In einem April 1671 in Frankfurt geschriebenen
Brief brachte Leibniz seine Begeisterung für das Werk Wilkins zum
Ausdruck: "Ich habe vor kurzem den character universalis des
hochgelehrten Wilkins gelesen; seine Tafeln gefallen mir sehr und
ich wollte, er hätte Figuren benutzt, um jene Dinge auszudrücken,
die nur mittels der Malerei beschrieben werden können, wie zum
Beispiel die Arten der Tiere, der Pflanzen und der Werkzeuge. Wie
wünschenswert wäre eine Übersetzung seines Werks ins Lateinische!"
Diegleiche Hoffnung auf eine schnelle Übersetzung zeigte Leibniz
zwei Jahre später in einem Brief an Oldenburg. Erst 1679/80, nach
den Jahren des Aufenthalts in Paris und London, kommen einige
grundsätzliche Zweifel zu Wort. "Ich höre, daß der berühmte Mann
[Robert Hook] die philosophischen Charaktere {genauer: den
philosophischen Charakter} des Bischofs Wilkins, denen auch
ich den gebührenden Respekt zolle, in Ehren hält. Ich kann indes
nicht verschweigen, daß etwas viel Größeres und Nützlicheres
erreicht werden kann. So viel größer, wie die Charaktere der
Algebra besser sind als die der Chemie."
Die Gegenüberstellung der Symbole der Algebra und
der Chemie ist sehr bezeichnend. Für Leibniz handelt es sich nicht
nur darum, eine Sprache zu konstruieren, welche die Kommunikation
erleichtern könnte, sondern um eine universale Schrift, mit der
sich wie in der Algebra und Arithmetik Beweise konstruieren
ließen. Die veränderte Position, die Leibniz in diesem Brief
einnimmt, bestätigt noch einmal (aus einer speziellen
Frageperspektive) die Gültigkeit einer Deutung, die in dem
Aufenhalt in Paris und London (März 1672 - Oktober 1676) eine Wende
im leibnizianischen Denken sieht. In diesen Jahren widmete Leibniz
sich dem Studium der Mathematik und trat mit dem Cartesianismus und
den lebendigsten Strömungen des europäischen Denkens in Kontakt.
Das Interesse für die syntaktischen Aspekte der Sprache, die
Entdeckung der "Magie des Algorithmus" oder der "Funktionalität"
der formalen Prozeduren und die Behauptung der Möglichkeit einer
Generalwissenschaft der Formen: diese Themen und Diskussionen
entwickeln sich nach den Jugendjahren und setzten die Annäherung
der Methoden der Kombinatorik an die der Mathematik und Algebra
voraus.
Das leibnizianische Projekt einer
Universalcharakteristik war bekanntlich auf drei Prinzipien
gegründet: 1) die Ideen sind analysierbar und es ist möglich, ein
Alphabet des Denkens aufzufinden, das aus dem Katalog der
elementaren oder primitiven Begriffe besteht; 2) die Ideen können
symbolisch repräsentiert werden; 3) eine symbolische Repräsentation
der Beziehungen zwischen den Ideen ist möglich, und mithilfe
geeigneter Regeln kann man ihre Kombination vornehmen. Dieses
Projekt von Leibniz entstand dennoch sicher nicht auf dem Boden der
"Algebra" oder des zeitgenössischen "logischen
Formalismus" .
W. Kabitz hat in der Bibliothek von Hannover das
von Leibniz annotierte Exemplar der Werke von Bisterfield
wiedergefunden, und es ist sicher, daß die für die Ausbildung der
leibnizianischen Kombinatorik grundlegende Idee eines Alphabets des
menschlichen Denkens oder eines Katalogs der primitiven Begriffe,
aus deren Kombination die komplexen Ideen gewonnen werden können,
abgesehen von der allgemeinen Tradition des Lullismus auf diesen
Autor zurückgeht. Aus einem Brief, wahrscheinlich an Boineburg, der
eine der ersten Formulierungen der Charakteristik enthält, geht
hervor, daß Leibniz das Projekt des Pater Kircher in der Substanz
akzeptierte: an die Stelle der fundamentalen Begriffe und Ideen
treten Kreisfiguren, Quadrate und Dreiecke in verschiedener
Disposition; durch die Kombination der Figuren können die
Relationen und Kombinationen zwischen den Ideen dargestellt werden.
Neben den Namen von Bisterfield und Kircher finden wir in der
Dissertation de arte combinatoria von 1666 die von Lull und
Bruno, von Agrippa und Pierre Gregoire, von Alsted, Bacon und
Hobbes. Die Kritik, die Leibniz an Lull übte, betraf durchaus nicht
das inspirierende Prinzip der Kombinatorik: es betraf die
Willkürlichkeit der Klassen und Wurzeln {R:classi;radici}
und die Beschränktheit der Kombinationen. Die Berufung auf Baco war
durch die Tatsache gerechtfertigt, daß der Verulamer eine inventive
Logik unter die desiderata gesetzt hatte; die auf Hobbes
durch die Identifikation der mentalen Operationen mit einer
computatio. Dieser letzte Verweis darf nicht in die Irre
führen: Leibniz beschränkt sich darauf, die in Hobbes' Werken
vorhandene, aber auch in den Werken des Lullismus sehr weit
verbreitete Annäherung der Logik an einen "Calculus" zu billigen.
Wie Louis Couturat sehr schlüssig gezeigt hat, ist das Gewicht des
Einflusses von Hobbes auf die Idee der Charakteristik ziemlich
gering und in der Interpretation des Calculus entfernt Leibniz sich
radikal von den hobbesianischen Positionen. In jedem Fall herrschen
unter den von Leibniz angegebenen Quellen die lullianischen Werke
und die der Enzyklopädisten vor; indem er sich auf die Schriften
von Bruno, Agrippa und Alsted beruft, verweist Leibniz auf die
gefeiertsten Darstellungen und weitverbreitetsten Kommentare der
Ars Magna. In der Syntax von Gregoire hatte er die
deutlich ausgedrückte Aspiration auf eine Generalwissenschaft
gefunden, die auf der Bestimmung {R:determinazione} einer
begrenzten Reihe von Prinzipien und Axiomen gegründet war. Aus der
Technica curiosa sive mirabilia artis des Caspar Schott,
einem der höchst charakteristischen Werke der "Magie" der Jesuiten
des siebzehnten Jahrhunderts, hatte er Kenntnisse über die
Universalsprachen geschöpft.
