St. Michael's College war 1946 eine ähnliche
Einrichtung wie Assumption College oder die St.Louis University.
Geist und das Drum und Dran entsprachen dem katholischen
Erziehungssystem, das heute so gründlich verschwunden ist wie
Vorlesungen auf Latein. Damals begannen die Professoren ihre
Seminare mit einem Gebet. Auf dem vatikanischen Index stehende
Bücher waren nur mit Erlaubnis des Bibliothekars einsehbar, der sie
einem verschlossenen Wandschrank entnahm. Wegen seiner undelikaten
Behandlung des Zoelibats hütete man sich, Popes Eloisa to
Abelard im Unterricht zu besprechen. Auch hatte das Kolleg noch
den Charakter eines petit séminaire für die Priester des Basilius.
Der richtige Kragen brachte auch mittelmäßige Lehrer dort unter, so
daß die Studenten in Kursen über englische Romane nicht selten
lange Inhaltsangaben von Tom Jones oder Vanity Fair
zu hören bekamen.
So war es eine Innovation, als das Institut zwei
hochqualifizierte Laien engagierte und darunter eben McLuhan. Auch
war das Institut nicht völlig autonom. Die Universität von Toronto,
eine weltliche Institution, setzte die Curricula der English
courses fest, bewertete die Abschlußexamina usw.. St.Michael's
College hatte in den späten Vierzigern unter Inferioritätgefühlen
gegenüber den anderen Colleges zu leiden, als da waren Trinity
College, eine anglikanische Einrichtung, Victoria College, eine
Institution der United Church (größtenteils methodistisch) und über
allem das University College. Dort bekam man tausend Dollar mehr an
Gehalt - damals eine Menge Geld.(81)
Für McLuhan aber war Catholic education
allein schon dadurch gehandicapt, daß sie sich gegen die
Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts in den Künsten und
Wissenschaften, aber besonders in den Künsten abschottete.
Katholisches Denken könne, so schrieb er in einem Brief, nur
gedeihen, wenn es sich die künstlerischen Techniken der Moderne
aneigne und wenn es sich als Denken über - Kommunikation
verstand.
Sein Ziel der Expansion des katholischen Denkens
verfolgte McL mit mehr Eifer denn Takt. Ständigt nervte er Kollegen
aus anderen Fächern mit "For your information, let me ask you a
question". Besonders die disziplinierten Thomisten des
renommierten Pontifical Institute of Medieval Studies suchte er mit
extraordinären philosophischen Sentenzen heim, die sie als
"bloodcurling" empfanden. Der bedeutendste Thomist war dort
Étienne Gilson, der größte medieval scholar des zwanzigsten
Jahrhunderts und ein großer Philosoph, der 1929 das Institut
gegründet hatte. Gilsons sehnsüchtig erwünschte Anerkennung
erlangte McLuhan nie. Gilson interessierte, was Aquinas oder Matthäus von
Aquasparta [M. Parisiensis?]
wirklich gesagt hatten, McLuhan interessierte, was für Ideen sie in
Seinem Kopf entzündeten. Für Gilson war es eine Tragödie, daß
Bernard Muller-Thym die Metaphysik verlassen hatte. Für McL
bedeutete Muller-Thyms erfolgreiche Karriere als buisiness
consultant den denkbar tiefsten Einstieg in die Metaphysik.
Gilson warf bei dieser Äußerung im Lunchroom die Serviette auf den
Tisch und stürmte aus dem Raum, McLuhan blieb sitzen.(82)
Noch weniger Sympathie brachten ihm die
Professoren der anderen Colleges entgegen. Manche hörten in seinen
Äußerungen das Totengeläut ihres Faches. Schon sein Cambridge Ph.D.
war eine Drohung in einer Zeit, wo er als einziger in Kanada
voraussah, daß ein Magistertitel nicht mehr lange wie bisher üblich
für eine akademische Laufbahn hinreichen würde, und seine
intelligenteren Studenten entsprechend beratschlagte.
Der Kampf um den literarischen Kanon, den Leavis
in Cambridge ausgefochten hatte, mußte hier wiederaufgenommen
werden. Das galt selbst für das Werk von T.S. Eliot. So war McLuhan
die fünziger Jahre hindurch der einzige, der am
Graduiertendepartement Literatur des zwanzigsten Jahrunderts
lehrte. Seine einzigen Verteidigungswaffen waren sein Cambridge
Ph.D. und die letale Kunst seines rhetorisch aufgerüsteten
Debattierens. Seine Opponenten konnten Thesen, die völlig
irrelevant und dennoch irgendwie relevant zu sein schienen, nicht
standhalten. Seine Unerschütterlichkeit beruhte darauf, daß er
wußte, er würde im Verlauf einer Debatte herausfinden, was er sagen
wollte, und, wenn er es gesagt hatte, entdecken, warum er es gesagt
hatte. (84)
Als Katholik, der seinen Katholizismus öffentlich
dokumentierte, indem er an einer katholischen Institution lehrte,
hatte er die Vorurteile jeder kanadischen Universität gegen sich.
So mußte er schließlich feststellen, daß er in einer Sackgasse
steckenbleiben würde, wenn er die konventionellen English
studies weiter verfolgte. Er mußte ein Thema lancieren, daß ihn
nicht nur aus der höheren katholischen Erziehung heraushievte,
sondern ihm auch die Massen als Zuhörer zuführte.
McLuhan als als in Armut und Obskurität
versinkender Desperado: so sahen ihn zunehmend seine Kollegen in
der Zeit seines wachsenden Ruhmes. Für ihn hingegen bildeten diese
zunehmend "a ghastly crew". Wenn man damit zurechtkam, kam
man mit allem zurecht. Im Laufe der Jahre konnte er nicht umhin
festzustellen, daß graduierte Studenten von anderen Professoren
abgeschreckt wurden, seine Seminare zu besuchen. Da genügten einige
nebenbei fallengelassene Bemerkungen. Auch wurde mit der Zeit
deutlich, daß seine graduierten Studenten größere Schwierigkeit
hatten, durch das Universitätssystem durchzukommen. In seinen mehr
als dreißig Universitätsjahren wurden trotz seiner Popularität bei
den graduierten Studenten und seiner Fruchtbarkeit an
stimulierenden Ideen zu Dissertationsthemen nur sieben
Dissertationen fertiggestellt. Auch aus den
Dissertationsausschüssen fühlte er sich ausgeschlossen. Doch die
Studenten redeten viel von ihm und zitierten ihn immer
häufiger.
