7. The Discovery of Communications 1951-1958

In den Jahren direkt nach der Publikation von The Mechanical Bride erschien McLuhan wie ein hochgezüchtetes Vollblut, fast zu Tode trainiert, aber noch nicht ins Rennen gekommen. Pound gegenüber nannte er sich 1951 "einen intellektuellen Schläger" auf dem Sprung, der Welt seine Erkenntnisse vor den Latz zu knallen. Das Schlachtfeld sollte aber nicht mehr literary criticism sein; denn er hatte die Technologie entdeckt, [KM-»] oder wiederentdeckt, nämlich eine solche, die jenseits der Industrialisierung als allermodernste zugleich an die arkane elisabethanische Überlieferung zurückgebunden werden konnte [«-KM] . Pound gegenüber beklagte McLuhan sein Mißgeschick, englische Literatur als Fachgebiet gewählt zu haben. Er war auf die Werke von Harold Adam Innis gestoßen. (111)
Innis war Professor für politische Ökonomie und hatte vor dem zweiten Weltkrieg zwei wichtige Bücher über kanadische Wirtschaftsgeschichte geschrieben. The Fur Trade in Canada und The Cod Fisheries. Die ökonomischen Dynamik von Biberpelzen und getrocknetem Kabeljau behandelte er mit einer Art poetischer Sensitivität und historischer Imaginationsfähigkeit, die ihm ermöglichte, zu zeigen wie so scheinbar bedeutungslose Produktionszweige eine Gesellschaft verändern konnten. Schließlich wandte er sich in McLs Worten "from the trade-routes of the external world to the trade-routes of the mind". Über seine Forschungen zu einem anderen bedeutenden kanadischen Erzeugnis, pulp and paper, und dessen Verbindung mit Zeitungsdruck und Papierherstellung gelangte Innis zu der Überzeugung, daß Kommunikationsmedien die wahre Ware waren.
Er entdeckte dabei neue Zusammenhänge zwischen dem Aufkommen von Kommunikationstechnologien und veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmungsformen: so den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Zeitungsindustrie und dem Verlust der historischen Koninuität einer lebendigen mündlichen Tradition, oder den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des Radios in seinem halböffentlichem Charakter und dem Anwachsen von Regierungskontrolle und verstärkter Zentralisierung. 1950 publizierte er mit Empire and Communications eine epische Studie über die Weltreiche seit dem alten Ägypten und die sie prägenden Kommunikationsmodi. "A change in the type of medium implies a change in the type of appraisal and hence makes it difficult for one civilization to understand another", schrieb er dort im Vorwort. (112)
1951, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte er dann The Bias of Communication, worin er durch die Geschichte des Abendlandes "the implications of the media of communication for the character of knowledge" verfolgte. Er machte eine Grundunterscheidung zwischen solchen Medien, die Kontinuität in der Zeit - Stein und Tontafeln -, und solchen, die Ausdehnung im Raum förderten - Papyrus und Papier.
Eine Zivilisation, die auf Tontafeln und Keilschrift basierte, war in ihrer Ausdehnung begrenzt und durch religiöse und moralische Vorstellungen von fast zeitloser Dauer geprägt. Papyrus auf der anderen Seite förderte aufgrund seiner leichten Transportierbarkeit das räumliche Wachsen von Großreichen und die Entwicklung säkularer Bereiche wie Gesetzgebung, Verwaltung und Politik - so im Römischen Reich -, verlieh aber gleichzeitig allen Botschaften den Charakter von Unmittelbarkeit und Hinfälligkeit. (113)
Dem lag eine noch tiefere Spaltung zugrunde. Das am stärksten zeitorientierte Kommunikationsmedium war die Sprache, deren Beschränkung auf den Raum ihrer Hörbarkeit zur memorisierenden Überlieferung uralter Tradition von Generation zu Generation zwang. Der grundlegende Konflikt von Zeit- und Raumorientierung enstand erst mit dem Aufkommen der Schrift. Das war der erste Schlag gegen die magische, inkantatorische Kraft des gesprochenen Wortes, gegen die Tradition der Alten und gegen ihre sakrale Autorität. Im Gefolge der Schrift kamen dann Wissenschaft, Säkularisierung und die Herrschaft über den Raum statt des Lebens in einer raumlosen Zeitdauer. (112/13) [KM-»] Dabei sah Innis wohl 'Zeit' als Raumzeit und 'Raum' als Zeitraum. [«-KM]