Das fundamentale Problem der inventiven Logik, wie
sie in der Dissertatio de arte combinatoria dargestellt
wird, besteht darin, alle möglichen Prädikate zu einem gegebenenen
Subjekt zu finden und, ein Prädikat gegeben, alle seine möglichen
Subjekte zu finden. Indem wir (wie es für unser Thema legitim ist)
eine größere Reihe von eher technischen Problemen übergehen,
begnügen wir uns damit, auf den Spuren der Darstellung von Belaval
ein Beispiel für die Vorgehensweise von Leibniz zu geben. Um das
oben angedeutete Problem zu lösen, müssen die einfachen und
primitiven Ideen identifiziert werden, die mit einem
konventionellen Zeichen angezeigt werden können, in diesem Fall mit
einer Zahl. Seien die Termini der ersten Klasse: 1) der Punkt; 2)
der Raum ; 3) das Dazwischen; 4) das Angrenzende; 5) das Entfernte;
(...) 9) der Teil; 10) das Ganze; 11) das Selbe; 12) das
Verschiedene; 13) das Eine; 14) die Zahl, 15) die Vielheit; 16) die
Entfernung; 17) das Mögliche, etc. Wenn man die Termini der ersten
Klasse paarweise kombiniert (com2natio) erhält man die
Termini der zweiten Klasse. So wird zum Beispiel die Quantität (die
Anzahl der Teile) durch die Formel 14twn9 (15) repräsentiert. Durch
die Kombination der Termini zu dritt (com3natio) erhält man
die Termini der dritten Klasse: z.B. ist intervallum 2.3.10,
nämlich der Raum (2) als Dazwischen (3) in einem Ganzen (10). Und
so weiter über com4natio, com5natio etc. Um die
Prädikate eines bestimmten Subjekts zu finden, genügt es, einen
Terminus in seine ersten Faktoren zu zerlegen, um dann die
möglichen Kombinationen dieser Faktoren zu bestimmen. Die möglichen
Prädikate für Intervall sind eins nach dem andern genommen:
der Raum (2), das Dazwischen(3), das Ganze (10); dann als
com2natio genommen der Raum als Dazwischen (2.3), der Raum
als Ganzes (2.10), das Dazwischen im Raum {als Ganzem} (3.10);
schließlich als com3natio das Produkt 2.3.10, das die
Definition von Intervall bildet. Um alle möglichen Subjekte
von Intervall (als Prädikat) zu finden, muß man alle Termini
bestimmen, deren Definition die Faktoren 2.3.10 enthalten. Alle
Kombinationen, die aus diesen Faktoren bestehen, gehören
notwendigerweise zur Klasse der komplexen Begriffe von höherer
Ordnung als der von Intervall (es gehört zur dritten). So
gehört die Linie, die als Intervall zwischen zwei Punkten definiert
wird, zur vierten Klasse, denn zu ihrer Definition gehören drei
primitive Termini: 2.3.10 und 1 (der Punkt). Wenn n
elementare Termini gegeben sind und k ( n > k ) die
Anzahl der primären Faktoren ist, die ein Prädikat wie z.B.
Intervall bilden, dann ergeben sich 2n-k mögliche
Subjekte (darin eingeschlossen der tautologische Satz: "ein
Intervall ist ein Intervall").
Die Charakteristik wurde dennoch, wie Couturat
bemerkt hat, nicht ursprünglich in der Form einer Algebra oder
eines Calculus konzipiert, sondern in der einer universalen Sprache
oder Schrift. Die Anwendung XI der ars combinatoria besteht
für Leibniz tatsächlich in der Erfindung einer "universalen, das
heißt jedem in welcher Sprache auch immer geschickten Leser
verständlichen Schrift". Unter den zeitgenössischen Werken über
Universalsprachen bezieht sich Leibniz auf die Darstellung einer
anonymen Arbeit durch Schott - einer 1653 anonym in Rom
veröffentlichen Schrift, in der "die Methode ziemlich ingeniös der
Natur der Dinge entnommen war: der Autor verteilte die Dinge auf
verschiedenen Klassen und jede Klasse wurde von einer bestimmten
Anzahl von Dingen gebildet" : um irgendeinen Gegenstand zu bezeichnen,
genügte es, die Zahl der Klasse und die des Gegenstandes anzugeben.
Die beiden anderen von Leibniz erwähnten Werke sind: Character
pro noticia linguarum universalis von J. Becher (Frankfurt
1661) und die Polygraphia nova et universalis ex combinatoria
arte detecta des Pater Athanasius Kircher (Rom 1663). Beide
Werke sind auf der Grundlage eines numerischen Wörterbuches jenes
Typs entworfen worden, auf den wir anläßlich des Universal
Character (1653) von Cave Beck verwiesen.
