6. Twilight of the Mechanical Bride 1946-1951

St. Michael's College war 1946 eine ähnliche Einrichtung wie Assumption College oder die St.Louis University. Geist und das Drum und Dran entsprachen dem katholischen Erziehungssystem, das heute so gründlich verschwunden ist wie Vorlesungen auf Latein. Damals begannen die Professoren ihre Seminare mit einem Gebet. Auf dem vatikanischen Index stehende Bücher waren nur mit Erlaubnis des Bibliothekars einsehbar, der sie einem verschlossenen Wandschrank entnahm. Wegen seiner undelikaten Behandlung des Zoelibats hütete man sich, Popes Eloisa to Abelard im Unterricht zu besprechen. Auch hatte das Kolleg noch den Charakter eines petit séminaire für die Priester des Basilius. Der richtige Kragen brachte auch mittelmäßige Lehrer dort unter, so daß die Studenten in Kursen über englische Romane nicht selten lange Inhaltsangaben von Tom Jones oder Vanity Fair zu hören bekamen.
So war es eine Innovation, als das Institut zwei hochqualifizierte Laien engagierte und darunter eben McLuhan. Auch war das Institut nicht völlig autonom. Die Universität von Toronto, eine weltliche Institution, setzte die Curricula der English courses fest, bewertete die Abschlußexamina usw.. St.Michael's College hatte in den späten Vierzigern unter Inferioritätgefühlen gegenüber den anderen Colleges zu leiden, als da waren Trinity College, eine anglikanische Einrichtung, Victoria College, eine Institution der United Church (größtenteils methodistisch) und über allem das University College. Dort bekam man tausend Dollar mehr an Gehalt - damals eine Menge Geld.(81)
Für McLuhan aber war Catholic education allein schon dadurch gehandicapt, daß sie sich gegen die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts in den Künsten und Wissenschaften, aber besonders in den Künsten abschottete. Katholisches Denken könne, so schrieb er in einem Brief, nur gedeihen, wenn es sich die künstlerischen Techniken der Moderne aneigne und wenn es sich als Denken über - Kommunikation verstand.
Sein Ziel der Expansion des katholischen Denkens verfolgte McL mit mehr Eifer denn Takt. Ständigt nervte er Kollegen aus anderen Fächern mit "For your information, let me ask you a question". Besonders die disziplinierten Thomisten des renommierten Pontifical Institute of Medieval Studies suchte er mit extraordinären philosophischen Sentenzen heim, die sie als "bloodcurling" empfanden. Der bedeutendste Thomist war dort Étienne Gilson, der größte medieval scholar des zwanzigsten Jahrhunderts und ein großer Philosoph, der 1929 das Institut gegründet hatte. Gilsons sehnsüchtig erwünschte Anerkennung erlangte McLuhan nie. Gilson interessierte, was Aquinas oder Matthäus von Aquasparta [M. Parisiensis?] wirklich gesagt hatten, McLuhan interessierte, was für Ideen sie in Seinem Kopf entzündeten. Für Gilson war es eine Tragödie, daß Bernard Muller-Thym die Metaphysik verlassen hatte. Für McL bedeutete Muller-Thyms erfolgreiche Karriere als buisiness consultant den denkbar tiefsten Einstieg in die Metaphysik. Gilson warf bei dieser Äußerung im Lunchroom die Serviette auf den Tisch und stürmte aus dem Raum, McLuhan blieb sitzen.(82)
Noch weniger Sympathie brachten ihm die Professoren der anderen Colleges entgegen. Manche hörten in seinen Äußerungen das Totengeläut ihres Faches. Schon sein Cambridge Ph.D. war eine Drohung in einer Zeit, wo er als einziger in Kanada voraussah, daß ein Magistertitel nicht mehr lange wie bisher üblich für eine akademische Laufbahn hinreichen würde, und seine intelligenteren Studenten entsprechend beratschlagte.
Der Kampf um den literarischen Kanon, den Leavis in Cambridge ausgefochten hatte, mußte hier wiederaufgenommen werden. Das galt selbst für das Werk von T.S. Eliot. So war McLuhan die fünziger Jahre hindurch der einzige, der am Graduiertendepartement Literatur des zwanzigsten Jahrunderts lehrte. Seine einzigen Verteidigungswaffen waren sein Cambridge Ph.D. und die letale Kunst seines rhetorisch aufgerüsteten Debattierens. Seine Opponenten konnten Thesen, die völlig irrelevant und dennoch irgendwie relevant zu sein schienen, nicht standhalten. Seine Unerschütterlichkeit beruhte darauf, daß er wußte, er würde im Verlauf einer Debatte herausfinden, was er sagen wollte, und, wenn er es gesagt hatte, entdecken, warum er es gesagt hatte. (84)
Als Katholik, der seinen Katholizismus öffentlich dokumentierte, indem er an einer katholischen Institution lehrte, hatte er die Vorurteile jeder kanadischen Universität gegen sich. So mußte er schließlich feststellen, daß er in einer Sackgasse steckenbleiben würde, wenn er die konventionellen English studies weiter verfolgte. Er mußte ein Thema lancieren, daß ihn nicht nur aus der höheren katholischen Erziehung heraushievte, sondern ihm auch die Massen als Zuhörer zuführte.
McLuhan als als in Armut und Obskurität versinkender Desperado: so sahen ihn zunehmend seine Kollegen in der Zeit seines wachsenden Ruhmes. Für ihn hingegen bildeten diese zunehmend "a ghastly crew". Wenn man damit zurechtkam, kam man mit allem zurecht. Im Laufe der Jahre konnte er nicht umhin festzustellen, daß graduierte Studenten von anderen Professoren abgeschreckt wurden, seine Seminare zu besuchen. Da genügten einige nebenbei fallengelassene Bemerkungen. Auch wurde mit der Zeit deutlich, daß seine graduierten Studenten größere Schwierigkeit hatten, durch das Universitätssystem durchzukommen. In seinen mehr als dreißig Universitätsjahren wurden trotz seiner Popularität bei den graduierten Studenten und seiner Fruchtbarkeit an stimulierenden Ideen zu Dissertationsthemen nur sieben Dissertationen fertiggestellt. Auch aus den Dissertationsausschüssen fühlte er sich ausgeschlossen. Doch die Studenten redeten viel von ihm und zitierten ihn immer häufiger.
