In Toronto wurde er von Post und Telephon
belagert. Alle fünf Minuten klingelte es und jemand mußte ihn
sprechen, und sei es nur, um ihm eine Erfindung oder einen Plan für
die Erneuerung des Abendlandes vorzustellen. Doch gab es viele
Helfer, darunter Assistenten, die mit dem Notizbuch in der Hand ihn
wohin auch immer begleiteten, um alles Bedeutende zu notieren, was
der große Mann sagte.(215) Man nannte sie und seine anderen
Assistenten sein Harem. Doch war es nicht groß genug, denn mehrere
Projekte mußten dringendst realisiert werden.
Darunter war die Lancierung von The Marshall
McLuhan DEW-LINE Newsletter mit Eugene Schwarzt. Die
DEW-LINE erschien auf dem Gipfel seiner Berühmtheit und
wurde, wenigstens zunächst, mit echter Neugier von vielen mächtigen
und einflußreichen Leuten aufgenommen. In einer Nummer wurde
McLuhans Prosastil von einem anonymen Autor erklärt als "the
sudden disclosure of previous undetected similarities and
relationships, by eliminating transition and forcing thoughts into
abrupt interfaces with each other."(216) Die größte Neuheit war
dabei ein für fünf Dollar extra angebotenenes Kartenspiel mit einem
Text auf jeder Karte. Die Texte hatte McL selbst geschieben und sie
sollten ein spur-of-the-moment thinking fördern. Der Spieler
hatte an eines seiner Probleme zu denken, eine Karte zu wählen und
dann deren Botschaft auf das Problem anzuwenden. "If you get a
breakthrough in thirty seconds or less", so das Begleitheft,
"you are a top Dew-Liner!"(216) Später beklagte McL sich,
daß Alwin Toffler das Spiel so intensiv gespielt habe, daß daraus
The Future Shock und andere seiner Bücher entstanden seien.
(217) Umgekehrt aber vermehrten sich die Zeichen, daß man von
McLuhan abzufallen begann.
Dazu trug die Ankündigung eines three-day
McLuhan Emergency Strategy Seminar auf dem Bahamas bei, das von
Schwartz für Januar 1970 organisiert wurde und auf 500 Topmanager
limitiert war. Das Seminar sollte die schlimmsten Breakdowns von
Unternehmen, Organisationen, Märkten und Environments untersuchen
und sie in jahrelang ersehnte Breakthroughs umstrukturieren. $500
pro Person, Sprecher waren McLuhan, Buckminster Fuller, Benhard
Muller-Thym, Harley Parker und Barrington Nevitt.(217) Aber McL
bekam von Schwartz kein Honorar für seine Beiträge. Die zu seiner
Vermarktung aufgebaute Human Development Corporation sei, so
damals Schwartz, in Schwiergkeiten. Die DEW-LINE liefe auch
nicht. So verbat sich McL jede Erwähnung von Schwartzs Namen in
seinem Haus.(217)
Weiter drängte ein schon 1963 mit Viking Press
vereinbartes Buch in Zusammenarbeit mit Wilfred Watson. Es sollte
seinen intellektuellen Ruf wiederherstellen, der durch Nicht-Bücher
wie The Medium Is the Massage angekratzt worden war, und
sollte für den Bereich der Literatur das darstellen, was
Understanding Media für Medien und Technologien bedeutete.
Man sollte sehen, daß McLuhan jemand war, der Literatur noch zu
schätzen wußte und seine Bibliothekskarte benutzte. Nebenbei sollte
es seinem alten Feind, Northrop Frye, dessen criticism sich
mit Archetypen herumschlug, einen Schlag versetzen und deutlich
machen, was Archtypen wirklich bedeuteten.
Es ging dabei um den Prozess, durch den die
Technologie und Kultur einer Epoche in künstlerische und
archetypische Formen der nächsten transformiert wurde. Die
alltägliche gegenwärtige Technologie und Kultur einer Epoche wurde
"cliché" genannt - das waren sozusagen commonplaces oder
topoi einer Kultur, die davon so durchdrungen war, daß diese
Klischees nur unterschwellig wirkten und nicht untersucht werden
konnten. Archtypische Formen auf der anderen Seite konnten
aufmerksam auf ihre Bedeutung hin untersucht werden. (218)
Damit solle eine Basisdynamik der menschlichen
Kultur erklärt werden. Hoffnung dazu machte die Mitarbeit von
Watson, einem kanadischer Dichter von großem Witz, umfassender
Bildung und großer Virtuosität. Im akademischen Jahr 1968-69, das
Watson in Toronto verbrachte, begannen eine Reihe von "Dialogen".