Es zum Allgemeinplatz der historigraphischen
Leibnizforschung geworden, den "formlosen Entwürfen" oder "vagen
und konfusen" Projekten von Universalsprachen der "Vorgänger" von
Leibniz seinen klaren, "wissenschaftlichen" und kohärenten Plan
einer philosophischen Sprache entgegenzustellen. In Wirklichkeit
(wenn man nicht irgend jemand als "Vorgänger" bezeichnen will, um
sich die Mühe zu ersparen, seine Werke zu lesen) verhält es sich
etwas anders. Als Leibniz in der Dissertatio de arte
combinatoria sein Universalsprachenprojekt formulierte, kannte
er weder die Ars signorum von Dalgarno, die 1661 publiziert
wurde, noch offensichtlich den Essay von Wilkins, der 1668
das Licht erblickte. In diesen Jahren verstand Leibniz, auf den
Spuren von Bacon und Kircher, die Charaktere der Universalsprache
noch als zusammengesetzt aus "geometrischen Figuren und Bildern von
der Art, wie sie einst von den Ägyptern benutzt wurden und heute
von den Chinesen angewandt werden; Bilder, die nicht auf ein
bestimmtes Alphabet oder auf Buchstaben zurückgeführt werden, was
für die Memoria Ursache unglaublicher Betrübnis ist." Die
Vorbehalte, die er gegenüber dem Werk von Becher vorbrachte, waren
andererseits denen ziemlich ähnlich, die Wilkins unabhängig von
Leibniz formulieren sollte: die Ambiguität der Begriffe, die in
verschiedenen Sprachen verschiedene Bedeutungen haben; angesichts
des Mangels an exakten Synonymen die Unmöglichkeit einer genauen
Entsprechung zwischen den Begriffen zweier Sprachen; angesichts der
Vielfalt der syntaktischen Regeln die Unmöglichkeit einer bloßen
und einfachen Übersetzung der Begriffe in ihrer Reihenfolge;
schließlich die Schwierigkeit, jene Zahlen im Gedächtnis zu
behalten, die nicht nur den Klassen, sondern auch den jeder Klasse
zugehörigen Gegenständen entsprechen. Eine universale Schrift oder
Sprache, die diesen Gefahren entgehen wollte, müßte auf einer
vollständigen Analyse der Begriffe und auf ihrer Reduktion auf
elementare Termini gegründet sein.
Anfang 1671 las Leibniz den Essay über die
Realcharaktere von Wilkins, und wahrscheinlich zur selben Zeit
die Ars signorum von George Dalgarno. Sein Enthusiasmus für
das Werk Wilkins' und sein Wunsch, den Essay ins Lateinische
übersetzt und in Europa verbreitet zu sehen, erscheinen nach allem
was gesagt ist voll gerechtfertigt. Im Essay und in der
Ars signorum hatte er den (zumindest zum Teil realisierten
und von ihm selbst schon in der Dissertatio anvisierten und
durchgeführten) Versuch gefunden, eine Universalsprache zu
konstruieren, die außerdem "künstlich" und "philosophisch", nämlich
nicht auf der Basis einer Übereinsprechung zwischen Wörterbüchern,
sondern auf der einer Klassifikation der Begriffe konstruiert wäre.
Seine Kritiken an Dalgarno und Wilkins entstanden, wie wir gesehen
haben, erst in den Jahren des Aufenthalts in Paris: In einer seinem
Exemplar der Ars signorum beigefügten Notiz und in einem
Brief an Oldenbourg (aus Paris geschrieben) kritisierte er die
beiden englischen Autoren und behauptete, daß sie statt eine
wirklich "philosophische", nämlich die logischen Relationen
zwischen den Begriffen anzeigende Sprache zu konstruieren, sich nur
mit einer Schrift beschäftigt hätten, die den Verkehr unter den
Nationen erleichtern könnte. Die internationale Sprache, - fügte
Leibniz hinzu - ist nur der geringste Vorteil, deb due universale
Sprache bietet: diesie ist vor allem ein instrumentum
rationis. Aber in der Art, wie er die Universalsprache entwarf
(der von Leibniz oft verwendete Begriff Realcharakteristik
stammte ganz offensichtlich aus der von Wilkins wiederaufgenommenen
baconischen Terminologie), rückte Leibniz nicht viel von den
traditionellen Positionen ab. In dieser Hinsicht erscheinen einige
seiner Aussagen besonders signifikant und können uns die Nähe
einiger seiner Thesen zu denen zeigen, welche die englischen
Theoretiker der Universalsprache vertraten:
1) Die Universalsprache oder Realcharakteristik
besteht aus einem System von Zeichen, die "direkt die Gedanken
repräsentieren, nicht die Worte", dergestalt daß sie unabhängig von
der Sprache, die wirklich gesprochen wird, gelesen und verstanden
werden können.
2) Die Konstruktion einer Universalsprache fällt
mit jener einer Univeralschrift zusammen: "es spielt keine Rolle,
ob wir nur eine universale Schrift konstruieren wollen, oder auch
eine universale Sprache, denn wir können beide in ein und derselben
Arbeit herstellen".
3) Auch wenn er ausdrücklich erklärt, von der
Tradition abrücken zu wollen, sieht Leibniz in den ägyptischen
Hieroglyphen, den chinesischen Chakteren und den von den Chemikern
verwendeten Zeichen die Beispiele einer Realcharakteristik
{CU:Characteristicae realis exempla}. "Daß die Hieroglyphen
der Ägypter und der Chinesen und bei uns die Zeichen der Chemiker
Beispiele einer Realcharakteristik sind, gebe ich zu, aber bis
jetzt von der Art, wie sie jene Autoren entworfen haben, nicht von
der unsrigen."
4) Die universale Sprache kann in allerkürzester
Zeit ("in wenigen Wochen", wiederholt Leibniz mit Dalgarno) erlernt
werden und dient außerdem der Verbreitung des christlichen Glaubens
und der Bekehrung der Völker:
diese Schrift oder Sprache ... könnte schnell in
der Welt angenommen werden, weil sie in wenigen Wochen erlernt
werden könnte und eine allumfassende Kommunikation ermöglichen
würde: das wäre von großer Bedeutung für die Verbreitung des
Glaubens und für die Unterrichtung der fernen Völker.
5) Das Erlernen der universalen Sprache fällt mit
dem Erlernen der Enzyklopädie oder der systematischen Ordnung der
Fundamentalbegriffe zusammen. Das Projekt der Enzyklopädie ist
organisch mit dem der universalen Sprache verbunden und von ihm
untrennbar: "wer diese Sprache erlernt, lernt zugleich auch die
Enzyklopädie, die das wahre Eintrittstor zur Wissenschaft ist"
{R:la vera porta die ingresso alle scienze;
CU:vera..janua rerum}.
6) Das Erlernen der universalen Sprache bildet in
sich selbst ein Heilmittel gegen die Schwäche der Memoria: "wer
einmal diese Sprache erlernt hat, wird sie nicht wieder verlernen
oder, wenn er sie verlernt hat, sich von allein leicht alle
notwendigen Vokabeln wieder aneignen".