Zwischen seinen Vorlesungen in Seinem Stil und den universitären Modellvorlesungen tat sich ein Abgrund auf, in den die Studenten manchmal unter Schwindelanfällen hinabstarrten, entsprechend seiner späteren Rede, wonach das Auftreten einer Neuen Technologie die Menschen zuerst betäuben und in Verwirrung stürzen würde. Keine seiner Vorlesungen glich der anderen, nichts war vorhersehbar. Er deckte keine Gebiete ab, sondern verwies die Studenten auf die ergiebigsten Bereiche zum Um- und Ausgraben. So konnten sie oft stimulierende Hinweise auf Batman oder Jonnie Ray in Vorlesungen erhalten, die ganz offensichtlich Francis Bacon galten.
Viele Studenten fühlten sich auf kohärente, thematische Bereiche abdeckende Vorlesungsnotizen für ihre Examina angewiesen und konnten sich beklagen, daß er in einem Seminar über modernes Drama zu neunzig Prozent über T.S.Eliot und zu einem über George Bernhard Shaw redete, obwohl beide in den Examina gleiches Gewicht hatten. [KM-»] Was Thomas Stearne Eliot, The Waste Land und das Graben angeht, möchte man an einen radikalen Flügel der puritanischen Vorfahren McLs denken, die Diggers des Gerrard Winstanley, die unter dem "TRUE LEVELLERS STANDARD" 1659 einen Landstrich der englischen Grafschaft Surrey besetzt hatten, mit dem Ziel "to Plant and Manure the WASTE LAND". War nicht auch für Eliot die Wüste der modernen Großstadt zugleich zu Krume zertriebenes Brachland für neues Wachstum? [«-KM] Shaw hingegen habe nur drei originelle Ideen in seinem Leben gehabt, konnte McL sagen, so daß Selbstvorbereitung genüge, wobei er, so ein Student, nicht einmal andeutete, worin diese drei Ideen bestünden.
Essays und Examensarbeiten kämmte McLuhan auf potentielle intellektuelle Ressourcen durch, Benotungen konnten die Form haben "one new idea", "thwo new ideas" usw. Eine gutgeschriebene und gutdokumentierte Arbeit zu einem gut erforschtem Gebiet konnte die Note "zero new ideas" erhalten . Er sah ganz einfach in Studenten potentielle Mitarbeiter und Mitverarbeiter. Gemeinsame Partizipation an Unternehmungen oder Expeditionen war wichtig. Er war nicht der Leiter eines Seminars sondern mit ihm gemeinsam auf Jagd, [KM-»] gemäß seiner späteren Devise, daß der elektronische Mensch zum Nomadentum zurückgekehrt sei und als Datennomade und "fact-finder" die unendlichen Gefilde der abendländische Kultur sammelnd und plündernd durchstreife.(CA) [«-KM]
Die Probleme der Studenten zu lindern, sprach McLuhan in den letzten Seminarsitzungen über die Rhetorik des Examens. Wer diese Rhetorik beherrsche, brauche sich nicht vorzubereiten. Man hatte gewonnenes Spiel, wenn man mit den Examensfragen zu jonglieren verstand. Statt sich ihnen direkt auszusetzen, sollte man ausweichen, indem man sie in Unterfragen aufbrach, dazu dann zwei Gegenmeinungen erfan und diese dann verglich und kontrastierte und so weiter. Man konnte seine eigenen Autoritäten heranziehen und im Notfall nichtexistierende Bücher und Autoren zitieren. Kurz, es ging darum, sein Nichtwissen zu organisieren und ihm die Solidität von Wissen zu geben. (87)
Wo immer Er hinkam, heizte er die Atmosphäre an oder bewirkte ihre elektrostatische Aufladung. Eine Maschine, so ein Kollege, arbeite in ihm und käme nie zum Stillstand: nach dreistündiger Diskussion, wenn alles erschöpft war, sei er immer noch frisch. Um seine Energie zu erhalten, hatte er Steaks und Kartoffeln zum Frühstück; gelegentlich aß er das Fleisch roh. Seine Mutter, damals Rosenkreuzerin und Gesundheitsfanatikerin, belieferte ihn mit diätischen Tips und einer Schwäche für holistische Kost und Heilmedizin. Ein elektrisches Ding, Tension Master genannt oder mit Kosenamen "Thumper", stimulierte seinen Trapezmuskel und seinen Cortex und verhinderte Lungenkongestion und Bronchialkatharr.
Einen ersten Ausbruchsversuch aus der Sackgasse bildete ein Projekt, das kurz gesagt darauf hinauslief, daß er zusammen mit einer Truppe aus Cleanth Brooks, Muller-Thym, Giovanelli und anderen das Programm der humanities der Universität of Chicago übernäme. Dort hätten die Graduierten bis jetzt lediglich technical expertise gelernt. Das war umzustellen auf "learned eloquence". Mit den Chicagoern Dozenten würde etwas zu geschehen habe, da sie alle complete dialectians, strangers to rhetoric and grammar seinen. Die Truppe sollte a cadre of New Critics and like-minded metaphysicians auf dem Campus bilden.(90) Für McLuhan, der instinktiv über Koterien arbeitete, war es ein vitales Anliegen, mit einer Truppe von Gleichgesinnten - [KM-»] in Briefen auch mal "Fifth Column" genannt (ML 143,145) [«-KM] - einen wie auch immer beschaffenen Brückenkopf zu besetzen, selbst auf die Gefahr, daß Kollegen ihn als Opportunisten oder Charlatan ansahen. Seine Überzeugung war, daß Katholiken mit ihrem kohärenten Weltbild und ihren spirituellen Krafquellen leicht die Herrschaft über nichtkatholische Kollegen übernehmen könnten.