Allerdings sah Innis in den Kommunikationsmedien keine Extensionen der menschlichen Sinne oder des menschlichen Körpers. Auch war bei ihm kein Hinweis darauf zu finden, daß Medien unbewußt die menschliche Wahrnehmung verzerren könnten, indem sie einen Sinn auf Kosten der anderen intensivierten. Ihn interessierte eher, wie Institutionen sich verschiedener Kommunikationsmedien bedienten, um Wissensmonopole aufzubauen - die ägyptische Priesterkaste der Hieroglyphen in Stein, die mittelalterliche Kirche der Pergamentbücher. Die großen historischen Konflikte bestanden in dem Kampf von Institutionen mittels rivalisierender Kommunikationsmedien. (113)
Dennoch war McL von niemandem seit F.R.Leavis so stimuliert worden wie von Innis, diesem "extra boost", der ihn in die Medienforschung jagte. "Harold Innis is the real freak". Denn Innis hatte alles offen gelassen für eine dritte Phase seiner Mediengeschichte, in der mit allermodernster Technik der uranfängliche Zustand vor Ankunft der Schrift wiederstellbar wäre. "How did that hick Baptist ever come up with this amazing method of studying the effects of technology?", fragte sich McLuhan 1971 in Maclean. [KM-»] Die Frage mußte jemand stellen, der in The Gutenberg Galaxy eine radikale Kritik der Visualisierung durch Verschriftlichung implizit als Verstoß gegen das (protestantische) Verbot der Bildvergötzung ausgesprochen hatte, so daß der Bildseher par excellence, der Fernsehzuschauer, auch den Hauch eines Bildes, an dem er sich ergötzen könnte, nur um den Preis zu sehen bekam, daß er die Lücken zwischen den unzähligen Bildpunkten des Bildschirms in totaler Verausgabung der pattern recognition 'büßen' mußte. Wenigstens steht dem posthum veröffentlichen Idea File von Innis das paradoxierte Bildverbot wie ein Motto seiner Arbeit voran: "Thou shalt not worship any graven image - not interpreted to mean the printed word or those words themselves." Das schriftlich fixierte biblische Gebot war seine eigene Übertretung. [«-KM]
Um Sein Großes Werk vorzubereiten, mußte McLuhan, so ein Brief an Pound von 1951, die Basisstruktur von zwanzig bedeutenderen Disziplinen absorbieren. So würde er über die gesamte moderne Wissenschaft und Technologie verfügen. Von Innis' Fokussierung der Kommunikationsmedien ausgehend, würde er den große Versuch Giedions erneuern und zeigen, wie die Mechanisierung die menschliche Sensiblität verändert habe.
McLuhan hätte gerne Innis zu diesem Werk herangezogen. So schlug er ihm die Einrichtung einer newsletter unter dem Namen Network vor, die an einige Dutzend Leute aus verschiedenen Wissenschaftsfeldern versandt werden sollte. Durch die Offenlegung der grundlegenden "grammatic and general language" der verschiedenen Disziplinen sollte ein umfassender Dialog jenseits des Geschwätzes der akademischen Vierteljahrszeitschriften entzündet werden.
Innis war interessiert. Trotz seiner anfänglich Abscheu vor McLs Konservatismus - Innis war ein klassischer Liberaler, der kaum McLuhans Unterstützung solcher Gestalten wie General Franco ertragen konnte - war er nicht unempfänglich für dessen Behauptung, daß Künstler der besten Einblicke in die Effekte von Technologien und Kommunikationsmedien fähig seien. So führte McL ihn nicht nur zu Mallarmés symbolistischer Auffassung der Form der Zeitung als 'Montage', sondern auch zu der "ideogrammatischen" Methode Pounds. Vielleicht zeigt sich in The Bias of Communication dieser Einfluß, denn dort hatte Innis einige der Essays aus Exzerpten von Karteikarten zusammenmontiert. Ein ganzer Abschnitt eines Buches wurde in einen einzigen Satz kondensiert und neben eine ähnliche Sentenz zu einem anderen Buch gesetzt. Innis' Tod im Jahre 1957 aber machte der Zusammenarbeit ein Ende. Im Streit um das Innis-Erbe warfen vor allem kanadische Marxisten McL Verzerrungen in der Innis-Interpretation vor. (115)
Nicht lange nach Innis Tod wurde McL von einem nahen Freund aus dem anthropolischen Department der Universität von Toronto, Edmund Carpenter, auf 50.000 Dollar hingewiesen, die die Behavioral Science Division der Ford Foundation für ein zweijähriges interdisziplinäres Forschungsprojekt bereitgestellt hatte. Carpenter war damals ein junger intellektueller Schlägertyp nach McLs Herzen. Seine Vorlesungen waren am Campus genauso berüchtigt wie die McLuhans. Es ergab sich zwangsweise, daß beide zu fellow outcasts in league against the rest of the university wurden.(116) Auch war Carpenter von einer diabolischen Aura, a whiff of wickedness umgeben und sollte eine außerordentlich umfangreiche Buchsammlung über Satan und Satanismus in Kanada angelegt haben. Dabei war es nur eine erstklassige Bibliothek über schwarze Magie gewesen.
