8. The Electronic Call Girl 1958-1964

Seine lange geistige Vorbereitung, seine radikalen und nun voll entwickelten Vorstellungen von den Medien, sein wachsender Ruf innerhalb und außerhalb des akademischen Bereichs als ein seltsamer aber stimulierender Denker und noch etwas anderes - eine gewisse Ruhelosigkeit und die beginnende Wirkung eines tiefsitzenden Fermentes in der Gesellschaft - all das kam um 1950 zusammen zu einer Art von kritischer Masse, bereit zur plötzlichen Explosion des Interesses an McLuhans Arbeit.
Erstes Zeichen seiner wachsenden Bedeutung war sein Auftreten auf dem ersten Congress of Cultural Leaders, den das Institute of Contemporary Arts in Washington, D.C., als Gipfeltreffen ausländischer und amerikanischer Kulturführer sponsorte. Ein weiterer wichtiger Katalysator für den bevorstehenden Ausbruch war seine Bekanntschaft mit Harry J.Skornia von der Univerität von Illinois. Skornia war Präsident der National Association of Educational Broadcasters (NAEB), einer Organisation, die in den vierziger und fünfziger Jahren an der Front einer lebendigen mittelwestlichen Erziehungsavantgarde stand. Skornia bat McL 1958 als keynote speaker auf das Jahrestreffen der NAEB in Omaha. Dort lancierte er zum erstenmal vor einem wirklich einflußreichen Formum seine Botschaft, daß das Medium die Botschaft sei. (137)
Danach heuerte Skornia McLuhan für ein NAEB Projekt zur Entwicklung eines Studienplans für Medienstudien an der Schule an. McL machte von Anfang an klar, daß sein Fokus die mutierende Macht der Medien und nicht ihr Inhalt sein werde. Er wollte die Grammatik der neuen Sprachen des Fernsehens, Radios und anderer Medien lehren. Zur Entwicklung des Lehrplanes wurde von ihm erwartet, Erzieher, Kommunikationspsezialisten, Managementberater, Psychologen und Soziologen zu befragen. Für die aber war sein Medienuniversum noch terra incognita, während es in seinem Kopf schon voll implantiert war. So fühlte er sich von einem Meer an Ignoranz umgeben oder wie jemand, der gerade einige subatomare Partikel entdeckt hatte: nun konnte er nichts anderes tun, als die Leute zwingen, durch sein Mikroskop zu gucken und dazu einige erste Hypothesen zu entwerfen. Dazu zitierte er Coleridges The Ancient Mariner: "We were the first that ever burst/ into that silent sea." Die ruhige See aber war der brüllende Maelstrom. (138)
Auch testen sollte er seinen Syllabus. Darin sah er eine Gelegenheit, seine Vorstellung von Erziehung durch Dialog statt durch Instruktion zu fördern; er wollte die Revolution revolutionieren, die Peter Ramus vier Jahrhuderte zuvor durchgesetzt hatte, um aus dem Klassenzimmer eine Wissenfabrik mit Büchern als Dampfmaschinen zu machen. Auch würden ihm die Studenten, da sie in dem elektronischen Environment heimischer als ihre Eltern und nicht mehr wie sie von der Schriftkultur geprägt waren, als Filter oder Sensoren oder Sonden neues Matieral liefern. Im Dialog sah er ein Mittel des Durchbruchs zu Einsichten durch die Ausrottung jedes individuellen fixierten Gesichts- oder Standpunktes, das Produkt von Schriftkultur und Druckindustrie.(139) Hing es damit zusammen, daß seine eigenen Kinder, als sie größer wurden, nicht nur gegen den abendlichen Rosenkranz rebellierten sondern in einer Art Dauerprotest ihm gegenüber lebten? Es sollten doch die Kinder und Jugendlichen zu ihm kommen in ihrer Unverdorbenheit durch die Schrift; und aus dem gleichen Grunde auch die - Manager.
In den Spätfünfzigern verdickten sich die Kontakte mit der corporate executive über das General Electric Management Center in Croton-on-Hudson, New York. Erfolgreiche Männer mit "august" stature und einer Art von cowboy approach to things erfreuten sich seiner Bewunderung, im Gegensatz etwa zu den unendlichen Pingeligkeiten englischer und europäischer Intellektueller. Hier sah er auch die Möglichkeit, das seiner medientheoretischen Universalmaschine inhärente Laufen zum Laufen zu bringen. [KM-»] Denn da ihr zufolge nur die Form des Mediums die Botschaft sei, konnte diese Botschaft von Medien als Botschaft nur von Medien als Botschaft verkündet werden. [«-KM] Daß das zu funktioneren begann, erfüllte ihn mit wachsender exhilaration als die Fünziger ihrem Ende entgegengingen. An Skornia schrieb er Oktober 1959, daß die Kühnheit und historische Bedeutung Seiner Gedanken Ihn erschaudern ließen.(140)
Januar 1960 stieß er mitten im NAEB-Projekt auf einen zentralen Punkt im Hinblick auf seine Vorstellung des menschlichen Sensorium und des von Francis Bacon übernommenen Begriffs der vestigia communis, der Latenz jeden Sinnes in jedem anderen. Jeder Teil des Sensoriums reagierte auf jeden anderen und übersetzte diese anderen in seine eigene Funktionsweise. [KM-»] Das Sensorium als Ganzes garantierte sein Funktionieren durch die Reproduktion seines Funktionierens durch seine Teile. [«-KM] Wenn ein Medium zur Extension eines bestimmten Sinnes wurde, reagierten die anderen mehr oder weniger subliminal.
Anfang 1960 entwickelte McL die Basisdynamik dieses Prozesses. Er unterschied den "structural impact" eines Mediums bzw. die gleichwertige Extension, Amplifikation oder Amputation eines Sinnes durch ein Medium auf der einen und die veränderte Konfiguration der Sinne im Ganzen als Resultat von Aufprall, Extension, Amputation. usw auf der anderen Seite. Die neue Konfiguration ergab sich aus einer "subjective completion" oder Neustrukturierung oder Herstellung eines neuen Gleichgewichts oder einer neuen Schließung nach gewaltsamer Öffnung, Verletzung und Perturbation, oder, um eine letzte Übersetzungsvariante anzuspielen, sie war der Aus- oder Aufstieg aus einer mehr oder weniger katastrophalen Störung in eine neue Fülle oder Vollendung.