7) Die Überlegenheit der universalen Sprache über
die chinesische Schrift besteht in der Tatsache, daß die
Verbindungen zwischen den Charakteren der Ordnung in und den
Verbindungen unter den Dingen entspricht: "sie läßt sich in wenigen
Wochen erlernen weil im Unterschied zur chinesischen die Charaktere
gut untereinander verknüpft sind gemäß der Ordnung und der
Verbindung unter den Dingen. {CU:selon l'ordre et la connexion
des choses}"
In zwei ganz wesentlichen Punkten also setzt sich
Leibniz von den vorangehenden Versuchen ab:
1) Die Charaktere der universalen Sprache haben
die Aufgabe, die Verbindungen und Beziehungen unter den Gedanken
auszudrücken; wie im Fall der Algebra und der Arithmetik sollen die
Charaktere der Invention und dem Urteil dienen. "Diese Schrift,
schreibt Leibniz 1679, wird eine Art allgemeiner Algebra sein und
ein Denken als Rechnen ermöglichen, so daß man, statt zu
disputieren, wird sagen können: laßt uns rechnen. Dabei wird sich
zeigen, daß die Fehler des Denkens wie in der Arithmetik durch
Beweise auffindbare Rechenfehler sind." Das Projekt einer
universalen oder philosophischen Sprache, das Leibniz mit neuem
Elan nach der Lektüre von Dalgorno und Wilkins wiederaufgenommen
hatte, konnte so neben das schon in De arte combinatoria
eingeleitete gestellt werden, das auf die Konstruktion einer als
Kalkül konzipierten ars inveniendi zielte.
2) Die Konstruktion einer Universalsprache führt
also nicht nur zu einem Kommunikationsmittel, sondern auch direkt
zur Realisierung der ars inveniendi. Der in der
Universalsprache einem bestimmten Gegenstand oder einem bestimmten
Begriff zugeteilte Name (Zeichen) dient nicht nur dazu, die
Beziehungen zwischen der bezeichneten Sache und den anderen, der
gleichen Klasse oder Spezies zugehörigen Dingen zu bestimmen, sowie
die Beziehungen zwischen der Sache selbst und den Differenzen und
Genera, in denen sie enthalten ist; der Name dient nicht nur zur
Bezeichnung der "Position", die das Objekt im Plan des Universums
einnimmt: er dient auch dazu, "die [Erfahrungs]Versuche
{R:esperienze} anzuzeigen, die auf rationale Weise
angestellt werden müssen, um unser Wissen zu erweitern."
Ich gebe zu, wie es die Sache selbst fordert, daß
wir dem Namen, den wir (zum Beispiel) dem Gold beigelegt haben,
nicht die chemischen Phänomene entnehmen können, die von der Zeit
und dem Zufall offenbart werden, solange wir nicht auf eine
hinreichende Zahl von Phänomenen gestoßen sind, um daraus andere zu
bestimmen. {ergänze CU: «Nur Gott kann auf diese Weise - primo
intuito - den Dingen Namen geben»} Dennoch wird der Name, der
dem Gold in dieser Sprache gegeben wird, der Schlüssel von all dem
sein, was man vom Gold auf menschliche Weise, nämlich mit Vernunft
und Ordnung wissen kann, so wie aus ihm auch ersichtlich sein wird,
welche Versuche mit dem Gold auf vernünftige Weise eingerichtet
werden sollen.
In dem langen Fragment mit dem Titel Lingua
generalis (Februar 1678) konnte sich so das erste von Leibniz
entworfene System des logischen Kalküls als die Grundlegung des
leibnizianischen Projekts einer Universalsprache
präsentieren.
Um die Charakteristik (die numerische Symbole
benutzte) in eine Sprache umzuwandeln, die "gesprochen" werden
kann, griff Leibniz, wie Couturat nachgewiesen hat, auf von
Dalgarno und Wilkins entwickelte Methoden zurück und bezeichnete
mit den neun ersten Konsonanten (b, c, d, f, g, h, l, m, n)
die Zahlen von 1 bis 9, und mit den fünf Vokalen die
Zehnereinheiten in aufsteigender Folge (1, 10, 100, 1000, 1000);
für die größeren Einheiten ließ er den Gebrauch von Diphthongen zu:
So wird die Zahl 81.374 als Mubdilefa geschrieben und
ausgesprochen. Da jede Silbe über ihren Vokal ihre Dezimalposition
ausdrückt, ist der Wert dieser Silbe unabhängig von der Stelle, die
sie in dem Wort einnimmt. Die selbe Zahl kann durch den Ausdruck
Bodefalemu ausgedrückt werden, der 1000 + 300 + 4 + 70 +
8000 = 81.374 bedeutet.
Es ist hier nicht der Ort, Leibnizens Lehren zur
rationalen Grammatik darzulegen, noch seine Versuche einer
grammatikalischen und syntaktischen Vereinfachung des Latein, auf
das er nach wiederholten Mißerfolgen als "Zwischensprache" zwischen
den lebenden und der zukünftigen Universalsprache zurückgreift. Es
ist jedoch sicher, daß das Problem der Entwicklung eines
Wörterbuchs Leibniz mit einer Frage konfrontierte, mit der sich
schon nicht wenige der englischen Theoretiker der Universalsprache
herumgeschlagen hatten. Damit der Name jedes Gegenstandes oder
Begriffs die Definition des Gegenstandes oder Begriffs so ausdrüken
kann, daß die Termini der künstlichen Sprache ähnlich denen der
Sprache Adams adäquate und transparente Symbole werden, ist es
nötig, die ersten und einfachen Elemente bestimmt zu haben, die das
Alphabet des Denkens bilden. Aber um dieses Alphabet zu bestimmen,
ist ein Inventar aller menschlichen Kenntnisse notwendig; eine
Enzklopädie ist unverzichtbar, in der alle Begriffe im Feld eines
einheitlichen Systems klassifiziert sind und so auf eine begrenzte
Anzahl von Fundamentalkategorien zurückführbar erscheinen.
Die Charakteristik, die ich mir zum Ziel setzte,
erfordert eine Art neuer Enzyklopädie. Die Enzyklopädie ist ein
Corpus {CU: un corps}, in dem die wichtigsten menschlichen
Kenntnisse systematisch geordnet sind. Wenn einmal die Enzyklopädie
in der Ordnung, wie ich sie mir vorstelle, eingerichtet ist, wird
die Charakteristik sozusagen fertig sein.