McLuhan zog ein Zitat aus einem Aktenordner, Watson gab einen
Kommentar, der dazu paßte oder nicht, und McL machte einen
Kommentar zu dem Kommentar, der sowohl mit dem Zitat wie mit dem
ersten Kommentar gar nichts zu tun hatte. Die Dialoge entwickelten
sich zur großen Verwirrung der Sekretärin zu zwei Monologen. So
fand From Cliché to Archtype seinen Weg zum Verlag. McLuhan
hoffte in einem Schreiben an Frank Kermode, es könnte "a bit of
a blockbuster" werden. Marchand aber meint, daß die Methode,
Gedanken in abrupte Interfaces zueinander zu zwingen, außer
Kontrolle geraten war, so daß brilliante Partien isoliert in einem
Chaos von Unzusammenhängen stünden, und findet es unreadable
(219)
From Cliché to Archetype erschien im Herbst
1970 und im gleichen Jahr kam Culture Is Our Business auf
den Markt, woran McL über zehn Jahre gearbeitet hatte. Es war eine
Wiederaufnahme der Mechanical Bride, die Reproduktionen von
Reklamen waren diesmal aber im typischen Schlagzeilenstil
kommentiert und der Ton moralischer Verdammnis fehlte. Mit
Counterblast, 1969 erschienen, war dann auch der spurt of
books, die McL zwischen 1967 und 1970 veröffentlichte,
ausgelaufen. Mit dem Erscheinen jedes dieser Bücher sank McLuhans
Prestige bei den Intellektuellen ein wenig tiefer, und um 1970
hatten die unendlichen Kommentare über ihn ihren atemlosen
journalistischen Ton verloren und erhielten eine mehr zynische
Färbung. (220)
He had already been "done", sagt
Marchand.(220) 1970 aber erhielt seine Kampagane für
Medienbewußtheit unerwarteten Auftrieb von unerwarteter Seite. In
einem Aufsatz für die American Association for Public Opinion
Research stellte ein research scientist von General Electric
Experimente vor, die McLuhans Behauptung erhärteten, daß TV-Sehen
etwas völlig neues und fundamental anderes sei als jede andere Form
menschlicher Kommunikation - vor allem im Hinblick auf den
Buchdruck.(229)
Herbert Krugmanns Experimente waren unbestreitbar
der seriöseste Versuch, McLuhans Theorien wissenschaftlich zu
testen. Krugmann hatte bei seiner Arbeit mit einer in
Fernsehreklame einschlägigen Werbefirma Interesse an solchen
Experimenten gewonnen. Die Werbung der Firma basierte auf der
Annahme, daß Zuschauer von Fernsehreklamen kleine Fragmente von
Eindrücken aufnehmen, die durch Wiederholung verfestigt werden und
daß dieser Prozeß nichts mit "Denken" zu tun habe. Krugmann
testeste Zuschauerreaktionen, indem er ihre Hirnwellen jeweils in
Reaktion auf Druckerzeugnisse und Fernsehen untersuchte. An einer
Testperson konnte festgestellt werden, daß Druckerzeugnisse
schnelle Wellen erzeugten, Fernsehreklame langsame, egal wie bewegt
das Bild war. So hieß es in Krugmanns Report: "That is, the
basic electrical response of the brain is more to the media than to
content differences with the TV commercials or to what, in
pre-McLuhan days, would ordinarily have been called the commercial
message." (229) Die Reaktion auf Druckerzeugnisse nannte er
"aktiv", die auf das Fernsehen "passiv". Dabei habe