Es war für die subjektive Kompletion oder Erfüllung von entscheidender Bedeutung, ob der strukturelle Impact, Aufschlag, Einschlag, Treffer oder die Extension, Amputation und überhaupt die strukturelle Störung "high definiton" oder "low definiton" war. Das auditive Bild des Radios zum Beispiel war "high definiton" oder "hot". Der Zuhörer war nicht überinvolviert und mußte nicht das 'auditive Bild' geistig ausfüllen oder supplementieren. Seine anderen Sinne, vor allem der Gesichtssinn, konnten das Bild in einer distanzierten spielerischen und eigenwilligen Form komplementieren. So konnte man Fibber McGee oder Amos und Andy leicht visualisieren, wenn sie im Radio sprachen. Kinder glaubten sogar, diese Charaktere spazierten im Innern des Radios zwischen den Vakuumröhren herum, während sie redeten.
Das 'auditive Bild' des Telephons hingegen - ein Bild, das von einem Sprecher geschaffen wurde, der eine Antwort zum Zuhörer verlangte und dabei die Auf- oder Erfüllung der conversational gaps, also eine Art intensiver Lückenbüßererei forderte - war "low definiton" oder "cool". Die anderen Sinne konnten nicht frei und lässig herumspielen, sondern wurden sozusagen einberufen zu einer intensiven Manöveraktion von Vervollständigung oder Schließung des 'auditiven Bildes'. [KM-»] Statt Komplementierung, könnte man sagen, wurde eine Art existentieller Supplementierung gefordert. Wie das Lesen eines Gedichtes dessen Inhalt war, so wurde der Zuschauer vor dem Bildschirm zu diesem selbst, auf dem die jeden Tag neu zu erfüllende Füllung der massenhaften gaps zwischen den Lichtpunkten stattfand. Der Zuschauer mußte, um ein anderes Bild McLs zu benutzen, die Maschinengewehr- oder Strahlengarbe aus der Bildröhre selbst durch intensive Partizipation und Lückenbuße zum Treffer vervollständigen. Und da McL nun einmal das Wort Xrays als Metapher für den Effekt des Fernsehens so liebte wie er auch in seinen Briefen an die Mutter Xmas für Christmas oder Xian für christian schrieb, so könnte man sich fragen, ob er sich nicht fragte, ob nicht vor dem Bildschirm der Zuschauer derjenige war, der im Strahlenschauer ans X oder Kreuz mußte. [«-KM]
Also verlangte ein Medium mit unterdefiniertem strukturellem Einschlag sowohl emotional wie geistig überaktive Partizipation des Medienbenutzers. Ein Medium mit überdefiniertem usw. hingegen unteraktive Partizipation. "Cool" und "Hot" als Kennzeichnungen für "low-definiton" und "high-definiton" tauchten allerdings erst einige wenige Jahre später auf.(141)
Hatten die Mitglieder des NAEB-Forschungskomitees bis dahin gedacht, McLs Projekt wäre leicht in jeden bekannten Ansatz zur Medienforschung zu integrieren, so wurden sie durch diese letzten Hypothesen schnell eines Besseren belehrt. Februar 1960 holte das Komitee tief Luft, um ihn davon zu überzeugen, daß es wohl wenig sinnvoll sei, seinen Syllabus direkt auf die Schüler loszulassen und daß er besser seine Ideen weiter ausarbeiten und nach guten Testmethoden Ausschau halten sollte.
Er konnte einige seiner Freunde von der Universität Toronto dazu überreden, seine Hypothesen auf Computern zu testen. In den frühen Sechzigern hatte sich eine kleine Koterie von science-oriented professors, meistens Ingenieure, um ihn geschart. Darunter James Ham, Professor für Elektroengineering, John Abrams, Professor für industrielles Engineering und die drei Hauptglieder der Koterie, Arthur Porter, Professor für industrielles Engineering, Daniel Cappon, Professor für Psychiatrie und E. Llevellyn-Thomas, Professer für bloßes Engineering. (141)
In seiner ganzen Verwundbarkeit gegenüber dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit übte er eine Art Zauber auf diese Männer der angewandten Wissenschaften aus, der komlexe Ursachen hatte und nicht nur in einer Schwäche von Ingenieuren für mal was Ekzentrisches lag. Porter erinnert sich, daß er McL zunächst für crackers hielt und dieser Knallbonbon erst einmal seine Neugier erregte. Bei gewissen seiner Behauptungen aber dachte er "That's queer. He understands information theory. How can a professor of English understand information theory - which is a highly mathematical, technical theory?" (141)
Natürlich wußten die Ingenieure, daß McLs Begriff von ihren Gebieten nicht unbestreitbar sicher war, wie jede seiner Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Theorie oder von empirischen Fakten immer ein bißchen wackelig war. Sah man aber in seinem Gebrauch wissenschaftlicher Begriffe eine Art von poetischer Aneignung, so war sie treffend. Er verstand sie, so Porter, wie ein Künstler sie verstanden hätte. Begriffe wie "Resonanz" oder "Feld", das dämmerte Porter mit der Zeit, benutzte McL auf hochmetaphorische Weise. Darauf hätte dieser aber nun wieder antworten können, so Marchand, daß diese Begriffe selbst hochmetaphorisch seien.