Carpenter und McLuhan übergaben der Ford Foundation ein proposal mit dem Titel "Changing Patterns of Language and Behaviour and the New Media of Communication." Unter Berufung auf Innis wurde auf die weitgreifenden sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen hingewiesen, die von dem Eindringen neuer Kommunikationsmedien ausglöst wurden. Die Neuen Medien Fernsehen, Radio und Film würden die Gesellschaft radikal umformen; eine "neue Sprache" war geschaffen, denn die Kommunikationsmedien waren selbst Sprachen oder Kunstformen, eine Behauptung, bei der McL auch seine neue Bekanntschaft mit den Arbeiten von Edward Sapir und Benjamin Whorf im Kopf hatte. Das McLuhan-Capenter-Proposal stellte schließlich fest, daß ihre Auffassung von Sprache und Medien als Kunstform - also als Instrument der Fokussierung von Perzeptionen - ihnen einen Vorteil vor allen anderen akademischen Kommunikationsforschungen gäbe, da diese sich auf information engineering beschränkten.
Am 19. Mai 1953 kam von der Ford Foundation die Nachricht, daß die McLuhan-Carpenter Gruppe den interdisziplinären competition jackpot gezogen habe. Im Sommer versammelte McL seine Gruppe: Carpenter, sein alter Debattier-Sparring-Partner Tom Easterbrook, jetzt Ökonomieprofessor in Toronto, Carl Williams, ein Psychologieprofessor und Jacqueline Tyrwhitt, Professorin für Architektur und Stadtplanung und eine Helferin von Sigfried Giedion.
Jedes Mitglied faßte die Entwicklung seines Forschungsgebietes über die letzten hundert Jahre zusammen und McL interpretierte diese Zusammenfassungen als Bestätigung dafür, daß gegenwärtig eine grundlegende Einheit in allen Ansätzen der bedeutenden Disziplinen zu erkennen sei. Es gab keine Spaltung mehr zwischen Wissenschaft und Kunst, denn beide basierten auf dem Drama menschlicher Erkenntnis. Er hoffte, die Ergebnisse ihrer Arbeit würden der Welt ein Signal sein, daß die Ära des Spezialistentums zuende und eine neue, wie man heute sagen würde holistische Sicht der Dinge möglich sei. (118)
Von Anfang an gab es Schwierigkeiten. McL konnte konstitutionell keine Fakten zulassen, die den Glanz einer guten Story dämpften. Fakten beeindruckten ihn nur als Brennstoff für seinen intellektuellen Reaktor zur Freisetzung von geistiger Energie. Er entschied sich, seinen alten Traum zu realisieren und ein Periodical mit den Resultaten der Arbeiten der Gruppe zu lancieren. Dieser Funke sollte weitere Mitarbeit anfachen. Ohne die Energie Carpenters, der ein hervorragender Herausgeber war, wäre allerdings nichts draus geworden. Währen Er meistens in seinem Büro saß mit gefährlich hohen Bücherstapeln auf jeder Fläche und Tausenden von Papieren in jedem Buch, organisierte Carpenter Beiträge von einer erstaunlichen Reihe von Gelehrten und Wissenschaftlern: David Riesman, Sigfried Giedion, Hans Seyle (mit einem hochtechnischen Beitrag über die Physiologie des Stresses), Jacques Maritain, Ashley Montagu, Jean Piaget und selbst H.Northrop Frye. Robert Graves, Jorge Luis Borges und e.e. cummings waren einiger der literarischen Leuchten, die zusätzlich in Explorations, so der Name des Blattes, erschienen.
