11. Unsold Books 1968-1972

In Toronto wurde er von Post und Telephon belagert. Alle fünf Minuten klingelte es und jemand mußte ihn sprechen, und sei es nur, um ihm eine Erfindung oder einen Plan für die Erneuerung des Abendlandes vorzustellen. Doch gab es viele Helfer, darunter Assistenten, die mit dem Notizbuch in der Hand ihn wohin auch immer begleiteten, um alles Bedeutende zu notieren, was der große Mann sagte.(215) Man nannte sie und seine anderen Assistenten sein Harem. Doch war es nicht groß genug, denn mehrere Projekte mußten dringendst realisiert werden.
Darunter war die Lancierung von The Marshall McLuhan DEW-LINE Newsletter mit Eugene Schwarzt. Die DEW-LINE erschien auf dem Gipfel seiner Berühmtheit und wurde, wenigstens zunächst, mit echter Neugier von vielen mächtigen und einflußreichen Leuten aufgenommen. In einer Nummer wurde McLuhans Prosastil von einem anonymen Autor erklärt als "the sudden disclosure of previous undetected similarities and relationships, by eliminating transition and forcing thoughts into abrupt interfaces with each other."(216) Die größte Neuheit war dabei ein für fünf Dollar extra angebotenenes Kartenspiel mit einem Text auf jeder Karte. Die Texte hatte McL selbst geschieben und sie sollten ein spur-of-the-moment thinking fördern. Der Spieler hatte an eines seiner Probleme zu denken, eine Karte zu wählen und dann deren Botschaft auf das Problem anzuwenden. "If you get a breakthrough in thirty seconds or less", so das Begleitheft, "you are a top Dew-Liner!"(216) Später beklagte McL sich, daß Alwin Toffler das Spiel so intensiv gespielt habe, daß daraus The Future Shock und andere seiner Bücher entstanden seien. (217) Umgekehrt aber vermehrten sich die Zeichen, daß man von McLuhan abzufallen begann.
Dazu trug die Ankündigung eines three-day McLuhan Emergency Strategy Seminar auf dem Bahamas bei, das von Schwartz für Januar 1970 organisiert wurde und auf 500 Topmanager limitiert war. Das Seminar sollte die schlimmsten Breakdowns von Unternehmen, Organisationen, Märkten und Environments untersuchen und sie in jahrelang ersehnte Breakthroughs umstrukturieren. $500 pro Person, Sprecher waren McLuhan, Buckminster Fuller, Benhard Muller-Thym, Harley Parker und Barrington Nevitt.(217) Aber McL bekam von Schwartz kein Honorar für seine Beiträge. Die zu seiner Vermarktung aufgebaute Human Development Corporation sei, so damals Schwartz, in Schwiergkeiten. Die DEW-LINE liefe auch nicht. So verbat sich McL jede Erwähnung von Schwartzs Namen in seinem Haus.(217)
Weiter drängte ein schon 1963 mit Viking Press vereinbartes Buch in Zusammenarbeit mit Wilfred Watson. Es sollte seinen intellektuellen Ruf wiederherstellen, der durch Nicht-Bücher wie The Medium Is the Massage angekratzt worden war, und sollte für den Bereich der Literatur das darstellen, was Understanding Media für Medien und Technologien bedeutete. Man sollte sehen, daß McLuhan jemand war, der Literatur noch zu schätzen wußte und seine Bibliothekskarte benutzte. Nebenbei sollte es seinem alten Feind, Northrop Frye, dessen criticism sich mit Archetypen herumschlug, einen Schlag versetzen und deutlich machen, was Archtypen wirklich bedeuteten.