So wurden also Computer eingesetzt, um das Maß an Taktilität, Visualität und Auditivität des auditory image von Telephonunterhaltungen, Radiosendungen oder was immer zu messen. Ihm wurde schwindelig bei der Vorstellung, die Mischungsgrade dieser Mixtur der Sinne, also ihre ratio exakt messen zu können. So sollten zum erstenmal die Geheimnisse des menschlichen Sensoriums eröffnet werden. Autos, Kleider, Möbel und sonst fast alles konnte mit einem Design versehen werden, das dem menschlichen Sensorium perfekt angepaßt wäre. Neue Unterrichtsmethoden wurden denkbar. Wenn die neue Mathematik eine hohe 'auditive' Komponente hatte, so konnte ihr Erlernen in dem entsprechenden Medium oder Environment kinderleicht gemacht werden, so wie ein Kanadier dann etwa Chinesisch mit der Gründlichkeit eines Zweijährigen, der in China lebte, lernen konnte. [KM-»] Später erfand Seymour Papert am MIT. das computerangereichtere Environment für Kinder, um ihnen das Lernen von Mathematik so 'kinderleicht' zu gestalten wie es das von Sprache für sie war. Auch wurden am Media Lab des MIT weitere computerisierte Environments für Kinder und Erwachsene erfunden. [«-KM]
McLuhan träumte also von einer neuen Klasse von Kulturingenieuren und environmentalen Medienartisten - für ihn keine Bedrohung menschlicher Freiheit sondern eine Ausweitung von human awareness, die letztlich zu einem Zustand von universellem ESP führen würde, nicht als mystisches Phänomen verstanden, sondern als Zustand TOTALER PERZEPTION, bei der alle Sinne ohne Ausnahme harmonisch auf vollen Touren arbeiteten. (142)
Inzwischen warf McL sich auf die Erzeugung von Einsichten in das neueste und bedrohlichste Medium aller Medien: TV. Er fand Beweise dafür, daß die TV-Zuschauer tief an dem partizipierten, was sie beobachteten. Darin wurde er durch die Bemerkung eines Arztes am Kansas City Medical Center bestärkt, daß Medizinstudenten, die eine Operation auf Videoband sahen, sie nicht so sehr sahen als wirklich selbst durchführten. [KM-»] Das könnte ihn insofern besonders beeindruckt haben, als auch hier wieder ein Medium zeigte, daß es am wirkungsvollsten wirkte, wenn es seine eigene 'Operation' übertrug, so daß die Studenten einer Dramatisierung der Operation des Mediums selbst zusahen und an ihr teilhatten, und zwar so, daß sie durch das Medium selbst operierend operierten wurden, nämlich zerschnitten und wieder zusammengenäht, aber in totaler Partizipation oder ausnahmsloser Supplementierung: ihre Sendung war ihnen durch die Sendung gesandt worden: den Alten Menschen abzulegen und zu zerschneiden und den Neuen zusammenzunähen und anzuziehen: sie hatten sich selbst in sakrale TV-Kunst verwandelt. [«-KM]
Die partizipatorische Qualität von TV verdankte sich McL zufolge der relativ verwaschenen Qualität des TV-Bildes und seinem niedrigen strukturellen Impact. Wie das auditive Bild des Telephons, so rief das TV-Bild alle Sinne zum Mitschaffen auf, vor allem Taktilität, wobei McL unter 'taktil' nicht so sehr den Tastsinn verstand, sondern das Wechselspiel aller Sinne. Ein Beispiel, so Marchand, für McLs Neigung, in Worte eine nur ihm bedeutsame Bedeutung zu investieren.
Seine TV-Theorien schärfte sich nicht an einschlägiger Literatur über das Fernsehen, sondern in voller Diskontinuität zu einem Werk aus einem anderem Gebiet: durch Adolf von Hildebrands Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Hier fand er eine Sicht, in der wahre Vision in ihrem Wesen als taktil gesehen wurde. Wahre Vision (TrueVision) diskontierte das rein Visuelle, wie es die Maler der Renaissance verstanden: es löste Perspektivität und Dreidimensionalität in eine zweidimensionale Fläche mit Feldcharakteristik auf. Das signifikante Analogon des TV-Bildes war das a-perspektivische Bild ohne Horizont und Begrenzung ("boundless") in zweidimensionaler Taktilität. Dazu schnappte McL einige Hinweise von Künstlern aus seinem Bekanntenkreis auf. André Girard, ein in katholischen Kreisen wohlbekannter Maler, hatte an visuellen Experimenten mit Film und Fernsehen gearbeitet und war dazu von dem französischen Maler Georges Rouault inspiriert worden. Rouaults Bilder hatten Girard insofern an das Fernsehbild mit seinen kleinen, massenhaften elektronischen Lichtpunkten erinnert, als sie gemalt waren wie wenn sie Glasfenster wären: von einem inneren Licht erleuchtet. Beide, Rouaults Bilder und das TV-Bild, waren von Grund auf zweidimension und 'taktil'.
Ein anderer Freund McLs, ein Künstler und Museumsdesigner namens Harley Parker verwies ihn auf den französichen Impressionisten Georges Seurat. Seurats Bilder verblüfften McL als eine andere malerische Antizipation des TV-Image. Seine kleinen reinen Farbpunkte schufen Bilder, die von innen zu leuchten schienen. Da schaute nicht mehr der Beschauer auf ein Bild von Raphael oder Vermeer, sondern - mit dieser Idee spielten McL und Parker - das Bild von Rouault oder Seurat schaute auf oder erschaute den Beschauer. Der Unterschied zwischen der TV-ähnlichen Kunst von Seurat und der Kunst der Renaissance sei, so erklärte McL, der zwischen "light through" und "light on". (144)
Haben nun die Bilder von Seurat und Rouault ihn zu dieser Vorstellung geführt, oder war es nicht so, daß er zu jeder möglichen Bestätigung seiner Ideen griff? Immerhin förderte seine Exploration des Fernsehens, war sie auch nicht wissenschaftlich streng durchgeführt, erstaunliche Ergebnisse zutage. So konnte er behaupten, daß Hitler nur durch das Radio möglich geworden wäre und daß Fernsehen ihn vernichtet hätte - eine Behauptung, die ihm von seinen linken Kritiern den Vorwurf der Frivolität einbrachte. Diese Behauptung lag auf der gleichen Linie wie die von 1960, daß das coole TV ein exzellentes Antidotum für Unruheherde oder "hot spots" in Asien und Afrika sei. (144)
Natürlich wußte er, daß seine Theorien viele Leute auf die Palme brachten. Er verglich sich selbst mit Louis Pasteur, der seine zeitgenössischen Kollegen mit seinem Gerede von Bakterien nur genervt hatte. Seine Gesellschafts- als Medientheorie würde schließlich, so prophezeite er, da sie sich ganz in der Medien- und Kommunikations- (Komsumptions-) statt in der Produktionssphäre bewegte, den Marxismus besiegen. [KM-»] 1991 verkündete dann Francis Fukuyama in echtem McLuhanesisch den "endgültigen Sieg des Videorecorders" , also des Mediums, das die Rückkehr aus der Geschichte in die zyklisch rotierende Zeit von Mythos und Vorgeschichte als endlose Folge von immer demgleichen Band aus der globalen Videothek der "universalen Komsumkultur" versprach. [«-KM]
Auf die Frage, wer denn diese Kommunikationsmittel in der Hand habe und kontrolliere, antwortete er, es sei sinnlos zu wissen, wer diese Macht in der Hand habe, ohne zu wissen, welcher Art diese Macht sei. (144) [KM-»] Und wenn man wüßte, welcher Art sie sei, wüßte man, daß sie als Die Macht alle, Betreiber wie Konsumenten, in der Hand habe, nämlich, um einen Begriff seiner Nachfolger zu benutzen, als "transzendentales Apriori". [«-KM]
Ein Konservativer (wie er) sei, so erwähnte er gegenüber Skornia, in dieser Hinsicht viel radikaler als ein Progressiver. Er sei viel besser vorbereitet, diese Zeit atemraubender Veränderungen zu begreifen. Statt herumzubasteln und Anpassungsversuche zu machen wäre der Konservative mit der ganzen Kraft seines grundsätzlichen Mißtrauens gegenüber dem Prozeß als Ganzem in der Lage, ihn durch Kontemplation und detachierte Beobachtung zu begreifen. (145)
Schließlich beendete er Juni 1960 den first draft seines Reports für die NAEB: Report on Project in Understanding New Media. Im ersten Absatz stand die Behauptung, die später sein Buch Understanding Media grundieren sollte: media are capable of "imposing" their "own assumptions" on the people who use them. (145) Bevor man ihre Wirkung nicht verstünde, sei man in Gefahr, alle traditionellen Werte der abendländischen Zivilisation und Schriftkultur zu verlieren. Das war nicht, notiert Marchand, die Warnung eines Mannes, der in das Projekt des kommenden Globalen Dorfes vernarrt war.