Doch führte das Projekt zu nichts. In einem unpublizierten Artikel nahm er Rache, indem er einige vernichtende Beweisstücke des Chicagoer Literaturunterrichts als Symptome für einen "naiven Rationalismus" zitierte, der Literatur auf Kategorien und concepts reduziere, statt die Studenten in der Schärfung ihrer Wahrnehmung durch Analyse der Effekte von Literatur zu trainieren. Der rationale oder dialektische Geist sei durch rhetorica im Sinne der Untersuchung und Beherrschung sprachlicher und künstlerischer Effekte und durch grammatica im Sinne von Sprachanalyse unter Kontrolle zu bringen. Sprachanalyse hieß für ihn, Worte nicht als Zeichen sondern als Dinge anzusehen, in denen eine eigene geheimnisvolle Energie pulsierte. Diese Energie galt es freizusetzen und unter Kontrolle zu bringen durch die Entfaltung der rhytmischen und harmonischen Relationen der Wörter untereinander.
Die Kampagne zur Verbreitung seiner Einsichten umfaßte auch eine Zeitschrift, die gezielt den "hatred of being" bekämpfen sollte, so ein Brief an Giovanelli von 1946. Das Wort "Sein" war ein Hinweis darauf, daß die Zeitschrift ein Organ für analogische Denker und Thomisten sein sollte, die über Sein sprachen wie Marxisten über Geschichte. Zu diesem Zweck versuchte er, Kontakt zu Henry Luce aufzunehmen, dem Herausgeber publizistischer Organen wie Time, Fortune und Life , die McL doch in seinen früheren Artikeln schneidend auseinandergenommen hatte. So wenigstens das Gerücht zu jener Zeit. Daß sie sich trafen, ist nicht belegt. Immerhin forderte McLuhan in den frühen Fünzigern von Luce $50 000 als Gegenleistung für die Voraussage kurz bevorstehender gesellschaftlicher Umwälzungen.(91)
Solche Kühnheit wurde schon 1946 in einem gewissen Kreis in New York Legende. Seine Koterie aus literarischen Intellekturellen mit größtenteils katholischem Background und Interesse an Joyce und an der Komplexität der menschlichen Sprache begann sich zu formieren. Die Gruppe verstand sich als Feind der viel bekannteren Partisan Review Clique.
Die Kluft zwischen beiden Gruppen vertiefte sich an der Kontroverse über die Verleihung des Bollinger-Preises an Ezra Pound. In Leslie Fiedlers Worten: "everybody's deep politics began to show." Seine "deep politics" war Pound nicht ganz unsympatisch. Auf jeden Fall hatte er sich zur Verteidigung von Pounds Dichtung den Southern Agrarians angeschlossen, also Leuten wie Cleanth Brooks und Allen Tate. Zwar sah er in dem New Criticism von Brooks, Robert Penn Warren und anderen eine bloße high shool version des Cambridger New Criticism, teilte aber ihre politische und literarische Einstellungen. Mit diesen New Critics trat er gegen die linksliberalen Polemiken gegen Ezra Pound an, die Partisan-Review-Autoren wie Irving Howe und William Barrett lanciert hatten.(92)
1949 schrieb ihm Giovanelli, die Partisan Review sei "the most pestilential menace to autonomous art and free intelligence in this country". Die Verachtung dieser Typen von politischen "lonely hearts" für Literatur sei komplett und eine Gegenattacke sollte nicht nur in Southern Agrarian/New Critical journals wie Sewanee Review und Kenyon Review, sondern auch in New York City des früheren Partisan Review Herausgebers Dwight MacDonald erscheinen. Giovanelli, der in den späten Vierzigern McLs unermüdlicher (und unbezahlter) Agent und Promoter war, kannte in New York einfach jeden von intellektuellem Gewicht. Er ermutigte McL zu ruhelosem Ehrgeiz und warb für die weitere Entwicklung von Ideen und Projekten: man müsse an mehr Türen klopfen und mehr Leute belästigen. IRGENDETWAS würde schließlich und sicher geschehen. McL aber brauchte keine Ermutigung. Im Geiste hatte sein Einzug in New York City schon stattgefunden, trotz der oft geäußerten Bevorzugung eines äußeren Beobachtungspunktes wie sie die Canadian boondocks boten. In New York City stünde er mitten auf dem Kampfplatz und hätte alle Büros der wichtigen Herausgebern und alle editorial departments of magazines in Reichweite.
Das erste Mitglied des Kreises von "fine intellects", den McLuhan in Toronto aufbauen wollte, war Hugh Kenner, der gerade 1946 seinen M.A. erreicht hatte. McL hatte Kenner auf Eliot, Richards Practical Criticism, Leavis' New Bearings in English Poetry und die ganze Scrutiny-Reihe gestoßen und ihm viele Fenster geöffnet. Aber Kenner selbst öffnete McL ein viel weiteres Fenster: James Joyce. Joyce war von Leavis nicht kanonisiert worden. Zwar hatte Leavis Wyndham Lewis in den Kanon eingeschmuggelt, aber Joyce zu lesen hielt er für reine Zeitverschwendung. Für Kenner aber war Joyce die herrlichste Nuß, die es zu knacken gab. Ob nun durch Kenners Einfluß oder sonstwie: um 1950 nahm Joyce Besitz von McLuhan. Von Finnegans Wake las er jeden Tag drei oder vier Seiten laut mit einem irischen Akzent, den er perfekt nachzuahmen glaubte. Joyce war für den Spürhund die Witterung eines jener größeren Durchbrüche, die zu Ende seiner Laufbahn auf einer Gedenkliste in seinem Büro verzeichnet waren. In der Undurchdringlichkeit von Finnegans Wake hatte er das ultimative Mysterium gefunden. Hier eingedrungen zu sein, sagte er später, hätte zu einigen seiner wichtigsten Entdeckungen seiner Medienforschung geführt. (95)
Ob Joyce nun die Vorstellung vertritt, daß alle menschlichen Artefakte als Extensionen des menschlichen Körpers anzusehen seinen - eine Vorstellung, die sich eher dem Anthropologen Edward Hall verdankt; ob Finnegans Wake wirklich eine monumentale Geschichte der menschlichen Technologie entwirft; ob McLuhan daraus die Bedeutung dessen entgegenflog, was er später "resonantes Intervall", Intervallraum oder Raumcharakteristik des Tastsinnes nannte, läßt sich allerdings, sagt Marchand, an einem Text wie Finnegans Wake nicht verifizieren.