Es ging dabei um den Prozess, durch den die Technologie und Kultur einer Epoche in künstlerische und archetypische Formen der nächsten transformiert wurde. Die alltägliche gegenwärtige Technologie und Kultur einer Epoche wurde "cliché" genannt - das waren sozusagen commonplaces oder topoi einer Kultur, die davon so durchdrungen war, daß diese Klischees nur unterschwellig wirkten und nicht untersucht werden konnten. Archtypische Formen auf der anderen Seite konnten aufmerksam auf ihre Bedeutung hin untersucht werden. (218)
Damit solle eine Basisdynamik der menschlichen Kultur erklärt werden. Hoffnung dazu machte die Mitarbeit von Watson, einem kanadischer Dichter von großem Witz, umfassender Bildung und großer Virtuosität. Im akademischen Jahr 1968-69, das Watson in Toronto verbrachte, begannen eine Reihe von "Dialogen". McLuhan zog ein Zitat aus einem Aktenordner, Watson gab einen Kommentar, der dazu paßte oder nicht, und McL machte einen Kommentar zu dem Kommentar, der sowohl mit dem Zitat wie mit dem ersten Kommentar gar nichts zu tun hatte. Die Dialoge entwickelten sich zur großen Verwirrung der Sekretärin zu zwei Monologen. So fand From Cliché to Archtype seinen Weg zum Verlag. McLuhan hoffte in einem Schreiben an Frank Kermode, es könnte "a bit of a blockbuster" werden. Marchand aber meint, daß die Methode, Gedanken in abrupte Interfaces zueinander zu zwingen, außer Kontrolle geraten war, so daß brilliante Partien isoliert in einem Chaos von Unzusammenhängen stünden, und findet es unreadable (219)
From Cliché to Archetype erschien im Herbst 1970 und im gleichen Jahr kam Culture Is Our Business auf den Markt, woran McL über zehn Jahre gearbeitet hatte. Es war eine Wiederaufnahme der Mechanical Bride, die Reproduktionen von Reklamen waren diesmal aber im typischen Schlagzeilenstil kommentiert und der Ton moralischer Verdammnis fehlte. Mit Counterblast, 1969 erschienen, war dann auch der spurt of books, die McL zwischen 1967 und 1970 veröffentlichte, ausgelaufen. Mit dem Erscheinen jedes dieser Bücher sank McLuhans Prestige bei den Intellektuellen ein wenig tiefer, und um 1970 hatten die unendlichen Kommentare über ihn ihren atemlosen journalistischen Ton verloren und erhielten eine mehr zynische Färbung. (220)
He had already been "done", sagt Marchand.(220) 1970 aber erhielt seine Kampagane für Medienbewußtheit unerwarteten Auftrieb von unerwarteter Seite. In einem Aufsatz für die American Association for Public Opinion Research stellte ein research scientist von General Electric Experimente vor, die McLuhans Behauptung erhärteten, daß TV-Sehen etwas völlig neues und fundamental anderes sei als jede andere Form menschlicher Kommunikation - vor allem im Hinblick auf den Buchdruck.(229)
Herbert Krugmanns Experimente waren unbestreitbar der seriöseste Versuch, McLuhans Theorien wissenschaftlich zu testen. Krugmann hatte bei seiner Arbeit mit einer in Fernsehreklame einschlägigen Werbefirma Interesse an solchen Experimenten gewonnen. Die Werbung der Firma basierte auf der Annahme, daß Zuschauer von Fernsehreklamen kleine Fragmente von Eindrücken aufnehmen, die durch Wiederholung verfestigt werden und daß dieser Prozeß nichts mit "Denken" zu tun habe. Krugmann testeste Zuschauerreaktionen, indem er ihre Hirnwellen jeweils in Reaktion auf Druckerzeugnisse und Fernsehen untersuchte. An einer Testperson konnte festgestellt werden, daß Druckerzeugnisse schnelle Wellen erzeugten, Fernsehreklame langsame, egal wie bewegt das Bild war. So hieß es in Krugmanns Report: "That is, the basic electrical response of the brain is more to the media than to content differences with the TV commercials or to what, in pre-McLuhan days, would ordinarily have been called the commercial message." (229) Die Reaktion auf Druckerzeugnisse nannte er "aktiv", die auf das Fernsehen "passiv". Dabei habe er, so Krugmann, nie McLuhans Thesen verifizieren wollen; er sei bei seiner Arbeit einfach über sie gestolpert. (229)