Der Report war in Sektionen eingeteilt, die verschiedenen Medien gewidmet waren: Sprache, Schrift, Druck, Druckgraphiken, Presse, Photographie, Telegraph, Telephon, Phonograph, Kino, Radio und Fernsehen. Jede Sektion enthielt eine Einleitung, "projects and questions" for classroom use, eine Bibliographie mit beigefügten Kommentaren und eine Karte. Die Karten bestanden aus einem Rechteck mit dem Namen des Mediums im Zentrum. Die linke obere Ecke des Rechtecks war mit HD (high definition) markiert, die untere linke mit SI (structural impact), die obere rechte mit SC (sensory closure or subjective completion) und die untere rechte mit LD (low definition). An jeder Ecke standen dann einige beschreibende Wörter und Sätze bezüglich der Eigenschaften des jeweiligen Mediums hinsichtlich der tetradischen Struktur ihrer Wirkungsmöglichkeiten.(145)
Die Karten sollten die grundsätzliche Dynamik des menschlichen Sensoriums und der Reaktion der menschlichen Psyche auf jedes Medium zeigen. Sie waren in der Tat äußerst verwirrend. Als er sie auf einer Konferenz der National Education Association vorführte, schien er es auf ihren paralysierenden Effekt abgesehen zu haben, so wie die Gesten eines professionellen Magiers das Publikum ablenken sollen, bis das Kaninchen aus dem Hut gezaubert ist. Aus dem Hut kamen dann auch seine verblüffenden Schlußfolgerungen über die wahre Natur der Medien. (145)
Die NAEB hatte keine Ahnung, was sie mit seinem Report anfangen sollte. Um das Schlimmste innerhalb der NAEB zu verhüten, mußte Skornia aus dem ersten Entwurf und weiterem Material das zusammenstellen, was dann Ende 1960 als Report on Project in Understanding New Media erscheinen sollte. Die Verwirrung war außerordentlich und eine Verwendung im Schulunterricht schwer vorzustellen. Die Wirkung des Textes aber, wie groß auch immer seine Mängel waren, hätte sein können, Lehrer und Schüler zu einer eigenen ständigen Beobachtung der Effekte von Medien mit dem Blick eines frisch auf der Erde Eingereisten anzuregen. (147)
Der Report setzte einem Jahrzehnt die Krone auf, in dem McLuhan sich von einer ziemlich grimmigen post-Mechanical Bride Stimmung zu neuer Heiterkeit und Verspieltheit erhoben hatte. Natürlich waren seine Medienforschungen zu einem großen Teil auch Rache dafür, was die Medien ihm, seiner Familie und der Welt antaten. Hier war die Haltung arroganter Superiorität angebracht und man müsse, meinte McL, statt in der Ecke zu stehen und zu jammern, sie direkt angreifen "and kick them in the electrodes". Sie würden darauf sehr hübsch reagieren und aus Herren würden bald Dienern geworden sein.
