Karl Moormann: Referat über das Referieren.

Wenn man heimlich liest, ohne die Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, wird man verrückt.(1)
I
Der 'Referateservice' hat zum Ziel, Materialien zu text- schrift- und medientheoretischen Überlegungen in der Literaturwissenschaft im Kontext der Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstheorien und -technologien in Form von Buch- und Aufsatzreferaten zur Verfügung zu stellen. Die Formulierung deutet darauf hin, daß es sich bei dem Gebiet um ein technologisch-geisteswissenschaftliche Grenzgebiet oder eine Grauzone handelt, in der Grenzen verschoben oder aufgelöst werden. Über die Orientierungsversuche in dieser Grauzone und ihre Ergebnisse werde ich zunächst berichten. Aus diesem Bericht werden sich dann im letzten Abschnitt eine genauere Bestimmung der Absichten des Vorhabens und seiner weiteren Entwicklung ergeben.
II
In einer Orientierungsphase wurde ziemlich weitgreifend Literatur gelesen oder gesichtet, um in der Flut von in dieser unsicheren Zone 'irgendwie einschlägigen' Publikationen einigermaßen zusammenhängende Bereiche abgrenzen zu können. Vor allem im Hinblick auf die 'technologische Seite' hieß das gleichzeitig, referierend überhaupt für das Referieren Fuß zu fassen, nämlich annähernd das zu begreifen, wozu die notwendigen, letztlich mathematischen Kenntnisse fehlen. Also auch eine Grauzone. Als Zwischenergebnis wurden Oktober 1989 eine tastend kommentierte Bibliographie zusammen mit einer Sammlung von über verschiedene Gebiete verteilten Referaten und Referatansätzen zur Information über den Stand der Arbeit vorgelegt.
Ein erstes Gebiet war als abgrenzbar und für einen Einstieg geeignet erschienen. Es handelte sich um Arbeiten, die sich um die Begriffe Oralität, Literalität und 'elektronische Medien', also letztlich im weiteren und dann weitesten Umkreis der in den frühen sechziger Jahren entwikelte Medientheorie Marshall McLuhans versammelt hatten oder von dieser herangezogen worden waren.(2) Diese Medientheorie schien historisch so weit 'ausgekühlt' zu sein, daß die nötige Distanz für umsichtiges Referieren möglich zu sein schein. Außerdem lagen mit den erwähnten Untersuchungen zu Literalität und Oralität historische und sozialanthropologische Studien bzw. Feldstudien vor, die gerade angesichts des von seit McLuhan immer wieder prophezeiten Ende des Buches und der Schriftkultur besonders beachtenswert erschienen und meinen 'literalen' Neigungen entgegenkamen. So stellen Jack Goody und Ian Watt in dem von Goody herausgegebenen Band Literalität in traditionalen Gesellschaften (Ffm 1981) in ihrem Beitrag über die Konsequenzen der Literalität die Entwicklung des phonetischen Alphabets als eine "radikale Neuerung in der Technologie des Intellekts" dar. In eben diesem Beitrag wie noch mehr in einigen der in dem Band versammelten Feldstudien wird aber deutlich, mit welchen Vorsichtsmaßnahmen und Eingrenzungen die traditionalen Gesellschaften diese "Technologie" an einer Ausbreitung hinderten. Sie wurde als geheimes magisches Wissen angesehen, dessen unvorsichtige Anwendung großen Schaden bringen kann, und das nur unter Eingeweihten und nach strenger Ausbildung in vielen Vorschriften von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das oben angeführte Motto, das aus diesem Band stammt, mag einen Eindruck davon geben.
