ACHTES KAPITEL
Die Quellen der Charakteristik von Leibniz

In einem April 1671 in Frankfurt geschriebenen Brief brachte Leibniz seine Begeisterung für das Werk Wilkins zum Ausdruck: "Ich habe vor kurzem den character universalis des hochgelehrten Wilkins gelesen; seine Tafeln gefallen mir sehr und ich wollte, er hätte Figuren benutzt, um jene Dinge auszudrücken, die nur mittels der Malerei beschrieben werden können, wie zum Beispiel die Arten der Tiere, der Pflanzen und der Werkzeuge. Wie wünschenswert wäre eine Übersetzung seines Werks ins Lateinische!" Diegleiche Hoffnung auf eine schnelle Übersetzung zeigte Leibniz zwei Jahre später in einem Brief an Oldenburg. Erst 1679/80, nach den Jahren des Aufenthalts in Paris und London, kommen einige grundsätzliche Zweifel zu Wort. "Ich höre, daß der berühmte Mann [Robert Hook] die philosophischen Charaktere {genauer: den philosophischen Charakter} des Bischofs Wilkins, denen auch ich den gebührenden Respekt zolle, in Ehren hält. Ich kann indes nicht verschweigen, daß etwas viel Größeres und Nützlicheres erreicht werden kann. So viel größer, wie die Charaktere der Algebra besser sind als die der Chemie."
Die Gegenüberstellung der Symbole der Algebra und der Chemie ist sehr bezeichnend. Für Leibniz handelt es sich nicht nur darum, eine Sprache zu konstruieren, welche die Kommunikation erleichtern könnte, sondern um eine universale Schrift, mit der sich wie in der Algebra und Arithmetik Beweise konstruieren ließen. Die veränderte Position, die Leibniz in diesem Brief einnimmt, bestätigt noch einmal (aus einer speziellen Frageperspektive) die Gültigkeit einer Deutung, die in dem Aufenhalt in Paris und London (März 1672 - Oktober 1676) eine Wende im leibnizianischen Denken sieht. In diesen Jahren widmete Leibniz sich dem Studium der Mathematik und trat mit dem Cartesianismus und den lebendigsten Strömungen des europäischen Denkens in Kontakt. Das Interesse für die syntaktischen Aspekte der Sprache, die Entdeckung der "Magie des Algorithmus" oder der "Funktionalität" der formalen Prozeduren und die Behauptung der Möglichkeit einer Generalwissenschaft der Formen: diese Themen und Diskussionen entwickeln sich nach den Jugendjahren und setzten die Annäherung der Methoden der Kombinatorik an die der Mathematik und Algebra voraus.
Das leibnizianische Projekt einer Universalcharakteristik war bekanntlich auf drei Prinzipien gegründet: 1) die Ideen sind analysierbar und es ist möglich, ein Alphabet des Denkens aufzufinden, das aus dem Katalog der elementaren oder primitiven Begriffe besteht; 2) die Ideen können symbolisch repräsentiert werden; 3) eine symbolische Repräsentation der Beziehungen zwischen den Ideen ist möglich, und mithilfe geeigneter Regeln kann man ihre Kombination vornehmen. Dieses Projekt von Leibniz entstand dennoch sicher nicht auf dem Boden der "Algebra" oder des zeitgenössischen "logischen Formalismus" .
W. Kabitz hat in der Bibliothek von Hannover das von Leibniz annotierte Exemplar der Werke von Bisterfield wiedergefunden, und es ist sicher, daß die für die Ausbildung der leibnizianischen Kombinatorik grundlegende Idee eines Alphabets des menschlichen Denkens oder eines Katalogs der primitiven Begriffe, aus deren Kombination die komplexen Ideen gewonnen werden können, abgesehen von der allgemeinen Tradition des Lullismus auf diesen Autor zurückgeht. Aus einem Brief, wahrscheinlich an Boineburg, der eine der ersten Formulierungen der Charakteristik enthält, geht hervor, daß Leibniz das Projekt des Pater Kircher in der Substanz akzeptierte: an die Stelle der fundamentalen Begriffe und Ideen treten Kreisfiguren, Quadrate und Dreiecke in verschiedener Disposition; durch die Kombination der Figuren können die Relationen und Kombinationen zwischen den Ideen dargestellt werden. Neben den Namen von Bisterfield und Kircher finden wir in der Dissertation de arte combinatoria von 1666 die von Lull und Bruno, von Agrippa und Pierre Gregoire, von Alsted, Bacon und Hobbes. Die Kritik, die Leibniz an Lull übte, betraf durchaus nicht das inspirierende Prinzip der Kombinatorik: es betraf die Willkürlichkeit der Klassen und Wurzeln {R:classi;radici} und die Beschränktheit der Kombinationen. Die Berufung auf Baco war durch die Tatsache gerechtfertigt, daß der Verulamer eine inventive Logik unter die desiderata gesetzt hatte; die auf Hobbes durch die Identifikation der mentalen Operationen mit einer computatio. Dieser letzte Verweis darf nicht in die Irre führen: Leibniz beschränkt sich darauf, die in Hobbes' Werken vorhandene, aber auch in den Werken des Lullismus sehr weit verbreitete Annäherung der Logik an einen "Calculus" zu billigen. Wie Louis Couturat sehr schlüssig gezeigt hat, ist das Gewicht des Einflusses von Hobbes auf die Idee der Charakteristik ziemlich gering und in der Interpretation des Calculus entfernt Leibniz sich radikal von den hobbesianischen Positionen. In jedem Fall herrschen unter den von Leibniz angegebenen Quellen die lullianischen Werke und die der Enzyklopädisten vor; indem er sich auf die Schriften von Bruno, Agrippa und Alsted beruft, verweist Leibniz auf die gefeiertsten Darstellungen und weitverbreitetsten Kommentare der Ars Magna. In der Syntax von Gregoire hatte er die deutlich ausgedrückte Aspiration auf eine Generalwissenschaft gefunden, die auf der Bestimmung {R:determinazione} einer begrenzten Reihe von Prinzipien und Axiomen gegründet war. Aus der Technica curiosa sive mirabilia artis des Caspar Schott, einem der höchst charakteristischen Werke der "Magie" der Jesuiten des siebzehnten Jahrhunderts, hatte er Kenntnisse über die Universalsprachen geschöpft. 