Zwischen seinen Vorlesungen in Seinem Stil und den
universitären Modellvorlesungen tat sich ein Abgrund auf, in den
die Studenten manchmal unter Schwindelanfällen hinabstarrten,
entsprechend seiner späteren Rede, wonach das Auftreten einer Neuen
Technologie die Menschen zuerst betäuben und in Verwirrung stürzen
würde. Keine seiner Vorlesungen glich der anderen, nichts war
vorhersehbar. Er deckte keine Gebiete ab, sondern verwies die
Studenten auf die ergiebigsten Bereiche zum Um- und Ausgraben. So
konnten sie oft stimulierende Hinweise auf Batman oder Jonnie Ray
in Vorlesungen erhalten, die ganz offensichtlich Francis Bacon
galten.
Viele Studenten fühlten sich auf kohärente,
thematische Bereiche abdeckende Vorlesungsnotizen für ihre Examina
angewiesen und konnten sich beklagen, daß er in einem Seminar über
modernes Drama zu neunzig Prozent über T.S.Eliot und zu einem über
George Bernhard Shaw redete, obwohl beide in den Examina gleiches
Gewicht hatten. [KM-»] Was Thomas Stearne Eliot, The Waste
Land und das Graben angeht, möchte man an einen radikalen
Flügel der puritanischen Vorfahren McLs denken, die Diggers
des Gerrard Winstanley, die unter dem "TRUE LEVELLERS
STANDARD" 1659 einen Landstrich der englischen Grafschaft
Surrey besetzt hatten, mit dem Ziel "to Plant and Manure the
WASTE LAND". War nicht auch für Eliot die Wüste der modernen
Großstadt zugleich zu Krume zertriebenes Brachland für neues
Wachstum? [«-KM] Shaw hingegen habe nur drei originelle Ideen in
seinem Leben gehabt, konnte McL sagen, so daß Selbstvorbereitung
genüge, wobei er, so ein Student, nicht einmal andeutete, worin
diese drei Ideen bestünden.
Essays und Examensarbeiten kämmte McLuhan auf
potentielle intellektuelle Ressourcen durch, Benotungen konnten die
Form haben "one new idea", "thwo new ideas" usw. Eine
gutgeschriebene und gutdokumentierte Arbeit zu einem gut
erforschtem Gebiet konnte die Note "zero new ideas" erhalten
. Er sah ganz
einfach in Studenten potentielle Mitarbeiter und Mitverarbeiter.
Gemeinsame Partizipation an Unternehmungen oder Expeditionen war
wichtig. Er war nicht der Leiter eines Seminars sondern mit ihm
gemeinsam auf Jagd, [KM-»] gemäß seiner späteren Devise, daß der
elektronische Mensch zum Nomadentum zurückgekehrt sei und als
Datennomade und "fact-finder" die unendlichen Gefilde der
abendländische Kultur sammelnd und plündernd durchstreife.(CA)
[«-KM]
Die Probleme der Studenten zu lindern, sprach
McLuhan in den letzten Seminarsitzungen über die Rhetorik des
Examens. Wer diese Rhetorik beherrsche, brauche sich nicht
vorzubereiten. Man hatte gewonnenes Spiel, wenn man mit den
Examensfragen zu jonglieren verstand. Statt sich ihnen direkt
auszusetzen, sollte man ausweichen, indem man sie in Unterfragen
aufbrach, dazu dann zwei Gegenmeinungen erfan und diese dann
verglich und kontrastierte und so weiter. Man konnte seine eigenen
Autoritäten heranziehen und im Notfall nichtexistierende Bücher und
Autoren zitieren. Kurz, es ging darum, sein Nichtwissen zu
organisieren und ihm die Solidität von Wissen zu geben. (87)
Wo immer Er hinkam, heizte er die Atmosphäre an
oder bewirkte ihre elektrostatische Aufladung. Eine Maschine, so
ein Kollege, arbeite in ihm und käme nie zum Stillstand: nach
dreistündiger Diskussion, wenn alles erschöpft war, sei er immer
noch frisch. Um seine Energie zu erhalten, hatte er Steaks und
Kartoffeln zum Frühstück; gelegentlich aß er das Fleisch roh. Seine
Mutter, damals Rosenkreuzerin und Gesundheitsfanatikerin,
belieferte ihn mit diätischen Tips und einer Schwäche für
holistische Kost und Heilmedizin. Ein elektrisches Ding, Tension
Master genannt oder mit Kosenamen "Thumper", stimulierte
seinen Trapezmuskel und seinen Cortex und verhinderte
Lungenkongestion und Bronchialkatharr.
Einen ersten Ausbruchsversuch aus der Sackgasse
bildete ein Projekt, das kurz gesagt darauf hinauslief, daß er
zusammen mit einer Truppe aus Cleanth Brooks, Muller-Thym,
Giovanelli und anderen das Programm der humanities der
Universität of Chicago übernäme. Dort hätten die Graduierten bis
jetzt lediglich technical expertise gelernt. Das war
umzustellen auf "learned eloquence". Mit den Chicagoern
Dozenten würde etwas zu geschehen habe, da sie alle complete
dialectians, strangers to rhetoric and grammar seinen. Die
Truppe sollte a cadre of New Critics and like-minded
metaphysicians auf dem Campus bilden.(90) Für McLuhan, der
instinktiv über Koterien arbeitete, war es ein vitales Anliegen,
mit einer Truppe von Gleichgesinnten - [KM-»] in Briefen auch mal
"Fifth Column" genannt (ML 143,145) [«-KM] - einen wie auch
immer beschaffenen Brückenkopf zu besetzen, selbst auf die Gefahr,
daß Kollegen ihn als Opportunisten oder Charlatan ansahen. Seine
Überzeugung war, daß Katholiken mit ihrem kohärenten Weltbild und
ihren spirituellen Krafquellen leicht die Herrschaft über
nichtkatholische Kollegen übernehmen könnten.
