkeiten. Das bekamen auch die Gäste des Hauses zu spüren, die seiner geistigen und rhetorischen Beweglichkeit nicht gewachsen waren. "The dammed kid from high school", so der Bruder Maurice in einem Interview mit Marchand, forderte sie zum Debattieren heraus, um aus ihnen mincemeat zu machen.(13)
Ein guter Schüler war er deswegen noch nicht. Erst als er im siebten Schulgrad an eine Lehrerin kam, die besonders in englischer Literatur kompetent war, wendete sich das Blatt. Die Art, wie sie ihr Interesse an Literatur den Schülern vermittelte, stimulierte ihn so sehr, daß er von Literatur nie wieder loskam. Seiner Mutter hatte er schon mit seinem hartnäckigen Widerstand imponiert; nun sah sie ihn auf dem von ihr beschrittenen Weg zu noch größerem Ruhm.(13)