Das fundamentale Problem der inventiven Logik, wie sie in der Dissertatio de arte combinatoria dargestellt wird, besteht darin, alle möglichen Prädikate zu einem gegebenenen Subjekt zu finden und, ein Prädikat gegeben, alle seine möglichen Subjekte zu finden. Indem wir (wie es für unser Thema legitim ist) eine größere Reihe von eher technischen Problemen übergehen, begnügen wir uns damit, auf den Spuren der Darstellung von Belaval ein Beispiel für die Vorgehensweise von Leibniz zu geben. Um das oben angedeutete Problem zu lösen, müssen die einfachen und primitiven Ideen identifiziert werden, die mit einem konventionellen Zeichen angezeigt werden können, in diesem Fall mit einer Zahl. Seien die Termini der ersten Klasse: 1) der Punkt; 2) der Raum ; 3) das Dazwischen; 4) das Angrenzende; 5) das Entfernte; (...) 9) der Teil; 10) das Ganze; 11) das Selbe; 12) das Verschiedene; 13) das Eine; 14) die Zahl, 15) die Vielheit; 16) die Entfernung; 17) das Mögliche, etc. Wenn man die Termini der ersten Klasse paarweise kombiniert (com2natio) erhält man die Termini der zweiten Klasse. So wird zum Beispiel die Quantität (die Anzahl der Teile) durch die Formel 14twn9 (15) repräsentiert. Durch die Kombination der Termini zu dritt (com3natio) erhält man die Termini der dritten Klasse: z.B. ist intervallum 2.3.10, nämlich der Raum (2) als Dazwischen (3) in einem Ganzen (10). Und so weiter über com4natio, com5natio etc. Um die Prädikate eines bestimmten Subjekts zu finden, genügt es, einen Terminus in seine ersten Faktoren zu zerlegen, um dann die möglichen Kombinationen dieser Faktoren zu bestimmen. Die möglichen Prädikate für Intervall sind eins nach dem andern genommen: der Raum (2), das Dazwischen(3), das Ganze (10); dann als com2natio genommen der Raum als Dazwischen (2.3), der Raum als Ganzes (2.10), das Dazwischen im Raum {als Ganzem} (3.10); schließlich als com3natio das Produkt 2.3.10, das die Definition von Intervall bildet. Um alle möglichen Subjekte von Intervall (als Prädikat) zu finden, muß man alle Termini bestimmen, deren Definition die Faktoren 2.3.10 enthalten. Alle Kombinationen, die aus diesen Faktoren bestehen, gehören notwendigerweise zur Klasse der komplexen Begriffe von höherer Ordnung als der von Intervall (es gehört zur dritten). So gehört die Linie, die als Intervall zwischen zwei Punkten definiert wird, zur vierten Klasse, denn zu ihrer Definition gehören drei primitive Termini: 2.3.10 und 1 (der Punkt). Wenn n elementare Termini gegeben sind und k ( n > k ) die Anzahl der primären Faktoren ist, die ein Prädikat wie z.B. Intervall bilden, dann ergeben sich 2n-k mögliche Subjekte (darin eingeschlossen der tautologische Satz: "ein Intervall ist ein Intervall").
Die Charakteristik wurde dennoch, wie Couturat bemerkt hat, nicht ursprünglich in der Form einer Algebra oder eines Calculus konzipiert, sondern in der einer universalen Sprache oder Schrift. Die Anwendung XI der ars combinatoria besteht für Leibniz tatsächlich in der Erfindung einer "universalen, das heißt jedem in welcher Sprache auch immer geschickten Leser verständlichen Schrift". Unter den zeitgenössischen Werken über Universalsprachen bezieht sich Leibniz auf die Darstellung einer anonymen Arbeit durch Schott - einer 1653 anonym in Rom veröffentlichen Schrift, in der "die Methode ziemlich ingeniös der Natur der Dinge entnommen war: der Autor verteilte die Dinge auf verschiedenen Klassen und jede Klasse wurde von einer bestimmten Anzahl von Dingen gebildet" : um irgendeinen Gegenstand zu bezeichnen, genügte es, die Zahl der Klasse und die des Gegenstandes anzugeben. Die beiden anderen von Leibniz erwähnten Werke sind: Character pro noticia linguarum universalis von J. Becher (Frankfurt 1661) und die Polygraphia nova et universalis ex combinatoria arte detecta des Pater Athanasius Kircher (Rom 1663). Beide Werke sind auf der Grundlage eines numerischen Wörterbuches jenes Typs entworfen worden, auf den wir anläßlich des Universal Character (1653) von Cave Beck verwiesen.