er, so Krugmann, nie McLuhans Thesen verifizieren wollen; er sei
bei seiner Arbeit einfach über sie gestolpert. (229)
Daraus entwickelte sich eine mehrjährige
Korrespondenz zwischen McLuhan und Krugmann. Und McL brauchte den
Segen eines authentic member of the white-coated fraternity
als Antrieb seiner weiteren Projekte. Darunter waren mehrere
Kurzfilme und Videotapes - wie eine Zeitung lesen, wie fernsehen,
wie Malerei verstehen - zur Verwendung in educational
television. (230) Mehr kommerziell orientiert war ein
Fernsehprogramm unter dem Titel Up Against the Wall, in dem
Leute in brennenden Geldnöten, persönlich oder geschäftlich,
interviewt wurden. Auf dem Klimax sollte ihnen ein Scheck in Höhe
der benötigten Summe übereicht werden. Das sei telecast
live. Ein weiteres Projekt hieß PROTHEX und war ein
Deodorant. Prothex sollte illegitimen Körpergeruch verhindern, aber
"legitimate body odor", so Mcls Worte, sollte als wichtiges
olfaktorisches Kommunikationsmittel bewahrt bleiben und nicht wie
von anderen Deodorants mitvernichtet werden.(230)
All diese Projekte und etliche für neue Bücher
zwischen 1970 bis 1971 wurden überschattet von großen
Gesundheitsproblemen. Die internen Karotiden für die Blutzufuhr der
beiden Gehirnhemisphären waren gefährlich verengt. Eine neue
Kopfoperation schien unabwendbar. Nach einer genaueren Untersuchung
stellte sich heraus, daß die Blockade weiterhin bestand, daß aber
die externen Karotiden, die das Blut zu Gesicht, Kopfhaut und
Kiefer führten, riesige kollaterale Verbindungskanäle durch die
Schädelbasis und innerhalb des Schädels ausgebildet hatten. Das
ähnelte dem Arteriensystem im Kopf von Katzen und genügte für die
Blutzufuhr, eine Operation war überflüssig. McL schickte einer
Freundin eine Photokopie von einem Diagramm des Karotidennetzwerkes
eines Tigers mit einem Zitat von William Blake: "What immortal
hand or eye/did bring that novel artery". (231)
Inzwischen, 1971, mußte McL sich über kritische
Breitseiten gegen ihn beklagen. Dazu gehörten zwei Bücher, The
Medium is the Rear View Mirror von Donald Theall und
McLuhan von Jonathan Miller. Beides waren Versuche, seinen
Ruhm zurechtzustutzen. Theall und Miller schienen beide einst
seinen Visionen angehangen zu haben. Theall war ein ehemaliger
Student und Kollege am St.Michael's und hatte mit McLuhan
allerdings schon in den Mittfünzigern vollständig gebrochen. Nun
warf er ihm vor, Medien jenseits der reichen Einsichtsmöglichkeiten
der zeitgenössischen Psychologie und Soziologie zu erforschen. So
hätten die Medien sich zu einer autonomen Macht in der menschlichen
Gesellschaft entwickelt. [KM-»] Gleichzeitig aber folgt Theall
McLuhan mit größter Anerkennung in seinem unablässigem Kampf für
die Anerkennung der außerordentlichen 'seismographischen'
Fähigkeiten des europäischen künstlerischen und literarischen
Avantgardismus in den hochindustrialisierten Ländern, um dann an
dem Punkt seine Kritik anzusetzen, wo McLuhan dieses Erbe den
Medieningenieuren und Programmieren zu vermachen versuchte.