Finnegans Wake bestärkte McLuhans Verdacht, daß ein logischer, sequentieller Zugang zur Realität einer vornehmlich visuellen Imagination entsprang, die dem, was T.S. Eliot "auditory imagination" nannte, völlig konträr war. In 'auditiver' Imagination erklang der Widerhall der Wörter auf vielschichtigen Bedeutungsebenen und verband, wie Eliot sagte, das Allerneueste mit dem Urältesten. In McLuhans Worten bildete die Sprache des Finnegan Wake "an unbroken line of communication with the totality of the human past." Finnegans Wake zersprengte die Linearität und Sequentialität der menschliche Geschichte und verband Gegenwart und Vergangenheit im Medium einer menschlichen Sprache als Resonanzraum einer reichen, vielfältigen und bedeutungsvollen Geschichte. (95)
Joyces Werk arbeitete also mit einer Psychologie der Sinnesaktivitäten, die McL schon über Muller-Thym von Thomas von Aquin übernommen hatte. Hier hatten die Sinne Erkenntnisqualitäten. [KM-»] Nach Th.v.Aquin waren alle Sinne einem sensus communis zugeordnet, der eine Relationierung so verschiedener Sinneseindrücke wie 'weiß' und 'süß' bewirken konnte und dessen Tätigkeit in Bezug auf die verschiedenen sensibilia analog der des intellectus in Bezug auf die verschiedenen phantasmata zu sehen war. (a.u.a.O.92) Diese thomistische Theorie der Sinne konnte McLuhan in kohärenter Form der 1951 an der philosophischen Fakultät von St.Louis angefertigen Dissertation von Edmund Joseph Ryan, C.PP.S.,M.A.,Ph.D, The Role Of The "Sensus Communis" In The Psychology Of St.Thomas Aquinas entnehmen. [«-KM]
Die Betonung sensorischer Effekte in McLuhans Medienästhetik zielt also nicht auf Meßbarkeiten etwa der klinischen Psychologie. Seine Behauptung, Fernsehen sei eher 'taktil' denn 'visuell', macht nur dann Sinn, wenn man die aristotelische und mittelalterliche Theorie der Sinne berücksichtigt. Hier sind die Sinne operative Agenten, die im Geist als eine Art artistisches Kollektiv wirken, um die Realität in aüßerst delikat ausbalanciertem Zusammenwirken zu erfassen. Eine Störung dieses Gleichgewichtes durch neue Technologien oder Medien bedeutet ein Disaster.
Hugh Kenner und sein Mentor drangen aber nicht nur in den esoterischen n-dimensionalen sprachlichen Resonanzraum des Finnegan Wake ein, sondern ebenso in die Mysterien der Comics. McL war ein großer Fan von Al Capp, dem Schöpfer des Comic-Strip L'il Abner. Als einmal Capp L'il Abner und Daisy Mae kurz vor dem Hochzeitsaltar hatte, sah McL darin eine ausgezeichnete Gelegenheit für Capp, den feminisierten Dagwood und seinen Kumpel genauso satirisch fertigzumachen, wie er es mit Dick Tracy in seiner Erschaffung von Fearless Fosdick geschafft hatte. Da Kenner damals in Yale arbeitete, sollte er Capp auf eindruckvollem Yale-Briefpapier zu diesem Coup anregen.
Juni 1948 besuchte McLuhan mit Kenner Ezra Pound, der damals im St.Elizabeth Hospital in Washinton, D.C., inhaftiert war. Danach sah er ihn nie wieder, korrespondierte aber mit ihm über mehrere Jahre. Pounds ABC of Reading und Guide to Kulchur versetzten ihn immer in höchste Erregung und jeder Satz, schrieb er damals an Giovanelli, ließ ihn zu fünfzehn Büchern springen, um zwanzig Gedichte laut zu lesen, die Pound für die Entwicklung von crucial standards of taste and perception für unabdingbar hielt.
Von allen literarischen Riesen des zwanzigsten Jahrhundert konnte Pound am ehesten McLs Seelengefährte sein. Nicht daß Pound viel von McLs Ideen hielt, aber beide empfanden einen gewissen Horror vor popular culture und verteidigten sich gegen sie jeder auf seine Weise: McLuhan, indem er sie erforschte, Pound, indem er sie entschlossen mißachtete. Beide waren ziemlich isolierte Gestalten, die verzweifelt versuchten, Wissen und Erkenntnis über ein Netzwerk von Gleichgesinnten zu verbreiten; beide waren Spürhunde mit Witterung auf die wahren Arcana lebenswichtigen Wissens angefangen von den Elisabethanern bis hin zu den Geheimnissen der Hochfinanz; beide beklagten, daß ihnen aus allgemeiner Indifferenz und Beschränktheit wichtige Schlüssel vorenthalten wurden; beide waren überzeugt, daß sie die Welt verändern könnten, wenn sich ihnen nur die Ohren der richtigen Leuten öffneten und beide waren von mal zu mal für paranoide Deutungen dieser Welt anfällig. (97)
Wie Joyce so sprach auch Pound McLuhans sense of sleuthing in arcane lore an. Auch betete McL beständig um Pounds Übertritt zum Katholizismus. Sein unausgesprochener Glaubenssatz war, daß alle Großen Künstler in Wirklichkeit entweder offen oder in ihren geheimen Sympathien Katholiken seien. Solche wie Milton oder Beckett waren dann hoffnungslose Fälle.