Es zum Allgemeinplatz der historigraphischen Leibnizforschung geworden, den "formlosen Entwürfen" oder "vagen und konfusen" Projekten von Universalsprachen der "Vorgänger" von Leibniz seinen klaren, "wissenschaftlichen" und kohärenten Plan einer philosophischen Sprache entgegenzustellen. In Wirklichkeit (wenn man nicht irgend jemand als "Vorgänger" bezeichnen will, um sich die Mühe zu ersparen, seine Werke zu lesen) verhält es sich etwas anders. Als Leibniz in der Dissertatio de arte combinatoria sein Universalsprachenprojekt formulierte, kannte er weder die Ars signorum von Dalgarno, die 1661 publiziert wurde, noch offensichtlich den Essay von Wilkins, der 1668 das Licht erblickte. In diesen Jahren verstand Leibniz, auf den Spuren von Bacon und Kircher, die Charaktere der Universalsprache noch als zusammengesetzt aus "geometrischen Figuren und Bildern von der Art, wie sie einst von den Ägyptern benutzt wurden und heute von den Chinesen angewandt werden; Bilder, die nicht auf ein bestimmtes Alphabet oder auf Buchstaben zurückgeführt werden, was für die Memoria Ursache unglaublicher Betrübnis ist." Die Vorbehalte, die er gegenüber dem Werk von Becher vorbrachte, waren andererseits denen ziemlich ähnlich, die Wilkins unabhängig von Leibniz formulieren sollte: die Ambiguität der Begriffe, die in verschiedenen Sprachen verschiedene Bedeutungen haben; angesichts des Mangels an exakten Synonymen die Unmöglichkeit einer genauen Entsprechung zwischen den Begriffen zweier Sprachen; angesichts der Vielfalt der syntaktischen Regeln die Unmöglichkeit einer bloßen und einfachen Übersetzung der Begriffe in ihrer Reihenfolge; schließlich die Schwierigkeit, jene Zahlen im Gedächtnis zu behalten, die nicht nur den Klassen, sondern auch den jeder Klasse zugehörigen Gegenständen entsprechen. Eine universale Schrift oder Sprache, die diesen Gefahren entgehen wollte, müßte auf einer vollständigen Analyse der Begriffe und auf ihrer Reduktion auf elementare Termini gegründet sein.
Anfang 1671 las Leibniz den Essay über die Realcharaktere von Wilkins, und wahrscheinlich zur selben Zeit die Ars signorum von George Dalgarno. Sein Enthusiasmus für das Werk Wilkins' und sein Wunsch, den Essay ins Lateinische übersetzt und in Europa verbreitet zu sehen, erscheinen nach allem was gesagt ist voll gerechtfertigt. Im Essay und in der Ars signorum hatte er den (zumindest zum Teil realisierten und von ihm selbst schon in der Dissertatio anvisierten und durchgeführten) Versuch gefunden, eine Universalsprache zu konstruieren, die außerdem "künstlich" und "philosophisch", nämlich nicht auf der Basis einer Übereinsprechung zwischen Wörterbüchern, sondern auf der einer Klassifikation der Begriffe konstruiert wäre. Seine Kritiken an Dalgarno und Wilkins entstanden, wie wir gesehen haben, erst in den Jahren des Aufenthalts in Paris: In einer seinem Exemplar der Ars signorum beigefügten Notiz und in einem Brief an Oldenbourg (aus Paris geschrieben) kritisierte er die beiden englischen Autoren und behauptete, daß sie statt eine wirklich "philosophische", nämlich die logischen Relationen zwischen den Begriffen anzeigende Sprache zu konstruieren, sich nur mit einer Schrift beschäftigt hätten, die den Verkehr unter den Nationen erleichtern könnte. Die internationale Sprache, - fügte Leibniz hinzu - ist nur der geringste Vorteil, deb due universale Sprache bietet: diesie ist vor allem ein instrumentum rationis. Aber in der Art, wie er die Universalsprache entwarf (der von Leibniz oft verwendete Begriff Realcharakteristik stammte ganz offensichtlich aus der von Wilkins wiederaufgenommenen baconischen Terminologie), rückte Leibniz nicht viel von den traditionellen Positionen ab. In dieser Hinsicht erscheinen einige seiner Aussagen besonders signifikant und können uns die Nähe einiger seiner Thesen zu denen zeigen, welche die englischen Theoretiker der Universalsprache vertraten:
1) Die Universalsprache oder Realcharakteristik besteht aus einem System von Zeichen, die "direkt die Gedanken repräsentieren, nicht die Worte", dergestalt daß sie unabhängig von der Sprache, die wirklich gesprochen wird, gelesen und verstanden werden können.
2) Die Konstruktion einer Universalsprache fällt mit jener einer Univeralschrift zusammen: "es spielt keine Rolle, ob wir nur eine universale Schrift konstruieren wollen, oder auch eine universale Sprache, denn wir können beide in ein und derselben Arbeit herstellen".
3) Auch wenn er ausdrücklich erklärt, von der Tradition abrücken zu wollen, sieht Leibniz in den ägyptischen Hieroglyphen, den chinesischen Chakteren und den von den Chemikern verwendeten Zeichen die Beispiele einer Realcharakteristik {CU:Characteristicae realis exempla}. "Daß die Hieroglyphen der Ägypter und der Chinesen und bei uns die Zeichen der Chemiker Beispiele einer Realcharakteristik sind, gebe ich zu, aber bis jetzt von der Art, wie sie jene Autoren entworfen haben, nicht von der unsrigen."
4) Die universale Sprache kann in allerkürzester Zeit ("in wenigen Wochen", wiederholt Leibniz mit Dalgarno) erlernt werden und dient außerdem der Verbreitung des christlichen Glaubens und der Bekehrung der Völker:
diese Schrift oder Sprache ... könnte schnell in der Welt angenommen werden, weil sie in wenigen Wochen erlernt werden könnte und eine allumfassende Kommunikation ermöglichen würde: das wäre von großer Bedeutung für die Verbreitung des Glaubens und für die Unterrichtung der fernen Völker.
5) Das Erlernen der universalen Sprache fällt mit dem Erlernen der Enzyklopädie oder der systematischen Ordnung der Fundamentalbegriffe zusammen. Das Projekt der Enzyklopädie ist organisch mit dem der universalen Sprache verbunden und von ihm untrennbar: "wer diese Sprache erlernt, lernt zugleich auch die Enzyklopädie, die das wahre Eintrittstor zur Wissenschaft ist" {R:la vera porta die ingresso alle scienze; CU:vera..janua rerum}.
6) Das Erlernen der universalen Sprache bildet in sich selbst ein Heilmittel gegen die Schwäche der Memoria: "wer einmal diese Sprache erlernt hat, wird sie nicht wieder verlernen oder, wenn er sie verlernt hat, sich von allein leicht alle notwendigen Vokabeln wieder aneignen".