Daraus entwickelte sich eine mehrjährige Korrespondenz zwischen McLuhan und Krugmann. Und McL brauchte den Segen eines authentic member of the white-coated fraternity als Antrieb seiner weiteren Projekte. Darunter waren mehrere Kurzfilme und Videotapes - wie eine Zeitung lesen, wie fernsehen, wie Malerei verstehen - zur Verwendung in educational television. (230) Mehr kommerziell orientiert war ein Fernsehprogramm unter dem Titel Up Against the Wall, in dem Leute in brennenden Geldnöten, persönlich oder geschäftlich, interviewt wurden. Auf dem Klimax sollte ihnen ein Scheck in Höhe der benötigten Summe übereicht werden. Das sei telecast live. Ein weiteres Projekt hieß PROTHEX und war ein Deodorant. Prothex sollte illegitimen Körpergeruch verhindern, aber "legitimate body odor", so Mcls Worte, sollte als wichtiges olfaktorisches Kommunikationsmittel bewahrt bleiben und nicht wie von anderen Deodorants mitvernichtet werden.(230)
All diese Projekte und etliche für neue Bücher zwischen 1970 bis 1971 wurden überschattet von großen Gesundheitsproblemen. Die internen Karotiden für die Blutzufuhr der beiden Gehirnhemisphären waren gefährlich verengt. Eine neue Kopfoperation schien unabwendbar. Nach einer genaueren Untersuchung stellte sich heraus, daß die Blockade weiterhin bestand, daß aber die externen Karotiden, die das Blut zu Gesicht, Kopfhaut und Kiefer führten, riesige kollaterale Verbindungskanäle durch die Schädelbasis und innerhalb des Schädels ausgebildet hatten. Das ähnelte dem Arteriensystem im Kopf von Katzen und genügte für die Blutzufuhr, eine Operation war überflüssig. McL schickte einer Freundin eine Photokopie von einem Diagramm des Karotidennetzwerkes eines Tigers mit einem Zitat von William Blake: "What immortal hand or eye/did bring that novel artery". (231)
Inzwischen, 1971, mußte McL sich über kritische Breitseiten gegen ihn beklagen. Dazu gehörten zwei Bücher, The Medium is the Rear View Mirror von Donald Theall und McLuhan von Jonathan Miller. Beides waren Versuche, seinen Ruhm zurechtzustutzen. Theall und Miller schienen beide einst seinen Visionen angehangen zu haben. Theall war ein ehemaliger Student und Kollege am St.Michael's und hatte mit McLuhan allerdings schon in den Mittfünzigern vollständig gebrochen. Nun warf er ihm vor, Medien jenseits der reichen Einsichtsmöglichkeiten der zeitgenössischen Psychologie und Soziologie zu erforschen. So hätten die Medien sich zu einer autonomen Macht in der menschlichen Gesellschaft entwickelt. [KM-»] Gleichzeitig aber folgt Theall McLuhan mit größter Anerkennung in seinem unablässigem Kampf für die Anerkennung der außerordentlichen 'seismographischen' Fähigkeiten des europäischen künstlerischen und literarischen Avantgardismus in den hochindustrialisierten Ländern, um dann an dem Punkt seine Kritik anzusetzen, wo McLuhan dieses Erbe den Medieningenieuren und Programmieren zu vermachen versuchte. [«-KM]