Doch führte das Projekt zu nichts. In einem
unpublizierten Artikel nahm er Rache, indem er einige vernichtende
Beweisstücke des Chicagoer Literaturunterrichts als Symptome für
einen "naiven Rationalismus" zitierte, der Literatur auf
Kategorien und concepts reduziere, statt die Studenten in
der Schärfung ihrer Wahrnehmung durch Analyse der Effekte von
Literatur zu trainieren. Der rationale oder dialektische Geist sei
durch rhetorica im Sinne der Untersuchung und Beherrschung
sprachlicher und künstlerischer Effekte und durch grammatica
im Sinne von Sprachanalyse unter Kontrolle zu bringen.
Sprachanalyse hieß für ihn, Worte nicht als Zeichen sondern als
Dinge anzusehen, in denen eine eigene geheimnisvolle Energie
pulsierte. Diese Energie galt es freizusetzen und unter Kontrolle
zu bringen durch die Entfaltung der rhytmischen und harmonischen
Relationen der Wörter untereinander.
Die Kampagne zur Verbreitung seiner Einsichten
umfaßte auch eine Zeitschrift, die gezielt den "hatred of
being" bekämpfen sollte, so ein Brief an Giovanelli von 1946.
Das Wort "Sein" war ein Hinweis darauf, daß die Zeitschrift ein
Organ für analogische Denker und Thomisten sein sollte, die über
Sein sprachen wie Marxisten über Geschichte. Zu diesem Zweck
versuchte er, Kontakt zu Henry Luce aufzunehmen, dem Herausgeber
publizistischer Organen wie Time, Fortune und Life ,
die McL doch in seinen früheren Artikeln schneidend
auseinandergenommen hatte. So wenigstens das Gerücht zu jener Zeit.
Daß sie sich trafen, ist nicht belegt. Immerhin forderte McLuhan in
den frühen Fünzigern von Luce $50 000 als Gegenleistung für die
Voraussage kurz bevorstehender gesellschaftlicher
Umwälzungen.(91)
Solche Kühnheit wurde schon 1946 in einem gewissen
Kreis in New York Legende. Seine Koterie aus literarischen
Intellekturellen mit größtenteils katholischem Background und
Interesse an Joyce und an der Komplexität der menschlichen Sprache
begann sich zu formieren. Die Gruppe verstand sich als Feind der
viel bekannteren Partisan Review Clique.
Die Kluft zwischen beiden Gruppen vertiefte sich
an der Kontroverse über die Verleihung des Bollinger-Preises an
Ezra Pound. In Leslie Fiedlers Worten: "everybody's deep
politics began to show." Seine "deep politics" war Pound
nicht ganz unsympatisch. Auf jeden Fall hatte er sich zur
Verteidigung von Pounds Dichtung den Southern Agrarians
angeschlossen, also Leuten wie Cleanth Brooks und Allen Tate. Zwar
sah er in dem New Criticism von Brooks, Robert Penn Warren und
anderen eine bloße high shool version des Cambridger New
Criticism, teilte aber ihre politische und literarische
Einstellungen. Mit diesen New Critics trat er gegen die
linksliberalen Polemiken gegen Ezra Pound an, die
Partisan-Review-Autoren wie Irving Howe und William Barrett
lanciert hatten.(92)
1949 schrieb ihm Giovanelli, die Partisan
Review sei "the most pestilential menace to autonomous art
and free intelligence in this country". Die Verachtung dieser
Typen von politischen "lonely hearts" für Literatur sei
komplett und eine Gegenattacke sollte nicht nur in Southern
Agrarian/New Critical journals wie Sewanee Review und
Kenyon Review, sondern auch in New York City des
früheren Partisan Review Herausgebers Dwight MacDonald
erscheinen. Giovanelli, der in den späten Vierzigern McLs
unermüdlicher (und unbezahlter) Agent und Promoter war, kannte in
New York einfach jeden von intellektuellem Gewicht. Er ermutigte
McL zu ruhelosem Ehrgeiz und warb für die weitere Entwicklung von
Ideen und Projekten: man müsse an mehr Türen klopfen und mehr Leute
belästigen. IRGENDETWAS würde schließlich und sicher
geschehen. McL aber brauchte keine Ermutigung. Im Geiste hatte sein
Einzug in New York City schon stattgefunden, trotz der oft
geäußerten Bevorzugung eines äußeren Beobachtungspunktes wie sie
die Canadian boondocks boten. In New York City stünde er
mitten auf dem Kampfplatz und hätte alle Büros der wichtigen
Herausgebern und alle editorial departments of magazines in
Reichweite.
Das erste Mitglied des Kreises von "fine
intellects", den McLuhan in Toronto aufbauen wollte, war Hugh
Kenner, der gerade 1946 seinen M.A. erreicht hatte. McL hatte
Kenner auf Eliot, Richards Practical Criticism, Leavis'
New Bearings in English Poetry und die ganze
Scrutiny-Reihe gestoßen und ihm viele Fenster geöffnet. Aber
Kenner selbst öffnete McL ein viel weiteres Fenster: James Joyce.
Joyce war von Leavis nicht kanonisiert worden. Zwar hatte Leavis
Wyndham Lewis in den Kanon eingeschmuggelt, aber Joyce zu lesen
hielt er für reine Zeitverschwendung. Für Kenner aber war Joyce die
herrlichste Nuß, die es zu knacken gab. Ob nun durch Kenners
Einfluß oder sonstwie: um 1950 nahm Joyce Besitz von McLuhan. Von
Finnegans Wake las er jeden Tag drei oder vier Seiten laut
mit einem irischen Akzent, den er perfekt nachzuahmen glaubte.
Joyce war für den Spürhund die Witterung eines jener größeren
Durchbrüche, die zu Ende seiner Laufbahn auf einer Gedenkliste in
seinem Büro verzeichnet waren. In der Undurchdringlichkeit von
Finnegans Wake hatte er das ultimative Mysterium gefunden.