7) Die Überlegenheit der universalen Sprache über die chinesische Schrift besteht in der Tatsache, daß die Verbindungen zwischen den Charakteren der Ordnung in und den Verbindungen unter den Dingen entspricht: "sie läßt sich in wenigen Wochen erlernen weil im Unterschied zur chinesischen die Charaktere gut untereinander verknüpft sind gemäß der Ordnung und der Verbindung unter den Dingen. {CU:selon l'ordre et la connexion des choses}"
In zwei ganz wesentlichen Punkten also setzt sich Leibniz von den vorangehenden Versuchen ab:
1) Die Charaktere der universalen Sprache haben die Aufgabe, die Verbindungen und Beziehungen unter den Gedanken auszudrücken; wie im Fall der Algebra und der Arithmetik sollen die Charaktere der Invention und dem Urteil dienen. "Diese Schrift, schreibt Leibniz 1679, wird eine Art allgemeiner Algebra sein und ein Denken als Rechnen ermöglichen, so daß man, statt zu disputieren, wird sagen können: laßt uns rechnen. Dabei wird sich zeigen, daß die Fehler des Denkens wie in der Arithmetik durch Beweise auffindbare Rechenfehler sind." Das Projekt einer universalen oder philosophischen Sprache, das Leibniz mit neuem Elan nach der Lektüre von Dalgorno und Wilkins wiederaufgenommen hatte, konnte so neben das schon in De arte combinatoria eingeleitete gestellt werden, das auf die Konstruktion einer als Kalkül konzipierten ars inveniendi zielte.
2) Die Konstruktion einer Universalsprache führt also nicht nur zu einem Kommunikationsmittel, sondern auch direkt zur Realisierung der ars inveniendi. Der in der Universalsprache einem bestimmten Gegenstand oder einem bestimmten Begriff zugeteilte Name (Zeichen) dient nicht nur dazu, die Beziehungen zwischen der bezeichneten Sache und den anderen, der gleichen Klasse oder Spezies zugehörigen Dingen zu bestimmen, sowie die Beziehungen zwischen der Sache selbst und den Differenzen und Genera, in denen sie enthalten ist; der Name dient nicht nur zur Bezeichnung der "Position", die das Objekt im Plan des Universums einnimmt: er dient auch dazu, "die [Erfahrungs]Versuche {R:esperienze} anzuzeigen, die auf rationale Weise angestellt werden müssen, um unser Wissen zu erweitern."
Ich gebe zu, wie es die Sache selbst fordert, daß wir dem Namen, den wir (zum Beispiel) dem Gold beigelegt haben, nicht die chemischen Phänomene entnehmen können, die von der Zeit und dem Zufall offenbart werden, solange wir nicht auf eine hinreichende Zahl von Phänomenen gestoßen sind, um daraus andere zu bestimmen. {ergänze CU: «Nur Gott kann auf diese Weise - primo intuito - den Dingen Namen geben»} Dennoch wird der Name, der dem Gold in dieser Sprache gegeben wird, der Schlüssel von all dem sein, was man vom Gold auf menschliche Weise, nämlich mit Vernunft und Ordnung wissen kann, so wie aus ihm auch ersichtlich sein wird, welche Versuche mit dem Gold auf vernünftige Weise eingerichtet werden sollen.
In dem langen Fragment mit dem Titel Lingua generalis (Februar 1678) konnte sich so das erste von Leibniz entworfene System des logischen Kalküls als die Grundlegung des leibnizianischen Projekts einer Universalsprache präsentieren.
Um die Charakteristik (die numerische Symbole benutzte) in eine Sprache umzuwandeln, die "gesprochen" werden kann, griff Leibniz, wie Couturat nachgewiesen hat, auf von Dalgarno und Wilkins entwickelte Methoden zurück und bezeichnete mit den neun ersten Konsonanten (b, c, d, f, g, h, l, m, n) die Zahlen von 1 bis 9, und mit den fünf Vokalen die Zehnereinheiten in aufsteigender Folge (1, 10, 100, 1000, 1000); für die größeren Einheiten ließ er den Gebrauch von Diphthongen zu: So wird die Zahl 81.374 als Mubdilefa geschrieben und ausgesprochen. Da jede Silbe über ihren Vokal ihre Dezimalposition ausdrückt, ist der Wert dieser Silbe unabhängig von der Stelle, die sie in dem Wort einnimmt. Die selbe Zahl kann durch den Ausdruck Bodefalemu ausgedrückt werden, der 1000 + 300 + 4 + 70 + 8000 = 81.374 bedeutet.
Es ist hier nicht der Ort, Leibnizens Lehren zur rationalen Grammatik darzulegen, noch seine Versuche einer grammatikalischen und syntaktischen Vereinfachung des Latein, auf das er nach wiederholten Mißerfolgen als "Zwischensprache" zwischen den lebenden und der zukünftigen Universalsprache zurückgreift. Es ist jedoch sicher, daß das Problem der Entwicklung eines Wörterbuchs Leibniz mit einer Frage konfrontierte, mit der sich schon nicht wenige der englischen Theoretiker der Universalsprache herumgeschlagen hatten. Damit der Name jedes Gegenstandes oder Begriffs die Definition des Gegenstandes oder Begriffs so ausdrüken kann, daß die Termini der künstlichen Sprache ähnlich denen der Sprache Adams adäquate und transparente Symbole werden, ist es nötig, die ersten und einfachen Elemente bestimmt zu haben, die das Alphabet des Denkens bilden. Aber um dieses Alphabet zu bestimmen, ist ein Inventar aller menschlichen Kenntnisse notwendig; eine Enzklopädie ist unverzichtbar, in der alle Begriffe im Feld eines einheitlichen Systems klassifiziert sind und so auf eine begrenzte Anzahl von Fundamentalkategorien zurückführbar erscheinen.