In einer Reihe sehr zahlreicher Skizzen ,
Fragmenten, Entwürfen, Kapiteln oder Abschnitten, die als
provisorische specimina entwickelt und Gesellschaften,
Akademien, Fürsten und Souveränen angeboten wurden, war Leibniz
zeitlebens damit beschäftigt, das Projekt einer
Universalenzyklopädie zu entwickeln, die sich nicht einfach als
Klassifikation oder Bilanz der schon erworbenen Kenntnisse
präsentierte, sondern "beweisenden" {R:dimostrativo} Wert
hätte und als Führer in der wissenschaftlichen Forschungspraxis
dienen könnte. Über die "Quellen" nicht weniger dieser Projekte
informieren am besten die Zeugnisse von Leibniz selbst. In der
Nova methodus iurispridentiae finden wir direkte Hinweise
auf Lavinheta, dem das Verdienst zuerkannt wird, die fundamentalen
juristischen Begriffe bestimmt zu haben, aus denen die
enzyklopädische Tafel des Rechts konstruiert werden kann. In einem
Brief von 1714 sprach Leibniz im Hinblick auf seine Jugendzeit von
dem Einfluß, den auf ihn das Digestum sapientiae des Ivo
Paris ausgeübt hatte. Mehrmals kam er auf das Werk von Alsted
zurück, der schon in der Dissertatio von 1666 wegen seiner
lullianischen Schriften erwähnt wurde: 1681 sprach er bewundernd
von ihm, zehn Jahre zuvor hatte er eine kurze Schrift der
Verbesserung und Vervollkommnung seiner großen Enzyklopädie
gewidmet. Noch tiefer in der Schuld steht er gegenüber Comenius:
"meine eigene Enzyklopädie unterscheidet sich nicht viel von der
von Comenius": von Comenius hatte Leibniz die (zentrale) These von
der substantiellen Identität zwischen Universalsprache und
Enzyklopädie übernommen.
Bei dem leibnizianischen Kommentar zum Brief des
Cartesius über die universale Sprache hatten wir gesehen, wie
Leibniz sich des "Parallelismus" zwischen dem Projekt der
Universalsprache und dem der Enzyklpädie bewußt wurde. In einem
Passus mit ungewisser Datierung hatte er sich geweigert, die
Charakteristik von der Enzyklopädie "abhängig" zu machen: "Auch
wenn diese Sprache von der wahren Philosophie abhängt, hängt sie
nicht von ihrer Vollkommenheit ab. Das will sagen: diese Sprache
kann konstruiert werden, auch wenn die Philosophie nicht vollkommen
ist." In diesem Punkt zeigt die Position von Leibniz jedoch nicht
wenige Unsicherheiten: in einem Brief an Burnet vom 24 August 1697
behauptete er in ganz gegensätzlicher Richtung, daß "die Charaktere
die wahre Philosophie voraussetzten und nur von dieser würde ich es
wagen, meine Konstruktion in Gang setzen zu lassen." Diese doppelte
Sichtweise, hat Francesco Barone geschrieben, entspricht "der
doppelten Sichtweise Leibniz' auf die Charakteristik, indem er sie
je nachdem als absolutes metaphysisches Instrument ansieht oder als
Instrument zur Konstruktion von deduktiven Teilsystemen".
Diese Beobachtung ist sehr richtig. Als
Instrument, als dem algebraischen Formalismus nachgebildeter
Calculus braucht die Charakteristik nicht die vorgängige
Grundlegung durch die wahre Philosophie: Charakteristik und
Enzyklopädie werden sich ineinander auflösen und gleichen Schritts
voranschreiten. Da er jedoch weiterhin die Charakteristik als
"Universalschlüssel" auffaßt und als Instrument zur Enhüllung der
Essenzen und zur Entzifferung des Alphabets der Welt, das dem
Alphabet der Gedanken entspricht, fand sich Leibniz demgleichen
Problem gegenüber, mit dem die englischen Theoretiker der perfekten
Sprache konfrontiert waren: eine universal philosophy
einzurichten, die der philosophischen Sprache als Grundlage und
Fundament diente.
Um sich das deutlich zu machen, genügt es, die
großen enzyklopädischen Tafeln zu betrachten, die Leibniz zwischen
1703 und 1704 einrichtete. Am Ende seiner Tätigkeit und nachdem er
zahllose Entwürfe und Fragmente zu Enzyklopädien niedergeschrieben
und skizziert hatte, wandte sich Leibniz noch einmal dem Gebiet zu,
in dem sich Wilkins und Dalgarno bewegt hatten. Hier erwies sich
die Enzyklopädie als eine logische (auf der scholastischen
Unterscheidung der Substanzen und Akzidenzien gegründete)
Enzyklopädie der Hauptbegriffe aller Wissenschaften (von der
Mathematik bis zur Moral und zur Politik), aller natürlichen
Gegenstände (von den Mineralien bis zu den Pflanzen und zu den
Lebewesen) sowie aller künstlichen Gegenstände (die vom Menschen
gebauten Werkzeuge und Instrumente). Die leibnizianische
Konstruktion reproduzierte mit zu vernachlässigenden Unterschieden
die der Ars signorum von George Dalgarno:
Res: mathematisches Konkretum
physisches Konkretum artifizielles Konkretum spirituelles Konkretum |
Akzidenzien: allgemeine Akzidenzien
mathematisches Akzidens allg. physisches Akzidens sensible Qualitäten sensitive Akzidenzien rationales Akzidens ökonomisches Akzidens politisches Akzidens |
Auch innerhalb der verschiedenen Klassen und
Unterklassen wurde diegleiche Klassifikation wiederholt. Die Klasse
der "politischen Akzidenzien" umfaßte zum Beispiel auch für
Leibniz: die Relation des Amtes, die gerichtliche Relation, die
gerichtliche Materie, die Rolle der Parteien, die Rolle des
Richters, die Verbrechen, den Krieg, die Religion. Auch in der
Aufzählung der einzelnen in jeder der Klassen und Unterklassen
enthaltenen Termini, wich Leibniz ziemlich wenig von dem Schema
Dalgarnos ab.