Man konnte damals von McL ohne Übertreibung sagen, daß er, wofern in Höchstform, als eine Verkörperung seiner eigenen Theorien in Dauervisionen schwebte. War man perzeptuell nicht permanent auf dem Kiewif, meinte er, war man so gut wie tot. Und alles, was man perzipiere, sei real, sogar Halluzinationen. Dieser grenzenlosen Öffnung auf eine technisch durchsetzten Welt entsprach sein Optimismus hinsichtlich der Perspektiven einer Extension nicht nur eines einzelnen Sinnes oder Körperteils durch ein Medium, sondern des ganzen Nervensystems durch die Neuen Medien insgesamt. Die Informationsbewegungen innerhalb dieser neuen environmentalen Technologiesphäre entspräche denen innerhalb des menschlichen Geistes oder Nervensystems. [KM-»] Dadurch hatte die Hoffnung auf eine Restition der alten (analogischen) Verbindungen von Kosmos und Mensch, Makroanthropos und Mikroanthropos auf informationstechnischem Niveau neue Nahrung bekommen, um in einem computierisierten Leviathan im Sinne der mythischen Einheit von Gott, Mensch und Maschine nach Carl Schmitt oder in einer technologisch explizit gewordenen "Königsmetapher" nach Northrop Frye zur Vollendung zu kommen. Hätte Frye McLuhans Werk seit The Gutenberg Galaxy auf dem Hintergrund dieser Königsmetapher - des Körpers des Königs als Leib der Gesellschaft - charakterisieren müssen, hätte er darin eine technologisch-häretische Variante seiner eigenen Darstellung der Bibel in The Great Code finden können: ein gigantischer Mythos, durch Medien als aktive Metaphern unifiziert, die alle Manifestationen der Totalität aller logoi, also des (toten) kosmischen Christus wären. [«-KM]
Schon früher hatte es geheißen, die Extension oder Ablation oder Amputation einzelner Sinnesorgane oder Körperteile in Form von Medien habe einen betäubenden Effekt und ermögliche, diese Medien und Technologien als abgetrennte Teile ohne Wirkung auf die Psyche anzusehen. Mit der Amputation und Extension des gesamten Nervensystems jedoch war dieser Zustand von Benommenheit und Unbewußtheit unmöglich geworden. Jetzt war die Menschenrasse insgesamt unausweichlich und um ihres Überlebens willen gezwungen, in eine Phase intensiven Lernens und Entdeckens einzutreten. Künste und Wissenschaften, versicherte er 1961 vor der Humanities Association of Canada, würden ein Zeitalter von beispielloser Hochblüte und Vollendung durchzustehen haben. (149)
Über den Schlaganfall, bei dem Pater Kelly zur letzten Ölung gerufen wurde, ging er hinweg. Und die McLuhan-Universalmaschine for generating ideas lief und spie weiter. Sein Ruf als einer, der zu virtuell jedem Thema faszinierende Kommentare abgeben konnte, breitete sich aus und zunehmend suchten ihn Journalisten auf, um ihm die Tagesereignisse einzufüttern und die Saat seiner scattershot-, MG- oder Streubüchsentechnik einzusammeln. Das Environment würde entscheiden, welche Ideen keimen und überleben sollten. In Murder by Television führte er die Ermordung von Lee Harvey Oswald auf die Zerstreuung der Wachen unter dem Blick der Telekameras zurück und sah in der TV-Übertragung des Begräbnisses von JFK den Beweis dafür, daß das Medium, weit davon entfernt, Leidenschaft oder Aufregung hervorzurufen, ein tiefes tranquilisierendes kommunales Einbezogensein über die gesamte Nation breite. (150)
Um 1960 rückte er auch an einer anderen Front vor. Seine Reden vor den Managern von General Electric in ihrem Managementcenter in Croton-on-Hudson bildeten einen wichtigen Brückenkopf für seine neue Karriere als Kommunikationsspezialist. Dabei hatte Ralph Baldwin seine Hände im Spiel. Baldwin war ein ehemailiger Professor für mittelalterliche Literatur an der kathoischen Universität in Washington, D.C. Wie Bernard Muller-Thym war Baldwin einer jener frustrierten katholischen Akademiker, denen der Übergang von der mittelalterlichen Kultur in die Welt des avant-garde corporate management sicher auch noch aus anderen Gründen als Unterbezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen leicht fiel.
In den fünfzigern Jahren trat McLuhan dem von GE für seine Manager eingerichteten Ausbildungsstab bei. Das General Electric Management Center war die erste Schule ihrer Art und war unter dem Einfluß der Doktrin eines weiteren academic-turned-management theorist eingerichtet worden: Peter Drucker. Vorher wurden vielversprechende Management-Talente in reguläre akademische Kurse geschickt. Jetzt bezahlte GE was immer gefordert wurde, um die besten Dozenten zu bekommen - Akademiker von Harvard und Yale, hochbezahlte Konsultenten wie Drucker und sogar Ronald Reagan, damals Fernsehsprecher für GE and a communicator of note. (151)
Nun saßen die Mächtigen vor ihm und hörten von dem Zeitalter der kommenden kulturellen Hochblüte. Manager sollten gelehrte Männer werden von gewandter Beredsamkeit, das Ideal der Renaissance sollte im späten Zwanzigsten Jahrhundert wiederbelebt werden. Man schien seinem Enthusiasmus gewogen zu sein. Bei unangenehmen Fragen legte er Nebelschwaden aus. Auch konnte man angesichts seines Preises keinen Unwillen zeigen und schließlich waren solche bull sessions wenigstens doch gutes Entertainment. (152)
Im Sommer 1961 entschied er sich, ein Buch zusammenzubringen, an dem er seit seinen Tagen in St.Louis gearbeitet hatte. Dort sollten sowohl seine Arbeiten am Trivium wie seine neueren Medienstudien in eine bedeutende Neuformulierung der Geschichte des Abendlandes münden. Das Buch würde die verheerenden Auswirkungen des Buchdrucks auf jeden Aspekt des Abendlandes darlegen. Schon 1955 hatte er Wyndham Lewis von einem Buch The Gutenberg Era geschrieben. 1958 äußerte er, er habe das für die Vollendung des Buches notwendige "total pattern" erblickt. Es mußte nur noch das dem totalen Pattern inhärente Laufen zum Laufen gebracht werden . So besetzte er den gesamten Lesesaal der Bibliothek von St.Michael. Er saß vor einem Stapel von Karteikarten, jede mit einem Zitat. Diese massive Sammlung von Karten repräsentierte zwanzig Jahre an Lektüre und Jagd auf die entscheidenden Hinweise auf das Mysterium der abendländischen Zivilisation. Phase eins: Drei Monate lang flippte er durch die Karten, jonglierte mit Zitaten und eigenen Überlegungen und füllte Seite um Seite mit eleganter Handschrift, so fest und prägnant wie die eines mittelalterlichen Schreibers. Phase zwei: Eine Schar von Seminaristen des heiligen Basilius hatte sämtliche Bücher, die er zitiert hatte, im Lesesaal aufgestapelt. Er las die Zitate nach den Korrekturfahnen und die Seminaristen wühlten sich durch die Stapel, lokalisierten die Passagen in den Büchern und prüften sie auf Korrektheit. So konnte diese endlose Aufgabe an einem Nachmittag erledigt werden. (154)
Seine Prosa wurde von ihm selbst an "oral, noisy, brashness" genannt. Manche Rezensenten erinnerte sie an das Schreiben einer verrückten Dohle. Seine naßforschen Verallgemeinerungen sollten die sommnabulen Leser mit Rippenstößen wecken. The Gutenberg Galaxy, wie das Buch schließlich hieß, war genauso herausfordernd und exzentrisch wie die Werke von Ezra Pound und Wyndham Lewis und völlig ohne jene sanftmütigen und diskreten kleinen Gesten, die McL in den Schriften der meisten Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts verabscheute. In einem Brief charakterisierte er The Gutenberg Galaxy mit einem Zitat aus Wyndam Lewis' Autobiographie Rude Assignment : "Ich habe mit der Freiheit eines Mannes geschrieben, der im 18. Jahrhundert oder im Ritz lebte".