Die Charakteristik, die ich mir zum Ziel setzte, erfordert eine Art neuer Enzyklopädie. Die Enzyklopädie ist ein Corpus {CU: un corps}, in dem die wichtigsten menschlichen Kenntnisse systematisch geordnet sind. Wenn einmal die Enzyklopädie in der Ordnung, wie ich sie mir vorstelle, eingerichtet ist, wird die Charakteristik sozusagen fertig sein.
In einer Reihe sehr zahlreicher Skizzen , Fragmenten, Entwürfen, Kapiteln oder Abschnitten, die als provisorische specimina entwickelt und Gesellschaften, Akademien, Fürsten und Souveränen angeboten wurden, war Leibniz zeitlebens damit beschäftigt, das Projekt einer Universalenzyklopädie zu entwickeln, die sich nicht einfach als Klassifikation oder Bilanz der schon erworbenen Kenntnisse präsentierte, sondern "beweisenden" {R:dimostrativo} Wert hätte und als Führer in der wissenschaftlichen Forschungspraxis dienen könnte. Über die "Quellen" nicht weniger dieser Projekte informieren am besten die Zeugnisse von Leibniz selbst. In der Nova methodus iurispridentiae finden wir direkte Hinweise auf Lavinheta, dem das Verdienst zuerkannt wird, die fundamentalen juristischen Begriffe bestimmt zu haben, aus denen die enzyklopädische Tafel des Rechts konstruiert werden kann. In einem Brief von 1714 sprach Leibniz im Hinblick auf seine Jugendzeit von dem Einfluß, den auf ihn das Digestum sapientiae des Ivo Paris ausgeübt hatte. Mehrmals kam er auf das Werk von Alsted zurück, der schon in der Dissertatio von 1666 wegen seiner lullianischen Schriften erwähnt wurde: 1681 sprach er bewundernd von ihm, zehn Jahre zuvor hatte er eine kurze Schrift der Verbesserung und Vervollkommnung seiner großen Enzyklopädie gewidmet. Noch tiefer in der Schuld steht er gegenüber Comenius: "meine eigene Enzyklopädie unterscheidet sich nicht viel von der von Comenius": von Comenius hatte Leibniz die (zentrale) These von der substantiellen Identität zwischen Universalsprache und Enzyklopädie übernommen.
Bei dem leibnizianischen Kommentar zum Brief des Cartesius über die universale Sprache hatten wir gesehen, wie Leibniz sich des "Parallelismus" zwischen dem Projekt der Universalsprache und dem der Enzyklpädie bewußt wurde. In einem Passus mit ungewisser Datierung hatte er sich geweigert, die Charakteristik von der Enzyklopädie "abhängig" zu machen: "Auch wenn diese Sprache von der wahren Philosophie abhängt, hängt sie nicht von ihrer Vollkommenheit ab. Das will sagen: diese Sprache kann konstruiert werden, auch wenn die Philosophie nicht vollkommen ist." In diesem Punkt zeigt die Position von Leibniz jedoch nicht wenige Unsicherheiten: in einem Brief an Burnet vom 24 August 1697 behauptete er in ganz gegensätzlicher Richtung, daß "die Charaktere die wahre Philosophie voraussetzten und nur von dieser würde ich es wagen, meine Konstruktion in Gang setzen zu lassen." Diese doppelte Sichtweise, hat Francesco Barone geschrieben, entspricht "der doppelten Sichtweise Leibniz' auf die Charakteristik, indem er sie je nachdem als absolutes metaphysisches Instrument ansieht oder als Instrument zur Konstruktion von deduktiven Teilsystemen".
Diese Beobachtung ist sehr richtig. Als Instrument, als dem algebraischen Formalismus nachgebildeter Calculus braucht die Charakteristik nicht die vorgängige Grundlegung durch die wahre Philosophie: Charakteristik und Enzyklopädie werden sich ineinander auflösen und gleichen Schritts voranschreiten. Da er jedoch weiterhin die Charakteristik als "Universalschlüssel" auffaßt und als Instrument zur Enhüllung der Essenzen und zur Entzifferung des Alphabets der Welt, das dem Alphabet der Gedanken entspricht, fand sich Leibniz demgleichen Problem gegenüber, mit dem die englischen Theoretiker der perfekten Sprache konfrontiert waren: eine universal philosophy einzurichten, die der philosophischen Sprache als Grundlage und Fundament diente.
Um sich das deutlich zu machen, genügt es, die großen enzyklopädischen Tafeln zu betrachten, die Leibniz zwischen 1703 und 1704 einrichtete. Am Ende seiner Tätigkeit und nachdem er zahllose Entwürfe und Fragmente zu Enzyklopädien niedergeschrieben und skizziert hatte, wandte sich Leibniz noch einmal dem Gebiet zu, in dem sich Wilkins und Dalgarno bewegt hatten. Hier erwies sich die Enzyklopädie als eine logische (auf der scholastischen Unterscheidung der Substanzen und Akzidenzien gegründete) Enzyklopädie der Hauptbegriffe aller Wissenschaften (von der Mathematik bis zur Moral und zur Politik), aller natürlichen Gegenstände (von den Mineralien bis zu den Pflanzen und zu den Lebewesen) sowie aller künstlichen Gegenstände (die vom Menschen gebauten Werkzeuge und Instrumente). Die leibnizianische Konstruktion reproduzierte mit zu vernachlässigenden Unterschieden die der Ars signorum von George Dalgarno:
Res: mathematisches Konkretum

physisches Konkretum

artifizielles Konkretum

spirituelles Konkretum

Akzidenzien: allgemeine Akzidenzien

mathematisches Akzidens

allg. physisches Akzidens

sensible Qualitäten

sensitive Akzidenzien

rationales Akzidens

ökonomisches Akzidens

politisches Akzidens


Auch innerhalb der verschiedenen Klassen und Unterklassen wurde diegleiche Klassifikation wiederholt. Die Klasse der "politischen Akzidenzien" umfaßte zum Beispiel auch für Leibniz: die Relation des Amtes, die gerichtliche Relation, die gerichtliche Materie, die Rolle der Parteien, die Rolle des Richters, die Verbrechen, den Krieg, die Religion. Auch in der Aufzählung der einzelnen in jeder der Klassen und Unterklassen enthaltenen Termini, wich Leibniz ziemlich wenig von dem Schema Dalgarnos ab.