Hier eingedrungen zu sein, sagte er später, hätte zu einigen seiner
wichtigsten Entdeckungen seiner Medienforschung
geführt. (95)
Ob Joyce nun die Vorstellung vertritt, daß alle
menschlichen Artefakte als Extensionen des menschlichen Körpers
anzusehen seinen - eine Vorstellung, die sich eher dem
Anthropologen Edward Hall verdankt; ob Finnegans Wake
wirklich eine monumentale Geschichte der menschlichen Technologie
entwirft; ob McLuhan daraus die Bedeutung dessen entgegenflog, was
er später "resonantes Intervall", Intervallraum oder
Raumcharakteristik des Tastsinnes nannte, läßt sich allerdings,
sagt Marchand, an einem Text wie Finnegans Wake nicht
verifizieren.
Finnegans Wake bestärkte McLuhans Verdacht,
daß ein logischer, sequentieller Zugang zur Realität einer
vornehmlich visuellen Imagination entsprang, die dem, was T.S.
Eliot "auditory imagination" nannte, völlig konträr war. In
'auditiver' Imagination erklang der Widerhall der Wörter auf
vielschichtigen Bedeutungsebenen und verband, wie Eliot sagte, das
Allerneueste mit dem Urältesten. In McLuhans Worten bildete die
Sprache des Finnegan Wake "an unbroken line of
communication with the totality of the human past."
Finnegans Wake zersprengte die Linearität und Sequentialität
der menschliche Geschichte und verband Gegenwart und Vergangenheit
im Medium einer menschlichen Sprache als Resonanzraum einer
reichen, vielfältigen und bedeutungsvollen Geschichte. (95)
Joyces Werk arbeitete also mit einer Psychologie
der Sinnesaktivitäten, die McL schon über Muller-Thym von Thomas
von Aquin übernommen hatte. Hier hatten die Sinne
Erkenntnisqualitäten. [KM-»] Nach Th.v.Aquin waren alle Sinne einem
sensus communis zugeordnet, der eine Relationierung so
verschiedener Sinneseindrücke wie 'weiß' und 'süß' bewirken konnte
und dessen Tätigkeit in Bezug auf die verschiedenen
sensibilia analog der des intellectus in Bezug auf
die verschiedenen phantasmata zu sehen war. (a.u.a.O.92)
Diese thomistische Theorie der Sinne konnte McLuhan in kohärenter
Form der 1951 an der philosophischen Fakultät von St.Louis
angefertigen Dissertation von Edmund Joseph Ryan,
C.PP.S.,M.A.,Ph.D, The Role Of The "Sensus Communis" In The
Psychology Of St.Thomas Aquinas entnehmen.
[«-KM]
Die Betonung sensorischer Effekte in McLuhans
Medienästhetik zielt also nicht auf Meßbarkeiten etwa der
klinischen Psychologie. Seine Behauptung, Fernsehen sei eher
'taktil' denn 'visuell', macht nur dann Sinn, wenn man die
aristotelische und mittelalterliche Theorie der Sinne
berücksichtigt. Hier sind die Sinne operative Agenten, die im Geist
als eine Art artistisches Kollektiv wirken, um die Realität in
aüßerst delikat ausbalanciertem Zusammenwirken zu erfassen. Eine
Störung dieses Gleichgewichtes durch neue Technologien oder Medien
bedeutet ein Disaster.
Hugh Kenner und sein Mentor drangen aber nicht nur
in den esoterischen n-dimensionalen sprachlichen Resonanzraum des
Finnegan Wake ein, sondern ebenso in die Mysterien der
Comics. McL war ein großer Fan von Al Capp, dem Schöpfer des Comic-Strip
L'il Abner. Als einmal
Capp L'il Abner und Daisy Mae kurz vor dem Hochzeitsaltar hatte,
sah McL darin eine ausgezeichnete Gelegenheit für Capp, den
feminisierten Dagwood und seinen Kumpel genauso satirisch
fertigzumachen, wie er es mit Dick Tracy in seiner Erschaffung von
Fearless Fosdick geschafft hatte. Da Kenner damals in Yale
arbeitete, sollte er Capp auf eindruckvollem Yale-Briefpapier zu
diesem Coup anregen.
Juni 1948 besuchte McLuhan mit Kenner Ezra Pound,
der damals im St.Elizabeth Hospital in Washinton, D.C., inhaftiert
war. Danach sah er ihn nie wieder, korrespondierte aber mit ihm
über mehrere Jahre. Pounds ABC of Reading und Guide to
Kulchur versetzten ihn immer in höchste Erregung und jeder
Satz, schrieb er damals an Giovanelli, ließ ihn zu fünfzehn Büchern
springen, um zwanzig Gedichte laut zu lesen, die Pound für die
Entwicklung von crucial standards of taste and perception
für unabdingbar hielt.
Von allen literarischen Riesen des zwanzigsten
Jahrhundert konnte Pound am ehesten McLs Seelengefährte sein. Nicht
daß Pound viel von McLs Ideen hielt, aber beide empfanden einen
gewissen Horror vor popular culture und verteidigten sich
gegen sie jeder auf seine Weise: McLuhan, indem er sie erforschte,
Pound, indem er sie entschlossen mißachtete. Beide waren ziemlich
isolierte Gestalten, die verzweifelt versuchten, Wissen und
Erkenntnis über ein Netzwerk von Gleichgesinnten zu verbreiten;
beide waren Spürhunde mit Witterung auf die wahren Arcana lebenswichtigen Wissens
angefangen von den Elisabethanern bis hin zu den Geheimnissen der
Hochfinanz; beide beklagten, daß ihnen aus allgemeiner Indifferenz
und Beschränktheit wichtige Schlüssel vorenthalten wurden; beide
waren überzeugt, daß sie die Welt verändern könnten, wenn sich
ihnen nur die Ohren der richtigen Leuten öffneten und beide waren
von mal zu mal für paranoide Deutungen dieser Welt anfällig.
(97)
Wie Joyce so sprach auch Pound McLuhans sense
of sleuthing in arcane lore an. Auch betete McL beständig um
Pounds Übertritt zum Katholizismus. Sein unausgesprochener
Glaubenssatz war, daß alle Großen Künstler in Wirklichkeit entweder
offen oder in ihren geheimen Sympathien Katholiken seien. Solche
wie Milton oder Beckett waren dann hoffnungslose Fälle.