Durch geöffnete Fenster weht der Wind. Kenner besaß die Fähigkeit zu vollständiger Absorption und Wiedererinnerung, indem er alles was er las oder hörte in den Säften seines Gehirns garkochte. So konnten Streitigkeiten entstehen, wem die Früchte des abendländischen Brachlandes gehörten, und McLuhan fühlte sich beraubt. Aber wenn er selbst ohne Quellenangabe Scrutiny bändeweise in seinen Seminaren in St.Louis zitiert hatte, konnte man man auch nicht von Plagiat reden. Auch änderte das alles nichts daran, daß Kenner für die Koterie unverzichtbar war. Zehn kompetente Leute in Toronto würden reichen. Sie mußten bereit sein, morgens um vier am Telephon McLuhans neueste Einsichten entgegenzunehmen, denn wie viele hochaktive Leute verteilte er seinen Schlaf in kurzen Nickerchen über den Tag auf Unterhaltungen mit Freunden, Fakultätstreffen und Kinobesuchen.
"Wherever I am, there's a discussion group" sagte Er 1976 einem Reporter. Auch der Lunchroom der Fakultät war ein Ort, an dem er Gespräche bis zum Aufruhr aufheizen konnte. [KM-»] Dieses Aufheissen, -heizen oder -mischen erhöhte für ihn die Informationsverarbeitungskapazität seines diskutierenden Milieus. In den Ausnahmezustand aufgemischt konnte die "clase discutidora" ausgenommen werden. Dasgleiche galt für seine graduierten Studenten. Seine Technik, Brücken über Abgründe von Disziplinen zu spannen, zerschlug ihnen jedes 'aufgesparte' kohärente Wissengebilde und stimulierte sie, sich an den endlosen Strom endlos interdisziplinär zirkulierenden Wissens zu höherem Gewinn wieder zu verausgaben. [«-KM] Als natural pool of potential collaborators konnten sie sich zugleich stimuliert und verheizt fühlen.(99) Sechs bis acht Wochen vor dem Examen gab er den Studenten Leselisten mit rund eintausend Titeln, so ein Student im Interview mit Marchand. Zu hören, was er schon wußte, lehnte er ab. (99)
Von 1946 an begann McLuhan sich mit einer Koterie von graduierten Studenten zu umgeben, den "McLuhanatics". Mit der Zeit entwickelten sich die Glieder oder extensions dieses Corpus oder Apparates zu Filtern oder Ersatzlesern für die wachsende Zahl von Periodika und Bücher, die ihm seine Korrespondenten zusandten. Wie Hugh Kenner ihm ein Fenster auf Joyce eröffnet hatte, so Marianna Ryan mit ihrer Dissertation auf die französischen symbolistischen Dichter. Seitdem zitierte er Mallarmé und die Symbolisten als Schlüsselfiguren für sein Denken. Marianna Ryans Arbeit verstärkte die grundlegenden Vorstellungen, die er sich von den Symbolisten schon in Cambridge gebildetet hatte, so die davon, daß der Inhalt eines Kunstwerkes seine Technik sei.
Auch organisierte McL in den späten Vierzigern halbformelle Diskussionsgruppen, so eine zum Griechischlernen, eine andere zur Lektüre von Finnegans Wake, eine weitere zur Diskussion von zeitgenössischen Psychologen und Anthropologen, die er für besonders einflußreich auf das moderne Denken hielt. Für die moderne katholische Kirche habe das Studium solcher Autoren wie Karen Horney und Carl Jung diegleiche Bedeutung wie das des Aristoteles für Thomas von Aquin. (100)
Solche Koterien wurden nicht nur im akademischen Bereich gebildet. Mit zweien seiner nichtakademischen Freunden gründete McL 1955 eine Gesellschaft, genannt Idea Consultants. Einer der Konsultenten war ein Public-Relation-Mann. Die Gesellschaft offerierte kreative Ideen und basierte auf McLuhans Ansicht, daß ein Außenseiter oft Lösungen für Business-Probleme fände, die den Insidern entgingen. Einer ihrer Slogans in Seinem authentischen kopfschmerzenden Sound war "A headache is a million-dollar idea trying to get born. Idea Consultants are obstreticians for theses ideas." (100) Ein Büro wurde gemietet, ein Logo entworfen und viele Unternehmen mit Vorschlägen eingedeckt. Das waren Ideen für durchsichtige Töpfchen zum Toilettentraining für Kinder, Schilder in Bussen und Untergrundbahnen, die die Namen der Stationen zusammen mit einer Reklame aufleuchten ließen, versiegeltes Essen für Flüge, Sammelfahrten in pollenfreie Zonen für Heuschnupfler und Herstellung und Verkauf von taped movies - um 1955 -, die auf dem Fernseher abgespielt werden konnten, von McL "television platters" genannt.(101)
Seine eigenste Idee war ein Fernsehprogramm, in dem ein Businessproblem gewählt und dramatisiert und den Zuschauern ein Preis für die beste Lösung versprochen wurde. Millionen von Zuschauern würden die richtige Lösung schneller finden als die berühmtesten Think Tanks. Leider verkauften die Idea Consultants nie eine einzige Idee. Ihr Ende verminderte aber nicht im geringsten McLuhans Appetit auf Projekte, die Zeit und Aufmerksamkeit absorbierten.
Das Wachstum des McLuhan-Pattern-Recognition-Organs absorbierte und organisierte auch jede Entspannung. Die Nickerchen im Kino ermöglichten immer noch oder gerade die Wahrnehmung der Struktur des Filmes, der Organisation und des Rhytmus der Einstellungen und so weiter. In St.Louis hatte er seine Studenten zu den Schriften von Pudowkin und Eisenstein geführt und mit ihnen die Umsetzung von Romanen zu Drehbüchern geübt.