Es liegen zwei Referate zu diesem Bereich vor, eins zu dem erwähnten Beitrag von Goody und Watt, eines zu einer Arbeit von Adam Hodkin, die sich mit New Technologies in Printing and Publishing auseinandersetzt. Bei ihrer Bearbeitung ging mir langsam auf, wie sehr selbst die Arbeiten von Goody, Watt und einiger anderer Autoren theoretisch von Vorannahmen geprägt waren, die letztlich aus der von McLuhan euphorisch rezipierten Kybernetik stammten. McLuhan hatte in Understanding Media die nachliteralen Kommunikationsformen als Wiederherstellung der alten oralen durch neue technische Medien dargestellt und dabei in Ausdrücken eines sich selbst regelnden, 'homöostatischen' elektrischen Netzwerkes beschrieben, also letztlich eines mathematischen Modells eines Nervensystems. So lag dieser kulturellen Medientheorie des globalen elektronischen Dorfes die mathematisch-technische Theorie eben dieser Medien zugrunde.(3) In dem Beitrag von Goody und Watt wird dieses Modell eines Homöostaten auf die oralen Gesellschaften angewandt. Literalität bedeudet eine Störung. Das literale kulturelle Gedächtnis kann über Jahrhunderte abgelagerte schriftliche Aufzeichnungen nicht einfach "ausscheiden" und "verdauen", d.h. vergessen, wie es als homöostatisches Regulativ vom Gedächtnis der oralen Gesellschaften behauptet und für das neue mediale der zeitgenössischen erhofft wird.(4) Schon McLuhan hatte technologische Innovationen als eine Störung und Bedrohung beschrieben, auf die Gesellschaft mit Selbstamputation, d.h. mit Verlagerung von Fähigkeiten nach außen reagierte, in Werkzeuge und Maschinen. Auf die letzte und größte Störung aber hätten die Menschen wie auf einen traumatisierenden Schock mit einer "verzweifelten und suizidalen Selbstampution"(5) reagiert, nämlich mit einer der Verlagerung ihrer Gehirne und Nervensysteme in ein globales mediales und informationstechnisches Kommunikationsnetz, das mit einer homöostatischen "Schließung", also gewissermaßen mit einer selbstregulativen Reorganisation des ganzen Apparates reagiert hätte. Die letzte große und weitgreifende Störung aber war die Einführung der linearen phonetischen Schrift und die von ihr provozierten technologischen Innovationen und - Kriege.(6)
III
Damit war eine Grenze überschritten und endgültig die Zwischenzone betreten. Damit war aber auch ein möglicher referierbarer Bereich literaturwissenschaftlich relevanter medientheoretischer Fragen selbst medial, nämlich techno-logisch zwieschlächtig geworden. Informationstheorie, kybernetische Kommunikations- und Kontrolltheorie, Automatentheorie und ihre interdisziplinären Wucherungen in die Biologie und die Human- und Geisteswissenschaften: Psychologie, Linguistik, Ästhetik... begegneten sich auf dem sehr belebten "carrefour des discours savants", auf dem eine fiebrige "quête de la transdisciplinarité" stattfand, wie es in einem Buch über neue Medien in Frankreich hieß.(7)
So berichtet Umberto Eco in einem Beitrag über das Verhältnis von Roman Jakobson zur Semiotik, wie dieser sich "gerade drei Jahre nach dem Krieg" mit der mathematischen Informationstheorie von Shannon und Weaver zu beschäftigen beginnt.(8) Eco spricht dort von "methodologischen 'Transplantationen'".(9) Noam Chomsky seinerseits erzählt in einem Interview von "einem gewissen Grad von Euphorie" im amerikanischen Cambridge der Nachkriegszeit.