Durch geöffnete Fenster weht der Wind. Kenner
besaß die Fähigkeit zu vollständiger Absorption und
Wiedererinnerung, indem er alles was er las oder hörte in den
Säften seines Gehirns garkochte. So konnten Streitigkeiten
entstehen, wem die Früchte des abendländischen Brachlandes
gehörten, und McLuhan fühlte sich beraubt. Aber wenn er selbst ohne
Quellenangabe Scrutiny bändeweise in seinen Seminaren in
St.Louis zitiert hatte, konnte man man auch nicht von Plagiat
reden. Auch änderte das alles nichts daran, daß Kenner für die
Koterie unverzichtbar war. Zehn kompetente Leute in Toronto würden
reichen. Sie mußten bereit sein, morgens um vier am Telephon
McLuhans neueste Einsichten entgegenzunehmen, denn wie viele
hochaktive Leute verteilte er seinen Schlaf in kurzen Nickerchen
über den Tag auf Unterhaltungen mit Freunden, Fakultätstreffen und
Kinobesuchen.
"Wherever I am, there's a discussion group"
sagte Er 1976 einem Reporter. Auch der Lunchroom der Fakultät war
ein Ort, an dem er Gespräche bis zum Aufruhr aufheizen konnte.
[KM-»] Dieses Aufheissen, -heizen oder -mischen erhöhte für ihn die
Informationsverarbeitungskapazität seines diskutierenden Milieus.
In den Ausnahmezustand aufgemischt konnte die "clase
discutidora" ausgenommen werden. Dasgleiche galt für seine
graduierten Studenten. Seine Technik, Brücken über Abgründe von
Disziplinen zu spannen, zerschlug ihnen jedes 'aufgesparte'
kohärente Wissengebilde und stimulierte sie, sich an den endlosen
Strom endlos interdisziplinär zirkulierenden Wissens zu höherem
Gewinn wieder zu verausgaben. [«-KM] Als natural pool of
potential collaborators konnten sie sich zugleich stimuliert
und verheizt fühlen.(99) Sechs bis acht Wochen vor dem Examen gab
er den Studenten Leselisten mit rund eintausend Titeln, so ein
Student im Interview mit Marchand. Zu hören, was er schon wußte,
lehnte er ab. (99)
Von 1946 an begann McLuhan sich mit einer Koterie
von graduierten Studenten zu umgeben, den "McLuhanatics".
Mit der Zeit entwickelten sich die Glieder oder extensions
dieses Corpus oder Apparates zu Filtern oder Ersatzlesern für die
wachsende Zahl von Periodika und Bücher, die ihm seine
Korrespondenten zusandten. Wie Hugh Kenner ihm ein Fenster auf
Joyce eröffnet hatte, so Marianna Ryan mit ihrer Dissertation auf
die französischen symbolistischen Dichter. Seitdem zitierte er
Mallarmé und die Symbolisten als Schlüsselfiguren für sein Denken.
Marianna Ryans Arbeit verstärkte die grundlegenden Vorstellungen,
die er sich von den Symbolisten schon in Cambridge gebildetet
hatte, so die davon, daß der Inhalt eines Kunstwerkes seine Technik
sei.
Auch organisierte McL in den späten Vierzigern
halbformelle Diskussionsgruppen, so eine zum Griechischlernen, eine
andere zur Lektüre von Finnegans Wake, eine weitere zur
Diskussion von zeitgenössischen Psychologen und Anthropologen, die
er für besonders einflußreich auf das moderne Denken hielt. Für die
moderne katholische Kirche habe das Studium solcher Autoren wie
Karen Horney und Carl Jung diegleiche Bedeutung wie das des
Aristoteles für Thomas von
Aquin. (100)
Solche Koterien wurden nicht nur im akademischen
Bereich gebildet. Mit zweien seiner nichtakademischen Freunden
gründete McL 1955 eine Gesellschaft, genannt Idea
Consultants. Einer der Konsultenten war ein
Public-Relation-Mann. Die Gesellschaft offerierte kreative Ideen
und basierte auf McLuhans Ansicht, daß ein Außenseiter oft Lösungen
für Business-Probleme fände, die den Insidern entgingen. Einer
ihrer Slogans in Seinem authentischen kopfschmerzenden Sound war
"A headache is a million-dollar idea trying to get born. Idea
Consultants are obstreticians for theses ideas." (100) Ein Büro
wurde gemietet, ein Logo entworfen und viele Unternehmen mit
Vorschlägen eingedeckt. Das waren Ideen für durchsichtige Töpfchen
zum Toilettentraining für Kinder, Schilder in Bussen und
Untergrundbahnen, die die Namen der Stationen zusammen mit einer
Reklame aufleuchten ließen, versiegeltes Essen für Flüge,
Sammelfahrten in pollenfreie Zonen für Heuschnupfler und
Herstellung und Verkauf von taped movies - um 1955 -, die
auf dem Fernseher abgespielt werden konnten, von McL "television
platters" genannt.(101)
Seine eigenste Idee war ein Fernsehprogramm, in
dem ein Businessproblem gewählt und dramatisiert und den Zuschauern
ein Preis für die beste Lösung versprochen wurde. Millionen von
Zuschauern würden die richtige Lösung schneller finden als die
berühmtesten Think Tanks. Leider verkauften die Idea Consultants
nie eine einzige Idee. Ihr Ende verminderte aber nicht im
geringsten McLuhans Appetit auf Projekte, die Zeit und
Aufmerksamkeit absorbierten.
Das Wachstum des
McLuhan-Pattern-Recognition-Organs absorbierte und organisierte
auch jede Entspannung. Die Nickerchen im Kino ermöglichten immer
noch oder gerade die Wahrnehmung der Struktur des Filmes, der
Organisation und des Rhytmus der Einstellungen und so weiter. In
St.Louis hatte er seine Studenten zu den Schriften von Pudowkin und
Eisenstein geführt und mit ihnen die Umsetzung von Romanen zu
Drehbüchern geübt.
Als das Fernsehen in den Fünfzigern erschien, war
sein Haushalt der letzte im Wohnblock, wo es ein Gerät absetzte.