In dem wöchentlichen Seminar, das von der Ford Foundation gefordert war, ging man von Innis Theorien aus, um Kunst und Literatur in sie einzubeziehen. Die Analogie zwischen einem Gedicht und einem Medium wurde von McL außerordentlich eng gefaßt. Beide würden sich dem Leser/Zuhörer/Zuschauer nicht mitteilen sondern sich ihm 'implementieren'. [KM-»] Dasselbe galt natürlich für die Erkenntnis der analogen Wirkungsformen von Kunst und Medien selbst. Analogische Erkenntnis war sozusagen erleuchtete Perzeption ohne reflexive Selbsteinmischung des Subjekts. [«-KM]
McLuhans erster Artikel in Explorations mit dem Titel Culture Without Literacy nannte seine neue Methode "observation minus ideas". Damit war die völlige Ausschaltung jeder reflektierenden Einmischung des Subjekts einer Erkenntnis in den Prozeß ihrer Entstehung gemeint. Um das zu verdeutlichen, verglich McL 1969 in einem Playboy-Interview diesen Prozeß mit dem Knacken eines Safes: "I don't know what's inside [the safe]; maybe it's nothing. I just sit down and start to work. I grope, I listen, I test, I accept and discard; I try out different sequences - until the tumblers fall and the door springs open." (121)
Das war die Methode des Sondierens, the method of the "probe", als die er später seine intellektuellen Explorationen kennzeichnete. Natürlich war der Artikel nicht ganz ohne Vorannahmen. Aber er markierte einen Angelpunkt, denn hier hatte er jede Art von moralischer Kritik abgestreift. Die Sinnlosigkeit moralischer Entrüstung erklärte er damit, daß in der Zeit, wo man sich über eine Situation aufrege, diese sich schon weiter verändert habe. Oder er meinte, eine persönliche Meinung gegenüber technologischem Wandel als einer Naturgewalt sei lächerlich. Moralische und emotionale Entrüstung sei nur Selbstverhätschelung derjenigen, die zum Handeln oder Verstehen zu schwach seien. Angst sei eine intellektuelle Aktivität, die zum Überleben der Species in dieser Zeit notwendig sei.
Culture Without Literacy steht auf dem thomistischen Standpunkt, daß die Welt grundsätzlich kohärent sei; der instantane Charakter der modernen Kommunikationsmedien jedoch habe ihr den Anschein von Irrationalität gegeben. Wie die Stammesmenschen werden wir mit Eindrücken bombardiert, die sich nicht auf logische oder literate Art zusammenfügen. Um die grundlegende Kohärenz der Welt zu verstehen, müssen wir die allgemeine Grammatik von Wissenschaft u n d Kunst lernen. So werden wir nicht nur eine neue Kohärenz wiederfinden sondern auch unsere Kultur unglaublich bereichern. (122)
Die Geschichte des Abendlandes wird in diesem Artikel kurz in Medienbegriffen zusammengefaßt: Mit der Erfindung der Schrift, vor allem des phonetischen Alphabets war die primitive Magie des gesprochenen Wortes, durch die eine abwesende Realität in dem bloßen Stimmklang des Sprechers beschworen wurde, für immer zerbrochen. Das phonetische Alphabet übersetzte oder transformierte das gesprochene Wort in abstrakte, bedeutungslose visuelle Symbole für abstrakte bedeutungslose Töne. Das Wort wurde in ein bloßes Zeichen oder Etikett umgewandelt. Die Menschen erreichten eine Art von psychischer Distanzierung von ihren sinnlichen Wahrnehmungen. Letztlich machte das phonetische Alphabet logische Analyse und Bürokratie möglich.
Im Mittelalter wurden die Effekte des phonetischen Alphabets in gewissem Grad durch die Manuskriptform ausbalanciert. Mönche lasen ihre Bücher nicht im Stillen, wie wir unsere gedruckten Bücher; sie murmelten sie eher, Wort um Wort und memorisierten dadurch. Gutenbergs Erfindung aber änderte alles auf katastrophische Weise. Wie McLuhan später dem Playboy erklärte: "If the phonetic alphabet fell like a bombshell on tribal man, the printing press hit him like a 100-megaton H-bomb." Diese Erfindung war die erste Anwendung von Fließband- und Massenproduktionstechniken auf ein Handwerk, und ihr Produkt war uniform, hochgradig sequentiell und noch mehr vom Hörbaren getrennt als das Manuskript, da Bücher viel schneller und schweigend gelesen wurde. Das bedeutete einen ungeheuren Sieg für das Abstrakte, Mechanistische und Visuelle. Zugleich versetzt uns die Druckform in eine Art hypnotische Trance, so daß wir nicht die Effekte oder die 'Sprache' der neuen Kommunikationsmedien erkennen können. (122)