Das historisch so wichtige Projekt einer "beweisenden" Enzyklopädie scheint hier aufgegeben zu sein. Die Gründe für diesen Wechsel der Perspektiven bedürf-ten einer besonderen Untersuchung. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß die Einflüsse der Positionen der englischen Theoretiker der Universalsprache nicht nur in den Schriften des "jungen" Leibniz gegenwärtig sind.
Zu den der Konstruktion der philosophischen Sprachen gewidmeten Werke haben wir bemerkt, daß diese übereinstimmend den mnemonischen Wert der universalen Sprachen betonen. Auch die zahlreichen Hinweise auf dieses Problem im Werk von Leibniz sind sehr signifikant. Wie schon Bacon und Cartesius hatte sich auch Leibniz für das lang und breit in Europa debattierte Problem der künstlichen Memoria interessiert. Von diesem Interesse an der ars reminiscendi gibt es Spuren in einer Gruppe von unveröffentlichten Papieren : Phil. VI. 19, eine Sammlung von Notizen unter dem Titel Menmonica sive praecepta varia de memoria excolenda, und Phil. VII. B. III. 7, das eine zweite Sammlung von Notizen und Zusammenfassungen von Werken zur ars memorativa enhält.
Auf dem Blatt 5 r. des ersten dieser Handschriften finden wir eine Reihe von Mittelchen erörtert, die angewandt werden können, um mithilfe von Buchstaben leicht eine beliebige Zahlenreihe zu erinnern:
/5 r./ Arcanum: qua ratione omnes et singulos numeros, praesertim eos quorum usus est in chronologia, atque aliorum infinitorum, memoriae mandare, eorum citra omnem ingenii cruciatum recordari, ac numquam oblivisci possis, ne dicam, ulteriora et infinita queas deducere.
Si quis multos numeros citra cruciatum memoriae atque ingenii memorare cupit, omnino opus est ut subsidio aliquo utatur. Sunt qui varie rem tentarunt, absque tamen singulari effectu ac successu, donec non adeo pridem hunc modum quispiam excogitando invenerit, multis rationibus ipsasque experientia reddiderit probatum.
Alphabeti elementa sunt XXIV: haec dividuntur in vocales et consonantes. Vocales hac in re vicariam nobis tantum praebent utilitatem, consonantes vero primariam.
/5 v./ Consonantes autem sunt hae: B C D F G K L M N P Q R S T, his adiugantur W  Z V. Numeros habemus hos: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0. Si plures dantur numeri, ex hisce componuntur, ut ex 1 et 2 fiunt 12 quemadmodum res est plana
Iam vero nihil memoriam adeo torquet quam res referta numeris, quos tamen scire memoriaque comprendere maximi interest itaque hocce subsidii, ut utaris, valde prodest et conducit memoriam.
Reduc consonates istas ita, et puta quod sint numeri, sic facile te extricabis:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 
B C F G L M N R S D 
P K V 
W Q 
Z
Der in den mnemotechnischen Werken vom fünzehnten Jahrhundert bis zu Bacon so verbreitete Rückgriff auf Verse findet sich in einem anderen dieser Notizblätter, auf dem Leibniz die Verse 33-42 der Geografia von Marciano d'Eraclea ins Lateinische übersetzt:
/7 r./ Haec ergo visum est explicare carmine
facili atque claro, quali utuntur comici.
Nam sic iuvatur memoria nec sensu perit
et simile quiddam vita nobis exhibet.
Qui vult solutam ferre lignorum struem
prohibebit aegre ne quid illi decidat
sed colligatam facile fasciculo geret
Oratio soluta pariter diffluit
comprehensa versu mens fidelius tenet.
Neben einer Kritik zum Lexicon von Hoffmann (Antwerpen 1696) taucht diese Vorstellung in einer anderen ganz kurzen Notiz zur Grammatik von Emmanuel Alvarez (Dilingae 1574 und Venedig 1580) und zur Grammatica philosophica von Scioppio (Amsterdam 1659) auf:
/8 r./ Eos quos in grammatica sua habet Emmanuel Alvarez Societatis Iesu, ipse Scioppius in Grammatica philosophica laudat et disci suadet. Ait eum centum ex sexaginta versibus hexametris feliciter complexum omnes regulas de verborum praeteritis et supinis et omnem prosodiae latinae rationum centum sexaginta aliis versibus.
/9 r./ Hofmanni lexicon universale maxime nomium propriorum utilis liber. Unum desidero: cum non posset autor ob rerum multitudienem cuncta plenis edisserere, praeclare fecisset si ubique indicasset autorem aliquem unde celerior in studio peti possit
Unter dem Titel Artificium didacticum und Exercitia ingenii finden wir andere charakteristische Regeln der Kunst der Memoria.
/10 r./ Artificium didacticum. Semper cognita incognitis miscenda et temperanda sunt ut labor et molestia minuantur. Ita optime discimus linguas per parallelismus cum linguis nobis notis, ita scriptum non satis cognitae lecturae, discendae linguae causa, sumamus librum familiarem nobis cuius sensa pene memoriter tenemus ut Novum Testamentum. Hinc etiam si cui musicam docere possem aut vellem, monstrarem cantiunculas sibi notas posset in charta exprimere si vereretur oblivisci.