Das historisch so wichtige Projekt einer
"beweisenden" Enzyklopädie scheint hier aufgegeben zu sein. Die
Gründe für diesen Wechsel der Perspektiven bedürf-ten einer
besonderen Untersuchung. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß
die Einflüsse der Positionen der englischen Theoretiker der
Universalsprache nicht nur in den Schriften des "jungen" Leibniz
gegenwärtig sind.
Zu den der Konstruktion der philosophischen
Sprachen gewidmeten Werke haben wir bemerkt, daß diese
übereinstimmend den mnemonischen Wert der universalen Sprachen
betonen. Auch die zahlreichen Hinweise auf dieses Problem im Werk
von Leibniz sind sehr signifikant. Wie schon Bacon und Cartesius
hatte sich auch Leibniz für das lang und breit in Europa
debattierte Problem der künstlichen Memoria interessiert. Von
diesem Interesse an der ars reminiscendi gibt es Spuren in
einer Gruppe von unveröffentlichten Papieren : Phil. VI. 19, eine
Sammlung von Notizen unter dem Titel Menmonica sive praecepta
varia de memoria excolenda, und Phil. VII. B. III. 7, das eine
zweite Sammlung von Notizen und Zusammenfassungen von Werken zur
ars memorativa enhält.
Auf dem Blatt 5 r. des ersten dieser Handschriften
finden wir eine Reihe von Mittelchen erörtert, die angewandt werden
können, um mithilfe von Buchstaben leicht eine beliebige
Zahlenreihe zu erinnern:
/5 r./ Arcanum: qua ratione omnes et
singulos numeros, praesertim eos quorum usus est in chronologia,
atque aliorum infinitorum, memoriae mandare, eorum citra omnem
ingenii cruciatum recordari, ac numquam oblivisci possis, ne dicam,
ulteriora et infinita queas deducere.
Si quis multos numeros citra cruciatum memoriae
atque ingenii memorare cupit, omnino opus est ut subsidio aliquo
utatur. Sunt qui varie rem tentarunt, absque tamen singulari
effectu ac successu, donec non adeo pridem hunc modum quispiam
excogitando invenerit, multis rationibus ipsasque experientia
reddiderit probatum.
Alphabeti elementa sunt XXIV: haec dividuntur in
vocales et consonantes. Vocales hac in re vicariam nobis tantum
praebent utilitatem, consonantes vero primariam.
/5 v./ Consonantes autem sunt hae:
B C D F G K L M N P Q R S T,
his adiugantur W Z V. Numeros habemus hos:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 0.
Si plures dantur numeri, ex hisce componuntur, ut ex 1 et 2 fiunt
12 quemadmodum res est plana
Iam vero nihil memoriam adeo torquet quam res
referta numeris, quos tamen scire memoriaque comprendere maximi
interest itaque hocce subsidii, ut utaris, valde prodest et
conducit memoriam.
Reduc consonates istas ita, et puta quod sint
numeri, sic facile te extricabis:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 0
B C F G L M N R S D
P K V
W Q
Z
Der in den mnemotechnischen Werken vom fünzehnten
Jahrhundert bis zu Bacon so verbreitete Rückgriff auf Verse
findet sich in einem anderen dieser Notizblätter, auf dem Leibniz
die Verse 33-42 der Geografia von Marciano d'Eraclea ins
Lateinische übersetzt:
/7 r./ Haec ergo visum est explicare carmine
facili atque claro, quali utuntur comici.
Nam sic iuvatur memoria nec sensu perit
et simile quiddam vita nobis exhibet.
Qui vult solutam ferre lignorum struem
prohibebit aegre ne quid illi decidat
sed colligatam facile fasciculo geret
Oratio soluta pariter diffluit
comprehensa versu mens fidelius tenet.
facili atque claro, quali utuntur comici.
Nam sic iuvatur memoria nec sensu perit
et simile quiddam vita nobis exhibet.
Qui vult solutam ferre lignorum struem
prohibebit aegre ne quid illi decidat
sed colligatam facile fasciculo geret
Oratio soluta pariter diffluit
comprehensa versu mens fidelius tenet.
Neben einer Kritik zum Lexicon von Hoffmann
(Antwerpen 1696) taucht diese Vorstellung in einer anderen ganz
kurzen Notiz zur Grammatik von Emmanuel Alvarez (Dilingae 1574 und
Venedig 1580) und zur Grammatica philosophica von Scioppio
(Amsterdam 1659) auf:
/8 r./ Eos quos in grammatica sua habet Emmanuel
Alvarez Societatis Iesu, ipse Scioppius in Grammatica philosophica
laudat et disci suadet. Ait eum centum ex sexaginta versibus
hexametris feliciter complexum omnes regulas de verborum
praeteritis et supinis et omnem prosodiae latinae rationum centum
sexaginta aliis versibus.
/9 r./ Hofmanni lexicon universale maxime nomium
propriorum utilis liber. Unum desidero: cum non posset autor ob
rerum multitudienem cuncta plenis edisserere, praeclare fecisset si
ubique indicasset autorem aliquem unde celerior in studio peti
possit
Unter dem Titel Artificium didacticum und
Exercitia ingenii finden wir andere charakteristische Regeln
der Kunst der Memoria.
/10 r./ Artificium didacticum. Semper
cognita incognitis miscenda et temperanda sunt ut labor et molestia
minuantur. Ita optime discimus linguas per parallelismus cum
linguis nobis notis, ita scriptum non satis cognitae lecturae,
discendae linguae causa, sumamus librum familiarem nobis cuius
sensa pene memoriter tenemus ut Novum Testamentum. Hinc etiam si
cui musicam docere possem aut vellem, monstrarem cantiunculas sibi
notas posset in charta exprimere si vereretur oblivisci.