Der oral naßforsche Lärm seiner Prosa sollte sich verstärken, als er in den sechziger Jahren anfing, seiner Frau oder Sekretärin zu diktieren. Zugleich wurde ihm selbst bewußt, wie sehr seine Bücher und ihr Gegenstand, die Neuen Medien, dengleichen strukturellen Effekt anstrebten. Marchand führt eine Stelle aus Understanding Media an, die manchem Leser entgangen sein mag: "Now that we have considered the subliminal force of the TV image in a redundant scattering of samples..." Diese redundante Splitterform nannte der "Mosaik" und The Gutenberg Galaxy war ein solches Mosaik.
Wenn die Struktur des Buches sonderbar war, so war, sagt Marchand, das Thema klar. Das Abendland war visualisiert worden. Der uranfängliche Stammeszustand der Menschheit war durch die Erfindung des phonetischen Alphabets zerschlagen worden, also durch eine radikale und einzigartig abendländische Technologie. Die These Walter Ongs wurde dahingehend amplifiziert, daß die Erfindung des Buchdrucks eine noch weitgehendere Transformation in der Psyche des abendländischen Menschen bewirkt hatte: sie hatte zur Visualisierung des Wissens geführt und damit zu der ihr folgenden Entwicklung von Rationalismus, mechanistischer Wissenschaft und Industrie, Kapitalismus, Nationalismus and so on. In den Text eingeflochten waren Materialien aus seiner Dissertation als eine Art Subthema, in dem erklärt wurde, wie die Druckerpresse schließlich die traditionellen Studien in Rhetorik und Grammatik minderte und Logik und Dialektik zur Vorherrschaft brachte.
Anders als The Mechanical Bride wurde The Gutenberg Galaxy nicht ignoriert. Alfred Alvarez sah 1962 im New Statesman in ihr eine "ingenious but infinitely perverse SUMMA by some medieval logician, who has given up theology in favor of sociology and knows all about the techniques of modern advertising". Frank Kermode rezensierte 1963 in Encounter und das venerable Organ des englischen literarischen Establishments, TLS, veröffentlichte einen Artikel von McL über die Effekte des Buchdrucks und schloß ihn 1964 in eine Nummer über die gegenwärtigen Avantgardedenker der Welt ein. 1962 erhielt er in Kanada den Governor-General's Award for Non-Fiction, Canadas höchsten Literaturpreis. (155)
Sein Ruhm breitete sich auch in den United States aus. Nun kamen die Mächtigen zu ihm. Life konsultierte ihn, um herauszubekommen, wie TV die Zeitschriftenleser beeinflusse.(156) Um seine Erkenntnisse über die Natur von Druck und Fernsehen zu testen, heuerte die Time-Life-Corporation Daniel Yankelovich, einen jungen Psychologen für Marketingforschung an. Der Test kam zu fast gegenteiligen Ergebnissen gegenüber dem von Carpenter von 1954, doch wurde McLuhan über dieses Projekt einer wachsenden Zahl von Medienmanagern in New York bekannt.
Schließlich wurde ihm die Möglichkeit angeboten, ein Institut nach eigenem Zuschnitt an der Universität von Toronto einzurichten. Das Centre for Culture and Technology sollte die psychischen und sozialen Konsequenzen aller Technologien interdisziplinär untersuchen. Das war ein Zeichen dafür, daß man ihn in Toronto halten wollte.(158) 1967 erhielt das interdisziplinäre Forschungszentrum die Genehmigung zur Graduiertenausbildung. Es sollte einen einzigen Kurs anbieten. Unter "Courses of Instruction" erschien dann 1967 im Vorlesungsverzeichnis der School of Graduate Studies eine Beschreibung des Zentrums.
C&T 100 Y/1001F&S/Media and Society/ A course considering media as man-made environment. These environments acts both as services and disservices, shaping the awareness of users. These active environments have the inclusive character of mythic forms and perform as hidden GROUNDS of all activities. The course trains perception of the nature and effects of these ever-changing structures. (160)
Kaum war McL etabliert, sollte ein Test für das entwickelt werden, was er "sensory typology" nannte, also die sensorischen Balancierungen oder Bevorzugungen - ganzer Bevölkerungen. Auf ganze Kulturen über längere Zeit angewandt, würde der Test Ergebnisse über die Effekte bestimmter Technologien liefern. Darauf basierend könnten einigermaßen präzise Voraussagen über die Auswirkungen zum Beispiel von Transistorradios oder Fernsehen auf eine Gesellschaft gemacht werden, die mit ihnen noch nicht in Berührung gekommen war. Erzieher, Politiker und andere hätten damit das wunderbarste Werkzeug in der Hand für die Formierung menschlichen Lebens. (160/61)
Auch die Reklamefachleute könnten ihre Produkte den sensuellen Modalitäten anpassen. Wären einmal die Defekte sensorischer Environments aufgedeckt, könnten Erzieher in speziell entworfenen Environments Literaturliebhabern Mathematik und umgekehrt lehren. Mit all seiner Hochenergie nahm McL an, daß Hochenergie selbst das Ergebnis eines vollen Wechselspiels der Sinne sei, so daß Erzieher auch Hochenergie lehren konnten. IQs könnten angehoben werden, da niedrige IQs die Folge von "sensory inhibition", also von Blockierungen oder Verengungen in der totalen sensorischen Eröffnung oder Offenheit waren. [KM-»] Es gab also Mittel, für jede Form von Linearität und Kanalisierung Bypasses zu schaffen oder Netzwerke von kollaterale Leitungen, die sich unter totalem environmentalem 'Beschuß' ausbilden könnten. [«-KM]
Der reiche griechische Architekt C.A.Doxiadis, der das Athens Technological Institute gegründet hatte, war auf die Idee gekommen, Kreuzfahrten zu organisieren mit außschließlich intellektuellen Glanzlichtern als Gästen. Sie sollten die Ägäischen Inseln besichtigen, gutes Essen und guten Wein konsumieren und das Schicksal der Welt diskutieren. Es konnte der Meinung McLuhans nach nur eine Folge der Invasionskraft seiner Ideen von dem elektronischen Äon sein, daß einige seiner noch gänzlich gutenbergorientierten fellow great minds sich dadurch irritieren ließen, daß er auch in Gesellschaft von Leuten wie Margaret Mead, Buchminster Fuller und Sigfried Giedion die Gespräche beherrschte. (162)
Hier erfuhr er, daß in Griechenland die Einführung des Fernsehens kurz bevorstand. [KM-»] So waren die Griechen ein einmaliges, sozusagen unbestrahltes Forschungsmaterial. Fünf Jahre später würde die ausgeweitete Medienpollution die Isolierung der Bestrahlungswirkung oder des uranfänglichen ursprünglichen Giftes vereitelt haben. [«-KM] Also beschloß er, nicht wie ursprünglich geplant die schon völlig versuchte Bevölkerung von Toronto zu testen, sondern die einmalige Gelegenheit zu benutzen, um ein mit angeworbenen Mitteln ausgesrüstetes Team zu Untersuchungen nach Griechenland zu schicken.