Damit es nicht das Wohnzimmer beherrschte, wurde es ins
Untergeschoß verbannt. Er benutzte es sparsam und unter Führung von
TV-Guide, wo er markierte, was er sehen wollte, nicht ohne
einen soft spot für leichtere Kost wie Hogan's Heroes
oder Bonanza. In den Siebzigern fesselte ihn besonder die
Bob Newhart Show, weil sie die einzige sei, die die Natur
des Fahrstuhles und die Räume zeige, die dieser schuf, indem sie
die Gespräche der Charaktere beim Besteigen oder Verlassen des
Fahrstuhls stattfinden ließ. (101) [KM-»] In der Sicht des McLuhan
bekannten Werkes von Siegfrid Giedion, Space, Time and
Architecture bedeutete das eine Verlagerung des Schwerpunktes
sozialer Kommunikation aus dem Privatbereich von Newharts Büro zum
mechanischen Kern des Hochauses als neuem Dorfbrunnen der
Menschheit des Industriezeitalters. [«-KM]
Seine leistungsstärkste Entspannung jedoch war und
blieb talk. Seine Parties wurden streng im Hinblick auf
dessen Maximierung geplant. Die Unterhaltung, so eine
Partizipantin, war um Themen seiner Selbstdialoge der Woche
zentriert, angefangen von den letzten Phänomenen von popular
culture bis zu Äußerungen der neuesten Literaturzeitschriften
zu Dichtern oder Malern. Seine conversational agenda wurde
von Seinen Themen besetzt. Zwischen 1948 und 1949 waren es Mallarmé
und die Symbolisten. Kurz danach und durch die Fünfziger hindurch
faszinierte ihn das kleine Epos, epyllion. Das Wesen dieser
literarischen Form bestand für ihn im interplay zwischen
Plot und Subplot, und in diesem Wechselspiel lag seiner Überzeugung
nach der Schlüssel zur Literatur des Abendlandes. Er begann an
einem Buch zu diesem Thema zu arbeiten, das ihn noch zwölf Jahre
später beschäftigte, inzwischen aber verbreitete sich
epyllion über sein persönliches Netzwerk.
Zum Zeugen für diese kontagiöse Wirkung seiner
"enthusiasms" ruft Marchand Northrop Frye auf, der damals
eine beachtliche Karriere als critic begann. [KM-»] Zu
Beginn dieser Karriere hatte Frye allerdings einen merkwürdig
dunklen Spiegel aufgestellt, Fearful Symmetry, A Study Of
William Blake (1947), in dem die Gestalt erschien, die McLuhan
so erschreckte, daß er sie unter dem Namen 'Gnosis' vehement zu
bekämpfen begann: 'artistische Gnosis' oder die Erlösung einer
gefallenen Welt durch ihre Zerstörung und Neuerschaffung in der
Imagination des Künstlers. [«-KM] Frye kann also bezeugen: "He
would go off the deep end with some word like 'epyllion', and for
the next six month all you would her around St. Michael's students
was the word 'epyllion.' But he left it to other people to work out
the scholarly implications." Verheissung-Verheizung, denn
manche Studenten verbrachten mit dieser Ausarbeitung viel Zeit bis
sie merkten, so Frye im Interview mit Marchand, "they were
getting out of that academic trough, when they were really falling
behind the world that we're living in."(102)
McLuhan scherte sich nicht um die Effekte seiner
Enthusiasmen. Er war auf der heißen Spur zu Schlüsseln der
Erschließung der Welt, und jeden, der ihm nachzufolgen bereit war,
hieß er willkommen. Eine vitale Entdekung - und dazu verhalf ihm
wohl auf zweilichte Weise auch Fryes Fearful Symmetrie - war
der Einfluß Geheimer Gesellschaften, vor allem der weitreichenden
und okkulten Kräfte des Freimaurerordens. Im akademischen Jahr
1951-52 wurde er von dieser Entdeckung besessen, nachdem er Popes
Verwendung rosenkreuzerischen Materials und einige ähnliche
esoterische Rituale und Überlieferungen in den Schriften von Yeats,
Pound, Eliot und Joyce entdeckt hatte. Aus aus der Feststellung,
daß solche Überlieferung sich von der Renaissance bis ins
zwanzigste Jahrhundert erstrecke, sprang er in die Postulierung
einer gegenwärtigen Elite, die von Geheimen Gesellschaften in jedem
Bereich des zeitgenössischen Lebens gefördert werde.
[KM-»] Dieser Verdacht lag ihm so symmetrisch
nahe, daß er gerade mit Pope in The Gutenberg Galaxy eine
"Parodie der Eucharistie" als Schwarze Messe feiern konnte,
bei der die transsubstantiierenden oder transformierenden Kräfte
des Mediums - hier der Schrift und des Buchdrucks - die Welt in den
"sable Throne [...] of Night Primaeval, and of Chaos old"
verwandeln, bis der große Anarch - Derridas An-Archie der Schrift?
- auftritt und den Vorhang vor dem Weltenbrand wegzieht, bei dem
"Universelle [Drucker]Schwärze Alles verbrennt". (GG 263)
[«-KM]
Okkulte Überlieferungen zogen ihn also selbst
stark an. Die Zahlen Drei und Sieben betrachtete er mit religiöser
Scheu; Dreizehn war schreckenerregend. Saßen einmal mit Ihm Zwölf
zu Tisch, mußte ein Sekretär schnell jemanden dazusetzen. Sich
selbst nannte er "a Cancerian, a moonchild". Seinen
Lebensgang wurde von lunaren Phasen geregelt. Bei Vollmond stand
ihm das Schlimmste und eine frenetisch angespannte Zeit bevor.
(103)
Die Gefahren solcher Faszination für einen mit
seiner Imaginationkraft waren ihm schon als Untergraduierten bewußt
geworden, als ihn telekinesis und ectoplasm in Atem
hielten, und er mied solche Kost mit allen Kräften. 1952 schrieb er
an Pound, daß er das Jahr mit der Erforschung der Rituale der
Freimaurer und Rosenkreuzer verbracht habe. Zu seiner Überraschung
und seinem überwältigenden Ekel sei ihm aufgegangen, daß diese
Organisationen ihre Tentakel überall in den Künsten und
Wissenschaften ausgestreckt hätten. Er äußerte Pound gegenüber eine
gewisse Enttäuschung, daß dieser selbst solche okkulten Rituale in
seiner eigenen Dichtung benutzt habe.