/11 r./ Exercitia ingenii. Ut Rhetores
exercitia habent orationis, Grammatici exercitia styli, ita ego in
pueris exercitia ingenii institui desidero. Exercitia ingenii nec
gratiora nec efficaciora reperiri posse nititur quam ludos [...]
verba quo ordine turbato iterum recitare ope mnemonices cuiquam
facilis, inverso etiam si placet aut per saltus, historias ab aliis
recitatas iterum recitare, extempore describere proelia, intinera,
urbes quorum ipsis via ante audita, historias ab aliis recitatas
resumere et denuo recitare, fingere preces et iubere ut quis ex
duorum disputationibus et concertationibus patrias causas cuiquam
implicatas discat facere aut solvere. [...].
Auf den Blättern 16 r. - 16 v. finden wir
schließlich eine ausführliche und anlytische Zusammenfassung des
Simonides redivius sive ars memoriae et oblivionis von Adam
Bruxius (Leipzig 1610). Aber neben der Darstellung traditioneller
Themen erscheinen in diesen Notizen die Namen der Theoretiker der
geometrischen Methode: An ihnen tadelt Leibniz, jene ersten
Propositionen nicht genügend hervorgehoben zu haben, die dem ganzen
Diskurs zugrunde liegen :
/13 r./ Video eos qui geometrica methodo tractare
[...] scientias, ut P. Fabrius, Joh. Alph. Borellus, Benedictus
Spinosa, R. des Cartes, dum omnia in propositiones minutas
divellunt, efficere ut primarias propositiones lateant inter illas
minutiores, nec satis animadvertantur, unde saepe quod quaeris
difficulter invenies.
Wir haben uns nicht mit diesen unveröffentlichten
Notizen abgegeben, weil sie von besonderem Interesse wären, sondern
weil sie zeigen können - und das ist bis jetzt nie deutlich gemacht
worden -, wie Leibnizens zahlreiche Hinweise auf die Memoria und
die Mnemotechnik nicht so sehr, wie man bis jetzt geglaubt hat, aus
der Lektüre der konfusen Texte des Kircher entstanden sind, sondern
aus der effektiven und detaillierten Kenntnis einiger Werke über
die Gedächtniskunst, wie dem in der Kultur des siebzehnten
Jahrhunderts wohlbekannten und berühmten des Bruxius. Dieses
Ergebnis erhält von anderer Seite neue Bestätigung durch eine
Untersuchung der in der Handschrift Phil. VII.B.III.7 enthaltenen
Texte. In einer Notiz, deren genaues Datum der Abfassung wir kennen
(April 1678), finden wir neben einigen Regel zur Konstruktion einer
rationalen Grammatik die Beschreibung der mnemonischen Mittel,
derer man sich bedient, um eine beliebige Reihe von Ideen zu
erinnern. Die alte Lehre von den Orten und Bildern; die These von
der notwendigen Rückführung der Begriffe und Ideen auf die Ebene
der sinnenhaften Gestalten; die Figuren der Patriarchen, der
Apostel und der Imperatoren; die Vorschriften zur Ordnung und zur
collocation in locis; die Bilder der Tiere; die Kniffe für
Begriffe aus den "barbarischen" Sprachen: sie alle erscheinen
wieder auf diesen Seiten. Es ist nicht zu bezweifeln, daß Leibniz
außer dem Simonides redivivus von Bruxius das Werk von
Schenkelius gelesen und kommentiert hat (wie aus den Blättern 1 r.-
4 v. dieser Handschrift hervorgeht), wobei er sich besonders mit
dem Teil des Werkes beschäftigte, der dem Erlernen des
Lateinischen, der Erziehung der Knaben, der Rhetorik und der Regeln
der ars reminiscendi gewidmet ist.
Diese Interessen von Leibniz und diese Lektüren
waren nich ohne Einfluß auf die Lösung von Problemen allgemeineren
Charakters: für Leibniz bewahrt die Kunst der Memoria einen
präzisen Stellenwert in der Welt des Wissens und wird öfters der
Logik angenähert. In der Nova methodus discendae docendaeque
iurisprudentiae (1667) bilden die Mnemonik, die Topik und die
Analytik die drei Teile der Didaktik; im Consilium de
Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria (1679) wird
die Mnemonik zwischen Logik und Topik plaziert; in den Initia et
specimina scientiae novae generalis wird die sagesse
oder "perfekte Erkenntnis der Prinzipien aller Wissenschaften und
Kunst ihrer Anwendung" unterteilt in l'art de bien
raisonner, l'art d'inventer und l'art de
souvenir; in einem Brief an Koch von 1708 geht Leibniz so weit,
die von Ramus vorgebrachte und von Bacon wiederaufgenommene These
zu übernehmen, nach der die ars memoriae einen Teil oder
Bereich der Logik bildet. Mehrere Male insistiert Leibniz auf der
mnemonischen Funktion der Universalsprache, der Enzyklopädie, der
Tafeln und gerade der Charakteristik; die Charaktere und Figuren
werden auch von Leibniz in voller Übereinstimmung mit der Tradition
als Mittel aufgefaßt, die Imagination zu stärken; die Tafeln
erscheinen (wie schon bei Bacon, Alsted, Comenius und Wilkins) als
unverzichtbare Hilfsmittel gegen die natürliche Schwäche der
Memoria:
Combinatoria: jenen, die nicht in der Lage sind,
mittels einer sicheren Imagination die Dinge aufmerksam zu erwägen,
werden von den Figuren und Charakteren unterstützt; jene, die kein
starkes Gedächtnis haben und nicht in der Lage sind, viele Dinge
zusammen darzustellen, werden von den Tafeln unterstützt.
Bei der Ausarbeitung der zahlreichen Projekte zur
Charakteristik, zur Universalsprache und zur Enzyklopädie hatte
sich Leibniz also kontinuierlich auf jene Diskussionen zur
Kombinatorik und Enzyklopädie, zum Alphabet der Gedanken und zur
universalen Sprache, zu den Realcharakteren und zur Memoria
bezogen, die in ganz Europa ein äußerst breites Echo gehabt
hatten.
Es handelte sich nicht um ein leichtes Erbe. Noch
1679, in einem Abstand von dreizehn Jahre zu der Publikation der
Dissertatio de arte combinatoria, nach dem Aufenthalt in
Paris und London und nach den großen mathematischen "Entdekungen",
sprach Leibniz in einem Ton von seiner Erfindung, der dem
"mirakulistischen" und "magischen" so vieler Lullisten und Maestri
der Memoria des sechzehnten Jahrhunderts außerordentliche nahe
kam.