Der nächste Schritt der Ausarbeitung dieser These war die Entfaltung der Vorstellung des sensorischen Raumes. Unser Konzept von 'Raum' sei fast ausschließlich visuell und umfasse die Welt der sichtbaren Dinge wie ein Lagerschuppen, wo alles sein Platz und nichts miteinander zu tun habe. Dann kann eine windgefurchte Tundra nur als leer emfpunden werden. Wird 'Raum' jedoch als eine von Tönen erschaffene Welt betrachtet, gibt es keine festen Grenzen mehr, kein Zentrum und fast keinen Richtungssinn. Um eine Ecke kann man nur hören, nicht sehen, so wie man mit verbundene Augen nicht sagen kann, ob ein Ton von vorn oder hinten, oben oder unten kommt. Dieser akustische Raum ist viel unmittelbarer mit dem Nervensystem verbunden als alles Visuelle: ein Alarmton, z.B. eine Krankenwagensirene, übe einen viel stärkeren Schock auf das Nervensystem aus als der Anblick des Krankenwagens. (123/24)
Die Vorstellung des akustischen Raumes tauchte zuerst auf, als Jacqueline Tyrwhitt Sigfried Giedions The Beginning of Architecture im Seminar diskutierte. Laut Giedion hätten die Römer als erste einen mehr oder weniger visuellen Raum geschaffen, indem sie einen Torbogen in ein Rechteck eingeschlossen hätten. Voher hätte niemand Raum als etwas in einer Struktur Eingeschlossenes empfunden, als statische und visualisierbare Quantität.(124)
So hatte McLuhan ein Allzweckwerkzeug entwickelt, das er bis zum Ende seiner Karriere benutzten konnte. "Visual space" wurde mit "linear", "sequentiell" und "druck-orientiert", "logisch", "kontinuierlich" und so weiter assoziiert. Akustischer Raum hingegen war zweidimensional und rief das reichste Wechselspiel der Sinne hervor. Es war der Raum der elektrischen Welt, in dem die Menschen von allen Seiten durch Zufallsexplosionen von Informationen - man könnte auch sagen, von Explosionen aus Kontingenzen -getroffen und erschüttert wurden. Zugleich war es der Raum der "most eminent form of rational awareness, the analogical", denn Analogien können ebensowenig visualisiert oder räumlich vermessen werden wie Sound.
Jeder von McLuhan bevorzugte künstlerische oder wissenschaftliche Ansatz erhielt die Auszeichnung 'akustisch' oder "audile-tactile". So war die Untersuchung von Strukturen oder von Effekten allein schon 'akustisch'. Kunst war 'akustisch'. Seine entscheidende Entdekung sah McLuhan darin, daß die abendländische Menschheit in diesen resonierenden und nicht mehr räsonnierenden Raum als city of inclusive awareness heimzukehren im Begriff sei, dreitausend Jahre nachdem das phonetische Alphabet sie unter dem Fluch der Schrift und ihrer Sichtbarkeit ins Exil gebracht hatte.
Von 1955 an kategorisierte McLuhan rücksichts- und schonungslos Dinge, Philosophien und Einstellungen in Begriffen der sensorischer Ausrichtung. Theoretisch schuf jeder der fünf Sinne 'Räume' oder biases oder Formen von Energie. In der Praxis aber waren da nur zwei grundlegende sensorische Räume oder Ausrichtungen, der visuelle und der audile-tactile oder akustische. Man wußte, wer jemand war, nicht wenn man wußte, was er dachte, sondern welchen Sinn er favorisierte. (124)
Weiterhin diente das Ford-Foundation-Seminar der Erforschung der Wirkung von Medien unabhängig von dem Inhalt, den sie übermittelten. 1954 wurden Experimente mit studentischen Testgruppen angestellt. Eine Gruppe bekam einen Text zu lesen, einen andere hörte ihn im Radio, einer dritten wurde er über Fernsehen übermittelt, eine vierte hörte ihn in einem Fensehstudio. Danach wurden die Gruppen einem Examen unterzogen, das Verständnis und Haftbarkeit des Textes testete. Zwanzig Mitglieder der Forschergruppe, hochliteralisiert, setzten auf das Buch. Aber die Testgruppe vor dem Fernseher schnitt am besten ab.(125) New York Times brachte am 4. März 1954 : "VIDEO BEST TEACHER, RESEARCHERS FIND". Man begann McLuhan und die Seinen als Apostel der Röhre oder Tube zu sehen.
1954 reisten die fünf Häuplinge des Seminars zu einer Konferenz über Culture and Communications an der Univeristät von Louisville, an der solche Glanzlichter wie Margaret Mead und S.I.Hayakawa teilnahmen. In seinem Vortrag wiederholte McL seine Hauptthesen. Schreiben war eine Metapher, insofern es Sound in Sight übersetzte. Druck war die Massenproduktion von Schreiben. Jede Form von Kommunikation in unserer Zeit war durch Technologie so lange durchsetzt worden, bis es keine Möglichkeit mehr gab, diese durch und durch von uns geschaffene Welt zu untersuchen außer in der Weise in der die Primitiven i h r e r Welt begegneten, das heißt als Einwohner eines kollektiven allumfassenden Environments.(125) In solcher Welt war das Schulzimmer obsolet geworden. Die Jugendlichen sowie ihre Eltern mußten kompetente Kritiker des Radios, des Fernsehens und anderer Medien werden, gewissermaßen New New Critics. Sie hatten es mit einem totalen Environment zu tun, einem Environment, das durch und durch Kunst war, da alles von Menschenhand geschaffen war.