Thealls Prosa war allerdings nicht von der Art, seiner Kritik außerhalb eines kleinen akademischen Kreises große Resonanz zu sichern. In dieser Hinsicht richtete Millers Buch einen viel größeren Schaden an. Kaum so beschlagen wie Theall, konnte er McLuhan besser auszählen und forsch-fröhlich dessen "depth" ignorieren. [KM-»] Eigentlich aber handelte es sich um einen politischen Tiefschlag, denn Miller beschäftigte sich eingehend mit McLuhans Beziehungen zu und seiner früheren publizistischen Tätigkeit für das extrem konservative South-Agrarian-Mouvement, ohne die strategische Funktion dieser Parteinahme - McLuhan war ja kein Südstaatler (und auch kein hartgesottener Texaner, wie Baudrillard meinte) - als Ansatzpunkt einer totalen Aushebelung der 'westlichen Zivilisation' und deren Ähnlichkeit in dieser strategischen Hinsicht mit seiner Konversion zum Katholizismus zu erkennen. Andererseits kommt Miller in seiner abschließenden Einschätzung des Werkes von McLuhan zu der merkwürdigen Frage, ob McLuhan nicht in lauter Lügen die Wahrheit gesagt habe. [«-KM]
McLuhan fühlte sich ursprünglich geschmeichelt, daß sein ehemaliger Schüler in einer von Fank Kermode herausgegebenen Buchreihe sein Werk würdigen sollte. Um so schlimmer, als er erkannte, wie effektiv Millers Attacke war. Wenn Miller meinen könne, er, McLuhan, sei ein Agent Roms, so doch nur deswegen, weil Miller einer Moskaus sei. Hier nun griff McL zum erstenmal in seiner Karriere nicht auf die bewährte Methode zurück, Angriffe von Feinden durch Repliken von Salven aus seinem Schlagzeilendepots nicht zu beantworten, sondern sah sich gezwungen, direkt zurückschlagen. (232)
1972 folgte eine weitere Kreuzfahrt in der Ägeis joining the likes of Margaret Mead and Arnold Tynbee. In den neun Jahren seit der letzten Kreuzfahrt hatte sich einiges geändert. Auf der ersten war McL ein aufgehender Stern, nun begann er sich überflüssig zu fühlen. Das Interesse für ihn hatte in Nordamerika nachgelassen.(233)
Um diese Zeit kam die 1968 begonnene Arbeit an einem Buch über das korporative Management in Zusammenarbeit mit Barry Nevitt zum Abschluß. Nevitt war als Koautor eines solchen Buches äußerst geeignet, denn er hatte weltweit für die Telekommunikationsindustrie gearbeitet. Seit 1963 war er Regierungsberater und schließlich Direktor für Innovation und Managementraining für die Ontario Development Corporation gewesen. Das Buch, das dann als Take Today. The Executive as Dropout erschien, beschäftigte sich mit den durch elektronische Medien bewirkten Veränderungen in den Unternehmen. Die alte Hardware - Gebäude, bürokratische Strukturen, Aktenräume usw. - wurde durch Software ersetzt - Mikrochips und Verkabelung, die die neue Informationsumwelt schufen. Spezialisierte Jobs wurden durch facettenreiches Rollenspiel ersetzt und das vor dem Hintergrund eines umfassenden Umschlagens zentralisierter Unternehmensstrukturen in dezentralisierte.
Die Topmanager würden dabei weitgehend den Kontakt mit ihrer Organisation verlieren und immer mehr von den realen Vorgängen in den Unternehmen isoliert sein, über die sie herrschten. Das sechshundertseiten lange Manuskript mußte auf 150 bis 200 Seiten reduziert werden, sagt Marchand ([KM-»] aber das Buch allein hat knapp 300 Seiten [«-KM]). McLuhan wollte hier all sein Wissen über die Muster menschlicher Organisationsformen des 20. Jahrhunderts versammeln, und er hoffte, es würde die Funktion übernehmen, die das enzyklopädische Wissen der alten Sophisten und Rhetoriker gehabt habe, nämlich swaying the minds of "governors and executives". (235)
McL wußte, daß es wieder ein Buch geworden war, in dem jemand, der von vorne nach hinten sich durchzulesen bemühte, verloren war. Er empfahl, blätternd in es einzutauchen, und falls Kritik zu herb wurde, schob er die Unzulänglichkeiten wieder auf seinen Mitarbeiter. Take Today wurde mit knapp 4000 Exemplaren verkauft und von den großen nordamerikanischen Periodika und Zeitschriften ignoriert. Sein Scheitern signalisierte das Ende einer Ära.(236) Manager fühlten sich nicht mehr beunruhigt bei dem Gedanken, daß ein Professor für englische Literatur etwas wüßte, was sie nicht nicht zu wissen wüßten.