[«-KM]
Thealls Prosa war allerdings nicht von der Art,
seiner Kritik außerhalb eines kleinen akademischen Kreises große
Resonanz zu sichern. In dieser Hinsicht richtete Millers Buch einen
viel größeren Schaden an. Kaum so beschlagen wie Theall, konnte er
McLuhan besser auszählen und forsch-fröhlich dessen "depth"
ignorieren. [KM-»] Eigentlich aber handelte es sich um einen
politischen Tiefschlag, denn Miller beschäftigte sich eingehend mit
McLuhans Beziehungen zu und seiner früheren publizistischen
Tätigkeit für das extrem konservative
South-Agrarian-Mouvement, ohne die strategische Funktion
dieser Parteinahme - McLuhan war ja kein Südstaatler (und auch kein
hartgesottener Texaner, wie Baudrillard meinte) - als Ansatzpunkt
einer totalen Aushebelung der 'westlichen Zivilisation' und deren
Ähnlichkeit in dieser strategischen Hinsicht mit seiner Konversion
zum Katholizismus zu erkennen. Andererseits kommt Miller in seiner
abschließenden Einschätzung des Werkes von McLuhan zu der
merkwürdigen Frage, ob McLuhan nicht in lauter Lügen die Wahrheit
gesagt habe. [«-KM]
McLuhan fühlte sich ursprünglich geschmeichelt,
daß sein ehemaliger Schüler in einer von Fank Kermode
herausgegebenen Buchreihe sein Werk würdigen sollte. Um so
schlimmer, als er erkannte, wie effektiv Millers Attacke war. Wenn
Miller meinen könne, er, McLuhan, sei ein Agent Roms, so doch nur
deswegen, weil Miller einer Moskaus sei. Hier nun griff McL zum
erstenmal in seiner Karriere nicht auf die bewährte Methode zurück,
Angriffe von Feinden durch Repliken von Salven aus seinem
Schlagzeilendepots nicht zu beantworten, sondern sah sich
gezwungen, direkt zurückschlagen. (232)
1972 folgte eine weitere Kreuzfahrt in der Ägeis
joining the likes of Margaret Mead and Arnold Tynbee. In den
neun Jahren seit der letzten Kreuzfahrt hatte sich einiges
geändert. Auf der ersten war McL ein aufgehender Stern, nun begann
er sich überflüssig zu fühlen. Das Interesse für ihn hatte in
Nordamerika nachgelassen.(233)
Um diese Zeit kam die 1968 begonnene Arbeit an
einem Buch über das korporative Management in Zusammenarbeit mit
Barry Nevitt zum Abschluß. Nevitt war als Koautor eines solchen
Buches äußerst geeignet, denn er hatte weltweit für die
Telekommunikationsindustrie gearbeitet. Seit 1963 war er
Regierungsberater und schließlich Direktor für Innovation und
Managementraining für die Ontario Development Corporation gewesen.
Das Buch, das dann als Take Today. The Executive as Dropout
erschien, beschäftigte sich mit den durch elektronische Medien
bewirkten Veränderungen in den Unternehmen. Die alte Hardware -
Gebäude, bürokratische Strukturen, Aktenräume usw. - wurde durch
Software ersetzt - Mikrochips und Verkabelung, die die neue
Informationsumwelt schufen. Spezialisierte Jobs wurden durch
facettenreiches Rollenspiel ersetzt und das vor dem Hintergrund
eines umfassenden Umschlagens zentralisierter
Unternehmensstrukturen in dezentralisierte.
Die Topmanager würden dabei weitgehend den Kontakt
mit ihrer Organisation verlieren und immer mehr von den realen
Vorgängen in den Unternehmen isoliert sein, über die sie
herrschten. Das sechshundertseiten lange Manuskript mußte auf 150
bis 200 Seiten reduziert werden, sagt Marchand ([KM-»] aber das
Buch allein hat knapp 300 Seiten [«-KM]). McLuhan wollte hier all
sein Wissen über die Muster menschlicher Organisationsformen des
20. Jahrhunderts versammeln, und er hoffte, es würde die Funktion
übernehmen, die das enzyklopädische Wissen der alten Sophisten und
Rhetoriker gehabt habe, nämlich swaying the minds of "governors
and executives". (235)
McL wußte, daß es wieder ein Buch geworden war, in
dem jemand, der von vorne nach hinten sich durchzulesen bemühte,
verloren war. Er empfahl, blätternd in es einzutauchen, und falls
Kritik zu herb wurde, schob er die Unzulänglichkeiten wieder auf
seinen Mitarbeiter. Take Today wurde mit knapp 4000
Exemplaren verkauft und von den großen nordamerikanischen Periodika
und Zeitschriften ignoriert. Sein Scheitern signalisierte das Ende
einer Ära.(236) Manager fühlten sich nicht mehr beunruhigt bei dem
Gedanken, daß ein Professor für englische Literatur etwas wüßte,
was sie nicht nicht zu wissen wüßten.