April 1955 fand das letzte Treffen des Semiars statt. McL war damit nicht unzufrieden. Den Bericht an die Foundation schloß er mit der Bemerkung ab, daß die meisten Mitglieder der Gruppe auf Grund ihrer Spezialisierung eine Art gegenseitiger Spionage befürchteten. In der Tat hatten die Teilnehmer des Seminars niemals richtig miteinander geredet. Jeder der fünf Professoren begegnete den Vorträgen der anderen mit milder Mißachtung, und niemand wagte, den Stier bei den Hörner zu packen und die Situation selbst zu bearbeiten. So war McLuhan die Seele des Seminars gewesen, wenn es denn eine besessen hatte. Carpenter erinnert sich, daß, wenn er nicht dabei war, irgendein trockenes akademisches Ding losging, und wenn Er dabei war, er alles beherrschte.
Was die Torontoer Fakultätsmitglieder anbetraf, befestigte das Seminar McLuhans Status als Outcast. So schien ihm Explorations der Schlüssel zu sein, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Er fand einen Sponsor. Schließlich waren neun Ausgaben von Explorations mit je tausend Exemplaren erschienen, die letzte 1959. Sicher illustrierten nicht alle Artikel, auch nicht die besten, irgend so etwas wie "common language and grammar" unter den Wissenschaften. Sie versahen McL aber mit wundervollem Material für seine insights. So ermöglichte ihm der englische Wissenschaftler H.J.Chaytor z.B. einen Einblick in die mittelalterliche Manuskriptkultur unter dem Titel Reading and Writing.(127)
Noch wichtiger war ein Artikel seines ehemaligen Schülers Walter Ong mit dem Titel Space and Intellect in Renaissance Symbolism. Dieser Artikel - die Frucht eines früheren Hinweises McLs auf Peter Ramus - solle nun zum Schlüssel seiner eigenen Darstellung der abendländischen Zivilisation werden. Ong versuchte zu klären, warum Mathematik und Physik nur zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aufgetaucht waren, nämlich in Westeuropa am Ende des Mittelalters. Seine Antwort erklärte Mathematik und Physik zum Ergebnis eines umfassenden Visualisierungsprozesses durch den Buchdruck: "the central operation in visualizing knowledge was the exploitation of letterpress printing." (127)
Explorations bewirkte außerdem einen embryonalen McLuhan-Kult, der mit der Verbreitung der Zeitschrift ständig zunahm. Für viele, die McLuhan damals entdeckten, ohne es zugeben zu wollen, sprach 1965 Neil Compton in Commentary unter dem Titel Cool Revolution: "I have been shamelessly pilfering his work for years, and others have been doing it too: it is easy for a practiced eye to discern little bits of McLuhan nestling like fossils in the gritty prose of many a literary critic or sociologist." (127) [KM-»] Ob nun beraubt oder selbst fremdes Schreiben infiltrierend: McLuhan wurde langsam selbst zu einem Environment. [«-KM]
In New York befand sich unter McLs Proselyten ein Jesuit von der Fordham University namens John Culkin, der sein key promoter in den Sechzigern werden sollte. Nach 1956 nannte er sich einen "closet scholar of McLuhans work". Er erinnert sich an akademische Konferenzen in den späten Fünzigern und frühen Sechzigern: "In those days we few card-carrying McLuhanites would seek each other out at such gatherings to swap anecdotes, ideas and self-congratulations." (128)
Einige seiner Schriften aus Explorations benutzte McL zu einer ungewöhnlichen Publikation namens Counterblast. Sie war als satirische Antwort auf einen Report der Canadian Royal Commission gedacht, den Massey-Report, der in schwerfälligem und hochtrabendem Ton Empfehlungen zur nationalen Kunst-und Wissenschaftpolitik gab. Counterblast sollte in Kanada das bewirken, was 1914 Wyndham Lewis' Blast in England erreicht hatte. Lewis' Journal hatte aus bösartigen Schlagzeilen bestanden, die in die Luft jagen sollten, was er an der Londoner Kulturszene verabscheute, und segnen, was ihm tolerabel schein.