Zur Beschaffung des Geldes für die sensorischen Tests, die an seinem Institut selbst durchgeführt werden sollten, entwickelte McL eine enorme Aktivität. Januar 1965 erhielt er Unterstützung von der IBM-Niederlassung in Toronto über einen IBM-Manager und Freund, Mac Hillock, robuster Geschäftsmann, praktisch, mit kantiger Kinnlade und herzlich männlicher Stimme voll gesunder Agressivität - ganz McLs Mann und Mentor oder babysitter (163) in Finanzangelegenheiten. Von Mac Hillock lernte McLuhan, sich nicht mit $100 bis $200 pro Vortrag lächerlich zu machen. Erst das Zehnfache würde die Nachfrage nach ihm erhöhen. So tat er sein Bestes, um businesslike zu erscheinen, aber er war in der Zeit der Depression in Manitoba aufgewachsen und $500 pro Engagement hatten etwas Astronomisches, das schwanken machte. Je nach dem war er umsonst oder erst nach hartnäckigem Feilschen zu haben.
Die Tests wurden dann an von Hillock beschafften IBM-Personal durchgeführt und die IBM Sensory Profile Study referierte als Ergebnis, daß Systemingenieure und Managementsekretärinnen die gleichen sensorischen Präferenzen hätten. (163) Es fand keine sensorisch induzierte Umprogrammierung von IBM statt.
Andere Projekte testeten die Effekte verschiedener Formen von Typographie mithilfe einer damals revolutionären Kamera, die die Augenbewegungen der Testpersonen und zugleich die anvisierten Objekte aufzeichnen konnte. Neben einem Projekt zur Erforschung von Dyslexie lief dann eines, bei denen Simulationversuche von sensorischen Environments anderer Kulturen in einer "encapsulating chamber" angestellt wurden. Die Presse wurde eingespannt und Toronto Daily Star zitierte McLs Voraussage, daß in fünf Jahren Madison Avenue die Welt beherrschen würde, und daß Regierungen ihre Ökonomien managen könnten "as easily as adjusting the thermostat in the living-room." (165) Auch begann man begann zu munkeln, sein Antlitz sei für ein Time-Cover vorgesehen, was aber nie stimmen sollte. Aber die von der Schrift unverdorbenen Kinder lagen ihm immer noch am Herzen. Ein fund-raiser war aufgetaucht und wollte die Entsendung einer Kinderdelegation zu einer Repräsentation Kanadas im Ausland sponsoren. Dazu hatte McL TV-Kinder vorgeschlagen, möglichst über ihr Alter hinaus sensorisch eröffnet für ein so neues und absorbierendes kommunales Drama.(165)
Ein vielversprechendes finanzielles Abenteuer war McLs Mitarbeit an einer zweibändigen Anthologie, Voices of Literature. Wiewohl in der Wahl der Gedichte nicht unüblich, verrieten die Kommentare der Herausgeber doch ab und zu eine unorthodoxe Auffassung von Literatur. So wurde der Unterschied zwischen der Ballade und anderen narrativen literarischen Formen im Medienkontext vorgenommen: "TV does not lend itself to narrative as the movie does; it favors situations with built-in-reactions, like the old ballad." Auf Wortspiele wurde verwiesen als "a cue to the larger patterns of a poem". (166)
Mustererkennung und -bildung durch selbstauslöschende Lückenbuße in zerschlagen-zerschlagenden literarischen Environments trainierte McL auch mit seinen Studenten. Drei bis vier Studenten lasen laut jeweils eine Zeile eines Gedichtes. Diese Fragmentierung zerschlug das Selbstbewußtsein durch Desorientierung und bewirkte eine homöostatische Herstellung von Ordnung auf höherer Ebene - Gruppenkohäsion. Die Bandaufnahme der zerstückelten Lesung eröffnete den akustischen Raum und damit erregende Perspektiven zur Analyse der Formen des - medialen - Effekt des Gedichtes. Dieser mediale Vorgang wurde in einem CBC-Fernsehstudium aufgenommen als Teil einer TV-Dokumentation. [KM-»] Ein Beispiel dafür, wie durch Re-entry der partizipatorischen Effekte des Mediums in es selbst es selbst zu seiner immer umfassendeneren Botschaft wird, daß es ausnahmslos Medium sei. [«-KM]
Das größte Ereignis war 1964 die Publikation von Understandig Media: The Extensions of Man. Nach einem von McLuhans Vorträgen über das Ende des Buches schlug ihm ein Herausgeber von McGraw-Hill ein Buch darüber vor. Es wurde im wesentlichen eine Amplifikation seines Reports für die NAEB, und wurde in den knappen Zeiten vor und nach der Niederschrift von The Gutenberg Galaxy wie diese selbst weniger geschrieben denn zusammengepackt (dreimal mußte seine Frau das Manuskript neu tippen): eine Kollokation aus Notizen von Jahren, auf Papierfetzen in Mappen, die mit "Telegraph", "Radio" und so weiter markiert waren. Ein Torontoer Rezensent, der sich über offensichtliche Wiederholungen und Widersprüche beklagte, meinte, das Buch sei geschrieben worden, ohne gelesen worden zu sein. (167)
Understanding Media: Einleitung, sieben Kapitel über die Natur der Medien allgemein, sechsundwzwanzig Kapitel über spezielle Medien, darunter Sprache, Druck, Uhren, Geld und, natürlich, TV. Sieben Planetensphären und sechsundzwanzig Buchstaben, das bringt Marchand auf kabbalistische Gedanken, ist doch für McL das Alphabet Quelle aller kommenden technologischen Gadgets.