Natürlich war es, so Marchand, für McLuhan
emotional wie imaginativ befriedigend, dieser Phobie nachzugeben.
"It was a childlike fun, putting one over on the sneaks and the
Masons", sagt eine Bekannte McLs im Interview. Da er selbst
inmitten einer Koterie von gedämpft konspirativem Zuschnitt wirkte,
lag es ihm nahe, Opposition von Kollegen in Toronto auf die
Hochblüte einer oder zweier Geheimer Gesellschaften an anderen
Colleges zurückzuführen. Nun waren diese auf seine Anwesenheit
aufmerksam geworden und so war es immer schwieriger für ihn,
jemanden zu finden, der ihn publizieren würde. In einem Brief an
Pound zitierte er eine Bemerkung von Wyndham Lewis: "The secret
of success is secrecy". Jetzt habe er den Sinn dieses Hinweises
verstanden. Pound replizierte sardonisch in seinem Pound-Code:
"No harm in McL/ succeding [sic] by secrecy if it don't
degeneete [sic] into mere nonbeing." (103)
Geheime Gesellschaften, behauptete McLuhan,
benutzen Rituale und eine Liturgie, die die Partizipanten direkt
mit okkulten spirituellen Kräften in Kontakt brächten. Diese Kräfte
existieren in zeitlosen patterns. Für die Gesellschaften
waren diese Muster die einzige Realität und die Welt bloße
Erscheinung. Dafür gab es verschiedene Kennzeichnungen wie
"gnostisch", "hermetisch", "buddhistisch", "neuplatonisch"
und so weiter. Sie bedeuteten eine tödliche Bedrohung für die
katholische Kirche, die mit Aristoteles behauptete, daß
die Sinne den Geist nicht täuschten und daß die materielle Welt
zuverlässig real war.
Die katholische ('aristotelische') Kirche
insistierte darauf, daß die Mittel der Erlösung keine artistischen
oder okkulten Rituale seinen, sondern Sakramente. Die Rituale
geheimer Gesellschaften hingegen waren Parodien der Sakramente, vor
allem der Eucharistie als schwarze Messe. McLuhan war der
Überzeugung, daß um ihn herum schwarze Messen gefeiert würden und
daß die "personal" comlumns in den Torontoer Zeitungen
kodierte Botschaften enthielten bezüglich Zeit und Ort solcher
Messen. Ein bevorzugter Ort ihrer Zelebrierung, glaubte er aus
gewissen Gründen, war die Casa Loma, ein großes leerstehendes
edwardianisches Herrenhaus und zugleich eine Touristenattraktion
nicht weit von der Universität. Darin war er so leichtgläubig in
der Einfalt seines Herzens, daß zwei graduierte Studenten ihm eine
Geschichte über mitternächtliche schwarze Messen in der
Ägyptologischen Sektion des Royal Ontario Museums aufbinden
konnten. [KM-»] Aber auch in der Literatur wurden schwarze Messen
gefeiert. Wie schon oben angeführt, fand er sie in The
Dunciad von Pope so wie er sie dann auch im Werk von Joyce
entdeckte. [«-KM]
In vorderster Linie der geheimen Gesellschaften
stand in seinen Augen der Freimaurerorden als historischer Feind
der katholischen Kirche. Die Geschichte des Abendlandes sah er auf
unbekannte Weise von diesem Orden geformt. So konnte der
amerikanische Bürgerkrieg für ihn die Bedeutung eines Kampfes
zwischen dem nördlichen und südlichen Zweig dieses Ordens annehmen.
Als Kennedy 1961 bei seiner Amtseinführung mit dem Ablegen des
Eides in Verzug geriet, sah er darin nicht die wahrscheinliche
Auswirkung eines Schneesturms, sondern den Versuch des Katholiken
Kennedy, den Zeitpunkt des Schwurs nicht auf eine im
freimaurerischen Ritual hochbedeutsame Zeit, high noon,
fallen zu lassen. (104)
Natürlich war McLuhan besonnen genug, diese
Ansichten nicht öffentlich zu äußern und seit den sechziger Jahren
schwieg er dazu auch in Unterhaltungen mit Freunden und Kollegen am
St.Michael's - obwohl er dann doch, entsetzt angesichts der
post-Vatican II changes in der katholischen Kirche, den
Verdacht nicht nicht äußern konnte, daß einige Prälaten der Kirche
einschließlich des Torontoer Erzbischofes Philip Pocock heimliche
Freimauer seien. Die These der freimaurerischen Verschwörung, so
das Ergebnis zweier Interviews Marchands schien McLuhan nie
wirklich aufgegeben zu haben.
Ganz sicher aber gab er nie den Glauben auf, daß
sein großer Rivale im English department der Universität von
Toronto, Northrop Frye, in seinem Herzen, wenn nicht sogar faktisch
- in "furchtbarer Symmetrie" - ein Freimaurer sei. Fryes
Literaturtheorien und seine feierliche Ergebenheit gegenüber
Mythos, Symbol, Archetyp and so on lieferten McLuhan eine
große Resonanz für seine Ansicht. Die Allgegenwart großer
allüberbrückender Kategorien in Fryes Schule des literary
criticism stand, abgesehen von ihrer Tendenz, Literatur in eine
Reihe von geistigen Zwangsjacken zu stecken, in enger Verbindung zu
den zeitlosen und überirdischen Visionen der Gnosis und des
Neuplatonismus, die McL in den geheimen Gesellschaften entdeckt
hatte.
Auch tendierte Fryes critical ideology
dazu, aus Literatur eine Religion zu machen, eine Religion, die
McL, der doch schon eine hatte und mit ihr vollauf zufrieden war,
von ganzem Herzen verabscheute. Sicher wurde er manchmal
verdächtigt, rücksichtslos der realen Welt intellektuelle Muster
aufzuzwingen, und mehr von Ideen und Formen als von der Realität
beeindruckt zu sein. Soviel er aber auch, notiert Marchand
salomonisch, hier in praxi von der Vorstellung abgeirrt sein mag,
that all the particulars of God's creation were unique and
radiantly existent (105), hielt er doch mit einer gewissen
unzerstörbaren Treue an dieser Vorstellung fest.