/11 r./ Exercitia ingenii. Ut Rhetores exercitia habent orationis, Grammatici exercitia styli, ita ego in pueris exercitia ingenii institui desidero. Exercitia ingenii nec gratiora nec efficaciora reperiri posse nititur quam ludos [...] verba quo ordine turbato iterum recitare ope mnemonices cuiquam facilis, inverso etiam si placet aut per saltus, historias ab aliis recitatas iterum recitare, extempore describere proelia, intinera, urbes quorum ipsis via ante audita, historias ab aliis recitatas resumere et denuo recitare, fingere preces et iubere ut quis ex duorum disputationibus et concertationibus patrias causas cuiquam implicatas discat facere aut solvere. [...].
Auf den Blättern 16 r. - 16 v. finden wir schließlich eine ausführliche und anlytische Zusammenfassung des Simonides redivius sive ars memoriae et oblivionis von Adam Bruxius (Leipzig 1610). Aber neben der Darstellung traditioneller Themen erscheinen in diesen Notizen die Namen der Theoretiker der geometrischen Methode: An ihnen tadelt Leibniz, jene ersten Propositionen nicht genügend hervorgehoben zu haben, die dem ganzen Diskurs zugrunde liegen :
/13 r./ Video eos qui geometrica methodo tractare [...] scientias, ut P. Fabrius, Joh. Alph. Borellus, Benedictus Spinosa, R. des Cartes, dum omnia in propositiones minutas divellunt, efficere ut primarias propositiones lateant inter illas minutiores, nec satis animadvertantur, unde saepe quod quaeris difficulter invenies.
Wir haben uns nicht mit diesen unveröffentlichten Notizen abgegeben, weil sie von besonderem Interesse wären, sondern weil sie zeigen können - und das ist bis jetzt nie deutlich gemacht worden -, wie Leibnizens zahlreiche Hinweise auf die Memoria und die Mnemotechnik nicht so sehr, wie man bis jetzt geglaubt hat, aus der Lektüre der konfusen Texte des Kircher entstanden sind, sondern aus der effektiven und detaillierten Kenntnis einiger Werke über die Gedächtniskunst, wie dem in der Kultur des siebzehnten Jahrhunderts wohlbekannten und berühmten des Bruxius. Dieses Ergebnis erhält von anderer Seite neue Bestätigung durch eine Untersuchung der in der Handschrift Phil. VII.B.III.7 enthaltenen Texte. In einer Notiz, deren genaues Datum der Abfassung wir kennen (April 1678), finden wir neben einigen Regel zur Konstruktion einer rationalen Grammatik die Beschreibung der mnemonischen Mittel, derer man sich bedient, um eine beliebige Reihe von Ideen zu erinnern. Die alte Lehre von den Orten und Bildern; die These von der notwendigen Rückführung der Begriffe und Ideen auf die Ebene der sinnenhaften Gestalten; die Figuren der Patriarchen, der Apostel und der Imperatoren; die Vorschriften zur Ordnung und zur collocation in locis; die Bilder der Tiere; die Kniffe für Begriffe aus den "barbarischen" Sprachen: sie alle erscheinen wieder auf diesen Seiten. Es ist nicht zu bezweifeln, daß Leibniz außer dem Simonides redivivus von Bruxius das Werk von Schenkelius gelesen und kommentiert hat (wie aus den Blättern 1 r.- 4 v. dieser Handschrift hervorgeht), wobei er sich besonders mit dem Teil des Werkes beschäftigte, der dem Erlernen des Lateinischen, der Erziehung der Knaben, der Rhetorik und der Regeln der ars reminiscendi gewidmet ist.
Diese Interessen von Leibniz und diese Lektüren waren nich ohne Einfluß auf die Lösung von Problemen allgemeineren Charakters: für Leibniz bewahrt die Kunst der Memoria einen präzisen Stellenwert in der Welt des Wissens und wird öfters der Logik angenähert. In der Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae (1667) bilden die Mnemonik, die Topik und die Analytik die drei Teile der Didaktik; im Consilium de Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria (1679) wird die Mnemonik zwischen Logik und Topik plaziert; in den Initia et specimina scientiae novae generalis wird die sagesse oder "perfekte Erkenntnis der Prinzipien aller Wissenschaften und Kunst ihrer Anwendung" unterteilt in l'art de bien raisonner, l'art d'inventer und l'art de souvenir; in einem Brief an Koch von 1708 geht Leibniz so weit, die von Ramus vorgebrachte und von Bacon wiederaufgenommene These zu übernehmen, nach der die ars memoriae einen Teil oder Bereich der Logik bildet. Mehrere Male insistiert Leibniz auf der mnemonischen Funktion der Universalsprache, der Enzyklopädie, der Tafeln und gerade der Charakteristik; die Charaktere und Figuren werden auch von Leibniz in voller Übereinstimmung mit der Tradition als Mittel aufgefaßt, die Imagination zu stärken; die Tafeln erscheinen (wie schon bei Bacon, Alsted, Comenius und Wilkins) als unverzichtbare Hilfsmittel gegen die natürliche Schwäche der Memoria:
Combinatoria: jenen, die nicht in der Lage sind, mittels einer sicheren Imagination die Dinge aufmerksam zu erwägen, werden von den Figuren und Charakteren unterstützt; jene, die kein starkes Gedächtnis haben und nicht in der Lage sind, viele Dinge zusammen darzustellen, werden von den Tafeln unterstützt.
Bei der Ausarbeitung der zahlreichen Projekte zur Charakteristik, zur Universalsprache und zur Enzyklopädie hatte sich Leibniz also kontinuierlich auf jene Diskussionen zur Kombinatorik und Enzyklopädie, zum Alphabet der Gedanken und zur universalen Sprache, zu den Realcharakteren und zur Memoria bezogen, die in ganz Europa ein äußerst breites Echo gehabt hatten.
Es handelte sich nicht um ein leichtes Erbe. Noch 1679, in einem Abstand von dreizehn Jahre zu der Publikation der Dissertatio de arte combinatoria, nach dem Aufenthalt in Paris und London und nach den großen mathematischen "Entdekungen", sprach Leibniz in einem Ton von seiner Erfindung, der dem "mirakulistischen" und "magischen" so vieler Lullisten und Maestri der Memoria des sechzehnten Jahrhunderts außerordentliche nahe kam.