Im ersten Kapitel die Botschaft: "The medium is the message." Wer Medien benutzt, den benutzen sie und prägen ihm ihre eigenen assumptions auf. Die Botschaft von der Botschaft wurde später umformuliert: Jedes Medium schuf sein eigenes Environment, mit totalem, schonungs- und ausnahmslosem Effekt auf die menschlichen Sensibilitäten. Ein neues Medium fügte sich dem älteren technologisch-medialen Environment nicht einfach hinzu; unbemerkbar tranformierte es alles, was schon da war, und schafft so ein völlig neues Environment. Denn ein Medium war nicht einfach ein physikalisches Objekt, sondern die Gesamtheit seines Zubehörs und seiner Attribute und der Energiewirbel und -vortices, die es schuf. Das Automobil zum Beispiel mußte im Kontext seiner Umwelt gesehen werden, deren Design darauf zugeschnitten war, aus dem fahrenden Wagen erkannt werden zu können (Neonreklamen). (167)
Das neue transformierte Envionment hatte laut McL merkwürdige Eigenschaften. Wie des Kaisers Kleider war es virtuell unsichtbar und unbemerkbar - es wirkte subliminal wie der Gesichtsausdruck einer Person und ihre Körperhaltung, die unsere Einstellung ihr gegenüber ändern können, ohne daß wir das merken. Das neue Environment war unsichtbar, weil es das gesamte Feld der Aufmerksamkeit besetzte und saturierte. Wenn Leute isolierte Fragmente des neuen Enviornments sahen, empfanden sie das als unangenehm oder sogar korrupt, so wie Romantiker Dampfmaschinen oder Bankkunden elektronische Kassierer verabscheuten. (167)
Dabei machte das neue Environment in Wirklichkeit die alte Technologie und i h r Environment überhaupt erst sichtbar und transformierte sie dabei um zu - Kunst oder art form. So transformierte das Fernsehen das Kino in eine Kustform, die es in den Abendsendungen als "The Late Show" neu präsentierte. Dieser Basisprozess erklärte also, warum die Futuristen der edwardianischen Zeit Maschinen als Kunstform entdeckten gerade als die neue elektrische Technologie begann, die von ihnen neu verehrten Maschinen abzulösen. Genauso wurden die alten Textilfabriken von Lowell, Massachusetts, zu Ausstellungsstücken in einem Nationalpark für Touristen, die sie anstarrten, als ob es mittelalterlichen Ruinen seien.
Der einzige, der das unsichtbare Environment sehen konnte, war nach McLs Meinung der Künstler. Nicht als Ästhet à la Bloomsbury oder als Mitglied einer Künstlerschule wie der der Futuristen, sondern der wirkliche Erforscher der Gegenwart, die Person, die anders als die Meisten wirklich in der Gegenwart lebte und so eine durchdringende Wahrnehmung für seine Welt hatte: "Antennen der Rasse", pflegte McL Ezra Pound zu zitieren.
So ist Kunst eine Art von Frühwarnsystem hinsichtlich der Auswirkungen der Neuen Medien auf die Gesellschaft. Das thematisierte das mit "Challenge and Collapse: The Nemesis of Creativity" betitelte Kapitel aus Understanding Media", und in dem Kapitel "Hybrid Energy: Les Liaisons Dangereuses" werden die Medien mit fast animistischen - [KM-»] oder eher alchemistischen [«-KM] - Eigenschaften versehen, sich paarend, Nachwuchs erzeugend, sich angreifend und gegenseitig verzehrend. Sie hatten all die Eigenschaften derer, deren Extensionen sie waren.(169)
Weit weniger Zitate als in The Gutenberg Galaxy durchbrachen hier den Fluß des Textes. Das war das Werk des Herausgebers. Dieser habe, so McL, seine Zitate in einen Pferch gesperrt aus Furcht vor ihrem ungehemmten stampede über die Leser hinweg. Man zitierte nicht, um einem Autor Ehre oder Schande zu erweisen und dabei doch als Autor zu respektieren. Man mußte fremde Bücher wie fremde Städte plündern und der Erfolg hing nur davon ab, ob sie reich oder arm waren.
The Mechanical Bride hatte die Industrialisierung also zu einem Zeitpunkt angegriffen, als sie selbst innerhalb des neuen Environments der elektronischen Technologien schon obsolet und dadurch sichtbar geworden war. Understanding Media hingegen war des Kaisers neues Kleid; auch nannte McL sie bei Gelegenheit The Electronic Call Girl. (169) Sollten wir die Sexualorgane auch dieser Braut sein, wie er es von der mechanischen behauptet hatte? In einem Vortrag in New York City kurz nach ihrem Erscheinen sah er den Tag kommen, wo wir alle Computer in der Größe eines Hörgerätes bei uns tragen würden, daß wir all unser Denken und Tun in das des großen schaltkreisenden Gehirns der Welt, in die allerletzte, intelligente Landschaft unserer Lebenspfade eingeben könnten. So sprach McLuhan, aber mit dem Ziel, genügend Krämpfe und Proteste zu provozieren, das zu verhindern.
Und wirklich wurden für ihn Bücher angesichts der allverschlingenden Gewalt der Medien zu Gegengiften und in Atlantic Monthly protestierte er gegen seine Qualifizerung als Kunde des elektronischen Callgirls mit dem Hinweis darauf, daß seine Forschungsexpeditionen in die Medienwelt für Buchleute den Charakter von Spähtrupps einer belagerten Armee hätten. Weitere Rezensionen erschienen in Nation, Commentary, New Statesman und in vielen heavyweight intellectual journals. Sein Buch hatte ihn zu einem Gegenstand seriöser Debatten in intellektuellen Kreisen in Nordamerika und in Großbritannien erhoben. Jeder, der mitreden wollte, mußte ihn lesen. 100,000 Exemplare wurden verkauft. (170)