Die Rivalität zwischen McLuhan und Frye gipfelten
in einem Pamphlet unter dem Titel Have with you to Madison
Avenue; or The Flush Profile of Literature, das McL auf
einer Diskussionsrunde zu Fryes Anatomy of Criticsm von 1957
unter fremden Namen vorlesen lassen wollte. Darin wurde Frye
vorgeworfen, den eigentlichen Criticism als Formierung der
Perzeptionsfähigkeit durch Literatur verlassen zu haben zugunsten
einer pseudowissenschaftlichen Auswertung der features von
Literatur, vergleichbar in etwa der Auswertung der Profile von
Konsumentengruppen, die Madison Avenue vornahm. Flush
profile war ein solches Profil der Reaktion von Zuhörern oder
Zuschauern von Radio- und Fernsehprogrammen, bei der die Häufigkeit
der Betätigung des Toilettenspülung gemessen wurde.
[KM-»] Angesichts der polemischen Nähe, in der
hier Fryes criticism und Madison Avenue unter der
versteckten Klammer der Etiketten 'Gnosis', 'Hermetik',
'Neuplatonismus' usw. im Gestus des Hinunterspülens
zusammengedrückt werden, hinterläßt McLuhans spätere Übereignung
arkaner Traditionen an Madison Avenue wie z.B. der Art of Memory die Frage, welche
geheime Verwandschaft (oder Analogie) der sleuth hier
erschnüffelt oder verfügt hatte. Auch schöpfte er ja ausdrücklich
aus arcane lore (Marchand S.97) und hatte im Interview mit
Gerald E. Stearn erklärt : "Das meiste, was ich zu sagen habe,
ist aus zweiter Hand, jedoch aus esoterischen Quellen gesammelt.
Die Gebiete, die ich am liebsten frequentiere, sind Gebiete, wo
sehr wenig Leute sich jemals lange aufgehalten haben."
[«-KM]
McLuhans Sozialkritik/social criticism fand
langsam ein breiteres Publikum. 1947 veröffentlichte er
American Advertising in dem
bekannten englischen Kulturjournal Horizon. Im
unverkennbaren Leavis-Ton wiederholte er seine Forderung nach einem
rigorosen Studium der Effekte und Techniken der Reklame. Zugleich
zeigte er, daß keiner Reklame mehr haßte wie er. Gerade aus diesem
Grund hatte er einen tiefen, ja qualifizierten Respekt vor der
artistry of advertising - artistry ohne
Anführungszeichen geschrieben. Wie die großen Künstler wußten auch
die advertiser, daß sie bestimmte Effekte bei ihrem Publikum
erreichen mußten. Deswegen benutzten sie oft diegleichen Mittel,
unter anderem die Techniken der Symbolistischen Dichter und der
antiken Rhetoriker.
Den Höhepunkt seiner Erforschung von
advertising erreichte er 1951 mit der Veröffentlichung
seines ersten Buches, The Mechanical Bride. Den Ausdruck
"Age of the Mechanical Bride" hatte er schon 1945 in mit
Dias illustrierten Vorlesungen benutzt. Das Thema der Vernichtung
von Familie, menschlicher Freiheit und Fühlsamkeit durch die
technologische Gesellschaft aber beherrschte ihn schon seit 1940.
Der Plan, dieses Thema in Buchform mit Reproduktionen von Reklamen
und Comics und mit kurzen kommentierenden Essays zu behandeln, war
also eine Weiterentwicklung seiner slide-and-lecture series
zum gleichen Thema; schließlich war das Projekt eindeutig von
Leavis' Culture and Environment bestimmt und durch ähnliche
exhibits in Wyndham Lewis' Buch von 1932, The Doom of
Youth, bestärkt.
Jahre vor Erscheinen der Bride hatte
McLuhan schon die Gewohnheit angenommen, Reklameanzeigen, Comics
und Zeitungsartikel auszuschneiden, in Umschläge zu stecken und in
eine Lebensmittelkiste zu stopfen. Was dann eines Tages kurz nach
Kriegsende bei Vanguard Press in New York auftauchte war eine
solche Kiste zusätzlich mit einem Manuskript. Für einen
beschäftigten Herausgeber, so eine Herausgeberin, war diese Kiste
ein Horrendum, das Letzte, was man öffnen würde. Sie verschwand
schnell in einem "back office". Schließlich wurde sie doch
geöffnet : was für faszinierende Schätze! Der Verlag bestand
allerdings auf mehr Klarheit und Kohärenz und zeigte damit, daß er
eher die Luft von Thomas Babington Macauly atmete, während die
Kiste dem Universum Ezra Pounds und seines Guide to Kulchur
entstammte. Das Unverständnis, auf das McLuhan stieß und die
Schnitte, die dann vorgenommen werden mußten, schmerzten ihn umso
mehr, als er sie auf einen diffusen homosexuellen Einfluß in der
Verlagswelt zurückführen mußte, die von der männlichen Kraft seiner
Prosa so erschreckt war, daß sie nur zur Schere greifen konnte.
(109)
So erschien das Buch nach sechsjährigem Kampf mit
dem Verlag, und das war dann, so meinte McL später, genau der
Zeitpunkt, an dem TV seine wichtigsten Aussagen irrelevant gemacht
hatte. Die mechanische Braut erschien auf der Bildfläche, als die
elektronische sie schon erobert hatte. Auf jeden Fall war es sein
letzter Protest gegen die Verwüstungen durch Kapitalismus,
Industrialisierung, dialektisches Denken und mechanische
Automatisierung. Bald sollte die Kritik der Automatisierung in die
Entdekung einer durch sie bewirkten neuen Tribalisierung umkippen.
Damit hatte McLuhan die letzten Spuren von moralischer Entrüstung
abstreift. Nach diesem letzten beißendem Lebewohl an die
Zivilisation des Maschinenzeitalters war der Weg frei, völlig
ungehindert vor Vorurteilen in der Rolle des Erforschers und
ruhelosen Suchers nach Einsichten aufzugehen. (110)