Als das Fernsehen in den Fünfzigern erschien, war sein Haushalt der letzte im Wohnblock, wo es ein Gerät absetzte. Damit es nicht das Wohnzimmer beherrschte, wurde es ins Untergeschoß verbannt. Er benutzte es sparsam und unter Führung von TV-Guide, wo er markierte, was er sehen wollte, nicht ohne einen soft spot für leichtere Kost wie Hogan's Heroes oder Bonanza. In den Siebzigern fesselte ihn besonder die Bob Newhart Show, weil sie die einzige sei, die die Natur des Fahrstuhles und die Räume zeige, die dieser schuf, indem sie die Gespräche der Charaktere beim Besteigen oder Verlassen des Fahrstuhls stattfinden ließ. (101) [KM-»] In der Sicht des McLuhan bekannten Werkes von Siegfrid Giedion, Space, Time and Architecture bedeutete das eine Verlagerung des Schwerpunktes sozialer Kommunikation aus dem Privatbereich von Newharts Büro zum mechanischen Kern des Hochauses als neuem Dorfbrunnen der Menschheit des Industriezeitalters. [«-KM]
Seine leistungsstärkste Entspannung jedoch war und blieb talk. Seine Parties wurden streng im Hinblick auf dessen Maximierung geplant. Die Unterhaltung, so eine Partizipantin, war um Themen seiner Selbstdialoge der Woche zentriert, angefangen von den letzten Phänomenen von popular culture bis zu Äußerungen der neuesten Literaturzeitschriften zu Dichtern oder Malern. Seine conversational agenda wurde von Seinen Themen besetzt. Zwischen 1948 und 1949 waren es Mallarmé und die Symbolisten. Kurz danach und durch die Fünfziger hindurch faszinierte ihn das kleine Epos, epyllion. Das Wesen dieser literarischen Form bestand für ihn im interplay zwischen Plot und Subplot, und in diesem Wechselspiel lag seiner Überzeugung nach der Schlüssel zur Literatur des Abendlandes. Er begann an einem Buch zu diesem Thema zu arbeiten, das ihn noch zwölf Jahre später beschäftigte, inzwischen aber verbreitete sich epyllion über sein persönliches Netzwerk.
Zum Zeugen für diese kontagiöse Wirkung seiner "enthusiasms" ruft Marchand Northrop Frye auf, der damals eine beachtliche Karriere als critic begann. [KM-»] Zu Beginn dieser Karriere hatte Frye allerdings einen merkwürdig dunklen Spiegel aufgestellt, Fearful Symmetry, A Study Of William Blake (1947), in dem die Gestalt erschien, die McLuhan so erschreckte, daß er sie unter dem Namen 'Gnosis' vehement zu bekämpfen begann: 'artistische Gnosis' oder die Erlösung einer gefallenen Welt durch ihre Zerstörung und Neuerschaffung in der Imagination des Künstlers. [«-KM] Frye kann also bezeugen: "He would go off the deep end with some word like 'epyllion', and for the next six month all you would her around St. Michael's students was the word 'epyllion.' But he left it to other people to work out the scholarly implications." Verheissung-Verheizung, denn manche Studenten verbrachten mit dieser Ausarbeitung viel Zeit bis sie merkten, so Frye im Interview mit Marchand, "they were getting out of that academic trough, when they were really falling behind the world that we're living in."(102)
McLuhan scherte sich nicht um die Effekte seiner Enthusiasmen. Er war auf der heißen Spur zu Schlüsseln der Erschließung der Welt, und jeden, der ihm nachzufolgen bereit war, hieß er willkommen. Eine vitale Entdekung - und dazu verhalf ihm wohl auf zweilichte Weise auch Fryes Fearful Symmetrie - war der Einfluß Geheimer Gesellschaften, vor allem der weitreichenden und okkulten Kräfte des Freimaurerordens. Im akademischen Jahr 1951-52 wurde er von dieser Entdeckung besessen, nachdem er Popes Verwendung rosenkreuzerischen Materials und einige ähnliche esoterische Rituale und Überlieferungen in den Schriften von Yeats, Pound, Eliot und Joyce entdeckt hatte. Aus aus der Feststellung, daß solche Überlieferung sich von der Renaissance bis ins zwanzigste Jahrhundert erstrecke, sprang er in die Postulierung einer gegenwärtigen Elite, die von Geheimen Gesellschaften in jedem Bereich des zeitgenössischen Lebens gefördert werde.
[KM-»] Dieser Verdacht lag ihm so symmetrisch nahe, daß er gerade mit Pope in The Gutenberg Galaxy eine "Parodie der Eucharistie" als Schwarze Messe feiern konnte, bei der die transsubstantiierenden oder transformierenden Kräfte des Mediums - hier der Schrift und des Buchdrucks - die Welt in den "sable Throne [...] of Night Primaeval, and of Chaos old" verwandeln, bis der große Anarch - Derridas An-Archie der Schrift? - auftritt und den Vorhang vor dem Weltenbrand wegzieht, bei dem "Universelle [Drucker]Schwärze Alles verbrennt". (GG 263) [«-KM]
Okkulte Überlieferungen zogen ihn also selbst stark an. Die Zahlen Drei und Sieben betrachtete er mit religiöser Scheu; Dreizehn war schreckenerregend. Saßen einmal mit Ihm Zwölf zu Tisch, mußte ein Sekretär schnell jemanden dazusetzen. Sich selbst nannte er "a Cancerian, a moonchild". Seinen Lebensgang wurde von lunaren Phasen geregelt. Bei Vollmond stand ihm das Schlimmste und eine frenetisch angespannte Zeit bevor. (103)
Die Gefahren solcher Faszination für einen mit seiner Imaginationkraft waren ihm schon als Untergraduierten bewußt geworden, als ihn telekinesis und ectoplasm in Atem hielten, und er mied solche Kost mit allen Kräften. 1952 schrieb er an Pound, daß er das Jahr mit der Erforschung der Rituale der Freimaurer und Rosenkreuzer verbracht habe. Zu seiner Überraschung und seinem überwältigenden Ekel sei ihm aufgegangen, daß diese Organisationen ihre Tentakel überall in den Künsten und Wissenschaften ausgestreckt hätten. Er äußerte Pound gegenüber eine gewisse Enttäuschung, daß dieser selbst solche okkulten Rituale in seiner eigenen Dichtung benutzt habe.