Meine Erfindung enthält eine komplette Gebrauchsanweisung für den Gebrauch der Vernunft; einen Diskussionsführer für die Kontroversen; einen Dolmetscher für die Begriffe; einen Kompass als Reiseführer auf dem Ozean der Erfahrung; ein Inventar aller Dinge; eine Tafel aller Gedanken; ein Mikroskop, um die gegenwärtigen Dinge zu ergründen; ein Teleskop, um die entfernten zu erraten; einen allgemeinen Calculus; eine unschuldige Magie; eine nicht chimerische Kabbala; eine Schrift, die ein jeder in seiner eigenen Sprache lesen kann; schließlich eine Sprache, die in wenigen Wochen erlernt werden und die sich schnell über die ganze Welt verbreiten kann, um überall, wo sie hingelangt, die wahre Religion zu bringen.
Das waren keine Worte, die im Wunsch gesagt wurden, sich einer kulturellen Mode oder einer geläufigen Sprache anzupassen: wie schon die Anhänger Lulls und die Theoretiker der Pansophie war auch Leibniz immer überzeugt, daß es mögliche wäre, eine Methode als Schlüssel zur Realität zu finden; daß es möglich wäre, eine allgemeinste Wissenschaft zu finden, die die volle Korrespondenz zwischen den originären konstitutiven Formen der Realität und der Kette der Gründe oder der Gedanken enthüllen könnte. Die allgemeine Wissenschaft
umfaßt nicht nur die Logik ... sondern ist ars inveniendi und methodus disponendi, ist Synthesis und Analysis, Didaktik und Wissenschaft des Unterrichtens, ist Noologie und Kunst der Erinnerns oder Mnemonik; ist ars characteristica oder symbolica, ist philosophische Grammatik, lullianische Kunst, Kabbala der Weisen und natürliche Magie.
Von der Tradition des lullistischen Enzyklopädismus, von der Pansophie und von den Theorien über die Universalsprache übernahm Leibniz nicht nur eine Reihe von Themen zweitrangiger Bedeutung. Diese Tradition operierte wirksam an einem der zentralen Punkte seiner Philosophie: an die Vorstellung einer scienza generale, die auch eine, wenn auch "unschuldige" natürliche Magie ist, vermögend die im Kosmos wesenden Gründe zu enthüllen und die Struktur der Wirklichkeit zu erhellen. In diesem entscheidenden Punkt sind die Texte eindeutig; Die Kunst - schreibt Leibniz in der Dissertatio - "führt den gehorsamen Geist gleichsam durch die ganze Unendlichkeit und umfaßt zugleich die Harmonie der Welt, die innersten Strukturen der Dinge und die Reihe der Formen". Auf der anderen Seite "öffnet" die Universalsprache "die inneren Formen der Dinge" und die Abstraktion hat ihr Fundament in der idealen Textur der Wirklichkeit: "wenn unser Geist das Wesen der Dinge nicht findet... Gott weiß es, die Engel finden es und es gibt ein Fundamentum, das all diesen Abstraktionen praeexistiert." In der Confessio naturae von 1668 beharrt Leibniz auf dem Begriff einer universellen Harmonie, die von dem göttlichen Geist ausgeht, während wir in einem Brief von 1704 ausdrücklich eine platonisch-pytagoreische Auffassung der Wirklichkeit entwickelt finden:
Welches ist der Grund der Harmonie der Dinge? Keiner: zum Beispiel kann man keinen Grund dafür finden, daß das Verhältnis von 2 zu 4 dem von 4 zu 8 gleich ist, nicht einmal, indem man vom göttlichen Willen ausgeht. Dies hängt von der Essenz oder Idee der Dinge selbst ab. Die Essenzen der Dinge sind nämlich Zahlen und konstituieren die Möglichkeit der Wesen, die nicht von Gott geschaffen ist, der dennoch ihre Existenz bewirkt: daher fallen diese Möglichkeiten oder Ideen der Dinge eher mit Gott selbst zusammen. Weil Gott vollkommenster Geist ist, ist es unmöglich, daß er nicht selbst von der vollkommensten Harmonie affiziert werde...;
Themen dieser Art kehren in viel größerer Ausführlichkeit in der Reihe von Schriften wieder, die auf die Jahre 1675-76 zurückgehen, und die I.Jagodinski 1913 gesammelt und publiziert hat. Bei ihnen wäre man wahrlich versucht, mit Rivaud zu sagen, daß "das Prinzip der Harmonie das Zentrum gewesen ist, um das sich alle Ideen von Leibniz kristallisiert haben, und dieses Zentrum selbst erscheint von Anfang an nicht als ein einfaches logisches Gesetz, sondern als eine ästhetische und moralische Notwendigkeit." In den Elementa philosophiae arcanae finden wir nicht nur die Behauptung, daß "existere nihil aliud esse quam harmonicum esse", sondern sehen wir ausdrücklich die Lehre einer logischen Ordnung des Kosmos bekräftigt, nach der "das, was eine Substanz von der anderen unterscheidet, ihre Situation im rationalen Kontext des Universums ist". Auf dieser Ebene bewegte sich Leibniz, als er an Friedrich schrieb, die Existenz einer "ratio ultima rerum seu harmonia universalis" beweisen zu können, oder als er in einem Brief von 1678 an die Herzogin Elisabeth  die volle Koinzidenz der Realcharaktere und der einfachen konstitutiven Elemente der Wirklichkeit bekräftigte: "die Charakteristik würde unsere Gedanken wahrhaftig und deutlich wiedergeben und, wenn ein Gedanke aus anderen elementareren zusammengesetzt wäre, wäre sein Charakter es ebenfalls... die einfachen Gedanken sind die Elemente der Charakteristik und die elementaren Formen die Quellgründe der Dinge"