Für Counterblast schmiedete Carpenter die Typographie der diversen Schlagzeilen, die McL zusammenbraute, alle etwa in der Art von: "BLAST The cringing, flunkey spirit of canadian culture, its servant-quarter snobbishness resentments ignorance penury." An jede Schlagzeile knüpften sich einige aus McLs Explorations-Artikeln herübergeliftete Beobachtungen. Counterblast erschien in einigen hundert Exemplaren und wurde von McLuhan und Carpenter per Schlitten über die schneebedeckten Torontoer Straßen zu einem Zigarrenladen befördert, dessen Inhaber sich einverstanden erklärt hatte, sie für 25 Cents pro Stück zu verkaufen. Sie gingen gut weg und das verächtliche Lächeln auf dem Campus wurde breiter. (128)
Carpenter übernahm dann eine Position in Californien und wurde so Teil des immer weitergreifenden Netzwerkes von McLs Korrespondenten unter Akademikern, Geschäftsleuten und zufälligen Bekanntschaften. Alle interessanten Leute, die ihm über den Weg oder über interessante Lektüre gelaufen waren, wurden da eingewebt. Unablässig befragte er seine Korrespondenten, ob es etwas wichtiges auf ihrem Gebiet gäbe, was lesenswert wäre, denn er wußte, daß er nur bei unablässiger Arbeit dieses Netzwerkes seinen Kopf in der Informationsflut über Wasser halten konnte.
Bücher blieben seine Hauptinformationsquelle; unter Hochdruck preßte er sie in sich hinein: soziologische, historische, literaturkritische Werke und alle Arten von oddball topics zogen ihn an. Bei all seiner Verehrung für die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts schien er die Dichter und Romanciers, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Szene auftauchten, nicht mehr wahrzunehmen. Das Erscheinen von Allen Ginsberg allein mag ihm die Lust auf zeitgenössische Dichtung genommen haben. (129)
Und so wird er dann in einer seiner typischen Wochen an die 35 Bücher durchquert haben, die Synopsen von Büchern nicht mitgerechnet, die seine Freunde für ihn herstellten. Um festzustellen, ob eine Buch der Lektüre wert war, las er gewöhnlich Seite 69 und 70 sowie das Inhaltsverzeichnis. Gab der Autor keine Aussicht auf insight oder wertvolle Informationen auf Seite neunundsechzigsiebzig so taugte das Buch wohl nichts. Entschloß er sich zur Lektüre, so las er nur die linken Seiten, ohne daß ihm dabei, wie er behauptete, etwas entginge angesichts der zahlreichen Redundanzen von Büchern.
1967 packte ihn der Fimmel des speed-reading und führte ihn in einen Evelyn Wood Reading Dynamics Course. Schnelllesen offenbarte Muster, nicht Daten. Gelegentlich verblüffte er mit der Behauptung, er könne 1500 Wörter pro Minute lesen oder das Paradis Lost in fünf Minuten durchjagen. Später bekannte er allerdings einem Freund, daß speed-reading eher zur Bewältigung von junk mail geeignet sei. Schnelllesen war aber nur die extremste Form seiner Lesetechniken. Seinen Studenten empfahl er, sich zu "intelligent browsers" zu entwickeln. Die Genauigkeit, mit der er über browsing ein Buch erfassen konnte, hatte für seine Freunde etwas Unheimliches.
Je riesigere Mengen an Material er über das Zwanzigste Jahrundert prozessierte, desto weniger war er bereit, seine persönlichen Gefühle dazu zu äußern, vielleicht weil er spürte, daß sie wertlose geworden seien. Wenn er sich dennoch öffentlich erregte, wo es nicht die südafrikanische Apartheid oder der Vietnamkrieg, die ihn erzürnten, sondern die environmentale Degradation, speziell auf dem Campus und in der Stadt, in der er lebte.
Seine Einstellung gegenüber den Neuen Technologien und Medien war ambivalent, und das in deutlichen Schwankungen. Er sah sich als radikalen Konservativen, der den rapiden technologischen Wandel studieren mußte, um in ihm zu überleben. Seinen persönlichen Neigungen hätte am ehestens ein präliterales Milieu entsprochen.(131) Laut Marchand, würde McL nie behauptet haben, daß an Technologien oder Medien irgendetwas grundsätzlich Böses sei. Für seinen katholischen Glauben konnte kein Aspekt der Natur zutiefst verworfen sein. Das Problem war nur, daß die Medien so allmächtig und allumfassend waren, daß es keine Natur mehr gab. Daß sie tot sei hieß, daß die Welt jetzt zu einem universalen Disneyland geworden sei.