Natürlich war es, so Marchand, für McLuhan emotional wie imaginativ befriedigend, dieser Phobie nachzugeben. "It was a childlike fun, putting one over on the sneaks and the Masons", sagt eine Bekannte McLs im Interview. Da er selbst inmitten einer Koterie von gedämpft konspirativem Zuschnitt wirkte, lag es ihm nahe, Opposition von Kollegen in Toronto auf die Hochblüte einer oder zweier Geheimer Gesellschaften an anderen Colleges zurückzuführen. Nun waren diese auf seine Anwesenheit aufmerksam geworden und so war es immer schwieriger für ihn, jemanden zu finden, der ihn publizieren würde. In einem Brief an Pound zitierte er eine Bemerkung von Wyndham Lewis: "The secret of success is secrecy". Jetzt habe er den Sinn dieses Hinweises verstanden. Pound replizierte sardonisch in seinem Pound-Code: "No harm in McL/ succeding [sic] by secrecy if it don't degeneete [sic] into mere nonbeing." (103)
Geheime Gesellschaften, behauptete McLuhan, benutzen Rituale und eine Liturgie, die die Partizipanten direkt mit okkulten spirituellen Kräften in Kontakt brächten. Diese Kräfte existieren in zeitlosen patterns. Für die Gesellschaften waren diese Muster die einzige Realität und die Welt bloße Erscheinung. Dafür gab es verschiedene Kennzeichnungen wie "gnostisch", "hermetisch", "buddhistisch", "neuplatonisch" und so weiter. Sie bedeuteten eine tödliche Bedrohung für die katholische Kirche, die mit Aristoteles behauptete, daß die Sinne den Geist nicht täuschten und daß die materielle Welt zuverlässig real war.
Die katholische ('aristotelische') Kirche insistierte darauf, daß die Mittel der Erlösung keine artistischen oder okkulten Rituale seinen, sondern Sakramente. Die Rituale geheimer Gesellschaften hingegen waren Parodien der Sakramente, vor allem der Eucharistie als schwarze Messe. McLuhan war der Überzeugung, daß um ihn herum schwarze Messen gefeiert würden und daß die "personal" comlumns in den Torontoer Zeitungen kodierte Botschaften enthielten bezüglich Zeit und Ort solcher Messen. Ein bevorzugter Ort ihrer Zelebrierung, glaubte er aus gewissen Gründen, war die Casa Loma, ein großes leerstehendes edwardianisches Herrenhaus und zugleich eine Touristenattraktion nicht weit von der Universität. Darin war er so leichtgläubig in der Einfalt seines Herzens, daß zwei graduierte Studenten ihm eine Geschichte über mitternächtliche schwarze Messen in der Ägyptologischen Sektion des Royal Ontario Museums aufbinden konnten. [KM-»] Aber auch in der Literatur wurden schwarze Messen gefeiert. Wie schon oben angeführt, fand er sie in The Dunciad von Pope so wie er sie dann auch im Werk von Joyce entdeckte. [«-KM]
In vorderster Linie der geheimen Gesellschaften stand in seinen Augen der Freimaurerorden als historischer Feind der katholischen Kirche. Die Geschichte des Abendlandes sah er auf unbekannte Weise von diesem Orden geformt. So konnte der amerikanische Bürgerkrieg für ihn die Bedeutung eines Kampfes zwischen dem nördlichen und südlichen Zweig dieses Ordens annehmen. Als Kennedy 1961 bei seiner Amtseinführung mit dem Ablegen des Eides in Verzug geriet, sah er darin nicht die wahrscheinliche Auswirkung eines Schneesturms, sondern den Versuch des Katholiken Kennedy, den Zeitpunkt des Schwurs nicht auf eine im freimaurerischen Ritual hochbedeutsame Zeit, high noon, fallen zu lassen. (104)
Natürlich war McLuhan besonnen genug, diese Ansichten nicht öffentlich zu äußern und seit den sechziger Jahren schwieg er dazu auch in Unterhaltungen mit Freunden und Kollegen am St.Michael's - obwohl er dann doch, entsetzt angesichts der post-Vatican II changes in der katholischen Kirche, den Verdacht nicht nicht äußern konnte, daß einige Prälaten der Kirche einschließlich des Torontoer Erzbischofes Philip Pocock heimliche Freimauer seien. Die These der freimaurerischen Verschwörung, so das Ergebnis zweier Interviews Marchands schien McLuhan nie wirklich aufgegeben zu haben.
Ganz sicher aber gab er nie den Glauben auf, daß sein großer Rivale im English department der Universität von Toronto, Northrop Frye, in seinem Herzen, wenn nicht sogar faktisch - in "furchtbarer Symmetrie" - ein Freimaurer sei. Fryes Literaturtheorien und seine feierliche Ergebenheit gegenüber Mythos, Symbol, Archetyp and so on lieferten McLuhan eine große Resonanz für seine Ansicht. Die Allgegenwart großer allüberbrückender Kategorien in Fryes Schule des literary criticism stand, abgesehen von ihrer Tendenz, Literatur in eine Reihe von geistigen Zwangsjacken zu stecken, in enger Verbindung zu den zeitlosen und überirdischen Visionen der Gnosis und des Neuplatonismus, die McL in den geheimen Gesellschaften entdeckt hatte.
Auch tendierte Fryes critical ideology dazu, aus Literatur eine Religion zu machen, eine Religion, die McL, der doch schon eine hatte und mit ihr vollauf zufrieden war, von ganzem Herzen verabscheute. Sicher wurde er manchmal verdächtigt, rücksichtslos der realen Welt intellektuelle Muster aufzuzwingen, und mehr von Ideen und Formen als von der Realität beeindruckt zu sein. Soviel er aber auch, notiert Marchand salomonisch, hier in praxi von der Vorstellung abgeirrt sein mag, that all the particulars of God's creation were unique and radiantly existent (105), hielt er doch mit einer gewissen unzerstörbaren Treue an dieser Vorstellung fest.