Meine Erfindung enthält eine komplette
Gebrauchsanweisung für den Gebrauch der Vernunft; einen
Diskussionsführer für die Kontroversen; einen Dolmetscher für die
Begriffe; einen Kompass als Reiseführer auf dem Ozean der
Erfahrung; ein Inventar aller Dinge; eine Tafel aller Gedanken; ein
Mikroskop, um die gegenwärtigen Dinge zu ergründen; ein Teleskop,
um die entfernten zu erraten; einen allgemeinen Calculus; eine
unschuldige Magie; eine nicht chimerische Kabbala; eine Schrift,
die ein jeder in seiner eigenen Sprache lesen kann; schließlich
eine Sprache, die in wenigen Wochen erlernt werden und die sich
schnell über die ganze Welt verbreiten kann, um überall, wo sie
hingelangt, die wahre Religion zu bringen.
Das waren keine Worte, die im Wunsch gesagt
wurden, sich einer kulturellen Mode oder einer geläufigen Sprache
anzupassen: wie schon die Anhänger Lulls und die Theoretiker der
Pansophie war auch Leibniz immer überzeugt, daß es mögliche wäre,
eine Methode als Schlüssel zur Realität zu finden; daß es möglich
wäre, eine allgemeinste Wissenschaft zu finden, die die volle
Korrespondenz zwischen den originären konstitutiven Formen der
Realität und der Kette der Gründe oder der Gedanken enthüllen
könnte. Die allgemeine Wissenschaft
umfaßt nicht nur die Logik ... sondern ist ars
inveniendi und methodus disponendi, ist Synthesis und
Analysis, Didaktik und Wissenschaft des Unterrichtens, ist Noologie
und Kunst der Erinnerns oder Mnemonik; ist ars
characteristica oder symbolica, ist philosophische
Grammatik, lullianische Kunst, Kabbala der Weisen und natürliche
Magie.
Von der Tradition des lullistischen
Enzyklopädismus, von der Pansophie und von den Theorien über die
Universalsprache übernahm Leibniz nicht nur eine Reihe von Themen
zweitrangiger Bedeutung. Diese Tradition operierte wirksam an einem
der zentralen Punkte seiner Philosophie: an die Vorstellung einer
scienza generale, die auch eine, wenn auch "unschuldige"
natürliche Magie ist, vermögend die im Kosmos wesenden
Gründe zu enthüllen und die Struktur der Wirklichkeit zu erhellen.
In diesem entscheidenden Punkt sind die Texte eindeutig; Die Kunst
- schreibt Leibniz in der Dissertatio - "führt den
gehorsamen Geist gleichsam durch die ganze Unendlichkeit und umfaßt
zugleich die Harmonie der Welt, die innersten Strukturen der Dinge
und die Reihe der Formen". Auf der anderen Seite "öffnet" die
Universalsprache "die inneren Formen der Dinge" und die Abstraktion
hat ihr Fundament in der idealen Textur der Wirklichkeit: "wenn
unser Geist das Wesen der Dinge nicht findet... Gott weiß es, die
Engel finden es und es gibt ein Fundamentum, das all diesen
Abstraktionen praeexistiert." In der Confessio naturae von
1668 beharrt Leibniz auf dem Begriff einer universellen Harmonie,
die von dem göttlichen Geist ausgeht, während wir in einem Brief
von 1704 ausdrücklich eine platonisch-pytagoreische Auffassung der
Wirklichkeit entwickelt finden:
Welches ist der Grund der Harmonie der Dinge?
Keiner: zum Beispiel kann man keinen Grund dafür finden, daß das
Verhältnis von 2 zu 4 dem von 4 zu 8 gleich ist, nicht einmal,
indem man vom göttlichen Willen ausgeht. Dies hängt von der Essenz
oder Idee der Dinge selbst ab. Die Essenzen der Dinge sind nämlich
Zahlen und konstituieren die Möglichkeit der Wesen, die nicht von
Gott geschaffen ist, der dennoch ihre Existenz bewirkt: daher
fallen diese Möglichkeiten oder Ideen der Dinge eher mit Gott
selbst zusammen. Weil Gott vollkommenster Geist ist, ist es
unmöglich, daß er nicht selbst von der vollkommensten Harmonie
affiziert werde...;
Themen dieser Art kehren in viel größerer
Ausführlichkeit in der Reihe von Schriften wieder, die auf die
Jahre 1675-76 zurückgehen, und die I.Jagodinski 1913 gesammelt und
publiziert hat. Bei ihnen wäre man wahrlich versucht, mit Rivaud zu
sagen, daß "das Prinzip der Harmonie das Zentrum gewesen ist, um
das sich alle Ideen von Leibniz kristallisiert haben, und dieses
Zentrum selbst erscheint von Anfang an nicht als ein einfaches
logisches Gesetz, sondern als eine ästhetische und moralische
Notwendigkeit." In den Elementa philosophiae arcanae finden
wir nicht nur die Behauptung, daß "existere nihil aliud esse quam
harmonicum esse", sondern sehen wir ausdrücklich die Lehre einer
logischen Ordnung des Kosmos bekräftigt, nach der "das, was eine
Substanz von der anderen unterscheidet, ihre Situation im
rationalen Kontext des Universums ist". Auf dieser Ebene bewegte
sich Leibniz, als er an Friedrich schrieb, die Existenz einer
"ratio ultima rerum seu harmonia universalis" beweisen zu können,
oder als er in einem Brief von 1678 an die Herzogin
Elisabeth die volle
Koinzidenz der Realcharaktere und der einfachen konstitutiven
Elemente der Wirklichkeit bekräftigte: "die Charakteristik würde
unsere Gedanken wahrhaftig und deutlich wiedergeben und, wenn ein
Gedanke aus anderen elementareren zusammengesetzt wäre, wäre sein
Charakter es ebenfalls... die einfachen Gedanken sind die Elemente
der Charakteristik und die elementaren Formen die Quellgründe der
Dinge"