Zwischen den Mittfünzigern, als er aus seiner langdauernden Opposition der Mechanischen Braut gegenüber auftauchte, bis zu den Mittsechzigern, als ihn mehr und mehr die dunkleren Aspekte der retribalisierten Gesellschaft zu entsetzten begannen, war er einzig diese zehn Jahre lang guter Hoffnung, daß wir dieses Disneyland ganz großartig hinkriegen würden. Bereichert durch das Wechselspiel der alten visuellen Druckkultur und des neuen 'akustischen' elektronischen Environment könnten wir eine noch größere Renaissance als die des sechzehnten Jahrhunderts erleben, die ihrerseits in dem Wechselspiel zwischen der alten Manuskriptkultur und der auftauchenden Druckkultur Funken gesprüht hatte. Da die elektronischen Medien ein totales Feld instantaner Bewußtheit bildeten, konnten sie uns sogar von unserer alten Gewohnheit befreien, automatisch und unfreiweillig auf unsere menschlichen Erfindungen zu reagieren. (131)
So sah er eine großen globale Kultur im Kommen, wie sie sein Freund Wyndham Lewis schon 1948 America and Cosmic Man prophezeit hatte. In dieser Globalkultur würden Kunst und der Stoff des täglichen Lebens elektronisch zusammenwachsen, [KM-»] die von einer Satellitensphäre umhüllte Welt würde selbst ein sich beständig erneuerndes Gesamtkunstwerk sein, Veränderung und Wandel, die McLuhan wie Lewis so verabscheuten, würden sich so beschleunigen, daß ankommen würde, was dann 1991 Paul Virilio ankommen sah: Rasender Stillstand. Feines kleines McLuhan-Fossil in Virilios Prosa: eine Art vor Übermodernität vibrierender Feudalismus.[«-KM] Die erste bedeutende Gelegenheit, die Perspektiven der neuen Ära vor einem amerikanischen Auditorium vorzutragen, ergab sich November 1955 auf einem Seminar in Columbia. Der Gastgeber fühlte sich bei der Einladung von McL nicht ganz wohl angesichts der Anwesenheit solcher Schwergewichtler wie Robert Merton. Der erste Absatz in McLs Papier stunned the audience. Er begann mit einigen Bemerkungen zu Freud, enthielt eine komplexe Analogie zwischen Psychoanalyse und X-ray photography, und endete mit einer capsule history der alten römischen Straßen. Die folgende Darstellung des enormen Einflusses der Medien auf usw. endete mit einer Warnung der Zuhörer, sie würden in einem "age of paratroopers" leben und jeder Versuch, den Effekt der Neuen Medien im Klassenzimmer durch keusche Konzentration auf die guten alten Monumente aus Literatur oder Kultur zu konterkarieren, sei sinnlos. Sprang erregt auf Robert Merton, rot im Gesicht, und bestand auf cross-examiation, aber wo damit überhaupt anfangen? Drauf McL wieder mit einer jener Sentenzen, bei denen nicht jeder im Saal lachen konnte. Denn über Robert Merton, sagt Marchand, lachte man nicht.(132)
Weiterhin eroberte er den National Council of Teachers of English mit einem Vortrag über die Aufgaben der Lehrer beim Trainieren ihrer Schützlinge in media literacy. Vier Jahre nach dieser Rede war der NCTE eine seiner Hauptplattformen. Neil Postman war gepackt. (133)
McLuhans letztes Erscheinen in der Oktoberausgabe von Exploration setzte den Fortschritten, die er seit Erscheinen des Periodikums gemacht hatte, die Krone auf. Alles was er später sagte oder schrieb, kann auf etwas zurückgeführt werden, was er in den ersten acht Ausgaben von Exploration ausgeführt hatte. Das Kern seiner Lehre war niemals so stichhaltig formuliert worden wie auf den Seiten dieses schrulligen und wunderbaren Blattes. (133)
Daneben hatte McL 1954 die Einleitung zu einer Anthologie der Gedichte von Tennyson geschrieben. Nicht daß er Tennyson groß bewunderte, aber er war für ihn war eine wunderbare Illustration des gleichzeitigen Auftretens bestimmter Muster in industrieller und poetischer Technik des neunzehnten Jahrhunderts.(134) Dann gab es noch ein wenig offbeat work. Viele Jahre schon hatte er an eine Broadway-Produktion gedacht, in der die verschiedenen Medien als dramatis personae auf der Bühne erscheinen sollten. Außerdem war da der Entwurf für eine kleine musikalische Komödie, in der John Foster Dulles und andere Größen aus Washington die Russen solange unter Elvis-Sound setzten, bis diese bereit waren, die Regierungeschäfte in Washington zu übernehmen. (134)