Die Rivalität zwischen McLuhan und Frye gipfelten in einem Pamphlet unter dem Titel Have with you to Madison Avenue; or The Flush Profile of Literature, das McL auf einer Diskussionsrunde zu Fryes Anatomy of Criticsm von 1957 unter fremden Namen vorlesen lassen wollte. Darin wurde Frye vorgeworfen, den eigentlichen Criticism als Formierung der Perzeptionsfähigkeit durch Literatur verlassen zu haben zugunsten einer pseudowissenschaftlichen Auswertung der features von Literatur, vergleichbar in etwa der Auswertung der Profile von Konsumentengruppen, die Madison Avenue vornahm. Flush profile war ein solches Profil der Reaktion von Zuhörern oder Zuschauern von Radio- und Fernsehprogrammen, bei der die Häufigkeit der Betätigung des Toilettenspülung gemessen wurde.
[KM-»] Angesichts der polemischen Nähe, in der hier Fryes criticism und Madison Avenue unter der versteckten Klammer der Etiketten 'Gnosis', 'Hermetik', 'Neuplatonismus' usw. im Gestus des Hinunterspülens zusammengedrückt werden, hinterläßt McLuhans spätere Übereignung arkaner Traditionen an Madison Avenue wie z.B. der Art of Memory die Frage, welche geheime Verwandschaft (oder Analogie) der sleuth hier erschnüffelt oder verfügt hatte. Auch schöpfte er ja ausdrücklich aus arcane lore (Marchand S.97) und hatte im Interview mit Gerald E. Stearn erklärt : "Das meiste, was ich zu sagen habe, ist aus zweiter Hand, jedoch aus esoterischen Quellen gesammelt. Die Gebiete, die ich am liebsten frequentiere, sind Gebiete, wo sehr wenig Leute sich jemals lange aufgehalten haben." [«-KM]
McLuhans Sozialkritik/social criticism fand langsam ein breiteres Publikum. 1947 veröffentlichte er American Advertising in dem bekannten englischen Kulturjournal Horizon. Im unverkennbaren Leavis-Ton wiederholte er seine Forderung nach einem rigorosen Studium der Effekte und Techniken der Reklame. Zugleich zeigte er, daß keiner Reklame mehr haßte wie er. Gerade aus diesem Grund hatte er einen tiefen, ja qualifizierten Respekt vor der artistry of advertising - artistry ohne Anführungszeichen geschrieben. Wie die großen Künstler wußten auch die advertiser, daß sie bestimmte Effekte bei ihrem Publikum erreichen mußten. Deswegen benutzten sie oft diegleichen Mittel, unter anderem die Techniken der Symbolistischen Dichter und der antiken Rhetoriker.
Den Höhepunkt seiner Erforschung von advertising erreichte er 1951 mit der Veröffentlichung seines ersten Buches, The Mechanical Bride. Den Ausdruck "Age of the Mechanical Bride" hatte er schon 1945 in mit Dias illustrierten Vorlesungen benutzt. Das Thema der Vernichtung von Familie, menschlicher Freiheit und Fühlsamkeit durch die technologische Gesellschaft aber beherrschte ihn schon seit 1940. Der Plan, dieses Thema in Buchform mit Reproduktionen von Reklamen und Comics und mit kurzen kommentierenden Essays zu behandeln, war also eine Weiterentwicklung seiner slide-and-lecture series zum gleichen Thema; schließlich war das Projekt eindeutig von Leavis' Culture and Environment bestimmt und durch ähnliche exhibits in Wyndham Lewis' Buch von 1932, The Doom of Youth, bestärkt.
Jahre vor Erscheinen der Bride hatte McLuhan schon die Gewohnheit angenommen, Reklameanzeigen, Comics und Zeitungsartikel auszuschneiden, in Umschläge zu stecken und in eine Lebensmittelkiste zu stopfen. Was dann eines Tages kurz nach Kriegsende bei Vanguard Press in New York auftauchte war eine solche Kiste zusätzlich mit einem Manuskript. Für einen beschäftigten Herausgeber, so eine Herausgeberin, war diese Kiste ein Horrendum, das Letzte, was man öffnen würde. Sie verschwand schnell in einem "back office". Schließlich wurde sie doch geöffnet : was für faszinierende Schätze! Der Verlag bestand allerdings auf mehr Klarheit und Kohärenz und zeigte damit, daß er eher die Luft von Thomas Babington Macauly atmete, während die Kiste dem Universum Ezra Pounds und seines Guide to Kulchur entstammte. Das Unverständnis, auf das McLuhan stieß und die Schnitte, die dann vorgenommen werden mußten, schmerzten ihn umso mehr, als er sie auf einen diffusen homosexuellen Einfluß in der Verlagswelt zurückführen mußte, die von der männlichen Kraft seiner Prosa so erschreckt war, daß sie nur zur Schere greifen konnte. (109)
So erschien das Buch nach sechsjährigem Kampf mit dem Verlag, und das war dann, so meinte McL später, genau der Zeitpunkt, an dem TV seine wichtigsten Aussagen irrelevant gemacht hatte. Die mechanische Braut erschien auf der Bildfläche, als die elektronische sie schon erobert hatte. Auf jeden Fall war es sein letzter Protest gegen die Verwüstungen durch Kapitalismus, Industrialisierung, dialektisches Denken und mechanische Automatisierung. Bald sollte die Kritik der Automatisierung in die Entdekung einer durch sie bewirkten neuen Tribalisierung umkippen. Damit hatte McLuhan die letzten Spuren von moralischer Entrüstung abstreift. Nach diesem letzten beißendem Lebewohl an die Zivilisation des Maschinenzeitalters war der Weg frei, völlig ungehindert vor Vorurteilen in der Rolle des Erforschers und ruhelosen Suchers nach Einsichten aufzugehen. (110)