Im Intellektuellenmilieu von Cambridge wirkten sich die bemerkenswerten technologischen Entwicklungen, die mit dem Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang standen, sehr stark aus. Computer, Elektronik, Akustik, mathematische Kommunikationstheorie, Kybernetik, alle technologischen Ansätze zur Untersuchung menschlichen Verhaltens erfreuten sich außerordentlicher Beliebtheit. Die Humanwissenschaften wurden auf der Basis dieser Konzepte neu aufgebaut. Es war alles miteinander verbunden.(10)
Yehoshua Bar-Hillel beschreibt die Zauberbergathmosphäre dieser Ära: "Linguists and psychologists, philosophers and sociologists alike hailed the entrance of the electrical engineer and the probability mathematician into the communication field as the forebodings of the millenium."(11) Auch Roman Jakobson war dabei. Alles schien, wie Thomas Mann es für eine andere Zeit beschrieben hatte, "rote Bäcken" zu haben und unter dem Einfluß "löslicher Gifte" kolossal illuminiert zu sein. Oder war es der "virus nerveux", der hier an "Liebhaber[n] der zerebralen Sphäre" die "Metastasierung ins Metaphysische, Metavenerische, Metainfektiose..." betrieb wie bei Adrian Leverkühn in Manns Doktor Faustus?(12)
Aber die Literaturwissenschaft. Hatte sie nicht ihre eigene techno-logisch unberührte Modernität. Die Diskursanalyse oder die Theorie autopoietischer Systeme? Ich referiere in dieser Frage meine eigene Naivität. Vincent Descombes legte in Das Selbe und das Andere die paradoxe Verbindung des Strukturalismus mit der Informationtheorie offen. Der Strukturalismus wolle die "Unterwerfung des Menschen unter Zeichensysteme (die jedem einzelnen von uns vorausgehen) zeigen. Doch leistet er diesen Aufweis, indem er seine Begriffe aus der Informationstheorie schöpft, das heißt aus dem Denken von Ingenieuren". Die sind aber "Kybernetiker", d.h. sie wollen "dem Menschenwesen dank einer besseren Beherrschung der Kommunikation die Kontrolle über alle Dinge" geben.(13) Und die moderne Systemtheorie? Siegfried J. Schmidt hatte doch gerade die Geschichte der Literatur des 18. Jahrhunderts systemtheoretisch umgeschrieben.(14) Handelte es sich aber bei der Theorie autopoietischer Systeme nicht um eine Metastasierung der alten, aber auch schon metastasierenden Ingenieurskybernetik in eine Metakybernetik, die "Second order cybernetics" Heinz von Foersters? Also eine Kybernetik, die ihren techno-logische Ursprung 'metavenerisch'(15) durch einen Sprung auf die nächsthöhere Beobachtungssphäre getilgt hatte? Heinz von Foerster war einer der jüngsten Teilnehmer an den ersten interdisziplinären Kybernetikkonferenzen nach dem Kriege gewesen. Er hatte während des Kriegs in Deutschland an Plasmaphysik und dem deutschen Kurzwellenradar gearbeitet.(16) Woran hatten er und der Neuropsychiater Warren McCulloch nach Kriegsende gearbeitet? Woran hatten Humberto Maturana, der später die Theorie autopoietischer Systeme entwickeln sollte, und Warren McCulloch gearbeitet? McCulloch selbst hatte 1943 einen logischen Kalkül Neuronaler Netzwerke entworfen. An seinen psychotischen Patienten hatte er entdeckt, wie das Gehirn noch arbeitete, wenn es nicht mehr richtig funktionierte: als eine Universale Turing-Maschine.(17) Aber auch in jüngster Zeit noch wurden weitere Vermischungen gefeiert. In einem Band über die "Materialität der Kommunikation" wurde erklärt, daß die "die ehemaligen Geistes-Wissenschaften [sich] endgültig zur Selbstbefreiung von der Allgegenwart des 'Geistes' aufgemacht haben" und nun "jener Raum des Denkens aufgebrochen [wird], den die Geistes-Wissenschaften im Zeitalter der Hermeneutik besetzt hielten", somit die "Geistes-Wissenschaften nun den Hiat [überwinden], der sie seit einem guten Jahrhundert von den Naturwissenschaften trennt".(18)
Es war schon von Störungen und Katastrophen die Rede gewesen. Auch Heimsuchungen wurden in dieser Grauzone benannt, aber auch auf Befreiungen und Erleuchtungen wurde verwiesen. Und der Feind tauchte auf, der Fremdling und der forschende, entziffernde Blick des Fremden auf den Fremden. Von Befreiung war schon in dem letzten Zitat die Rede. In demgleichen Band erklärte Friedrich Kittler, daß "das Joch der Subjektivität von unseren Schultern" genommen sei, wenn automatische Waffensysteme selber Subjekte geworden sind.(19) Aber auch McLuhan hatte die nervöse Selbstverlagerung in das globale Mediennetz als Erlösung von einer Katastrophe beschrieben. Jetzt gab es nur noch Medien, und jedes Medium war die Botschaft eines anderen oder seine eigene. D a s Medium an sich aber war das alles erleuchtende und alles verändernde L i c h t. "The message of the electric light is total change. It is pure information without any content to restrict its tranforming and informing power."(20) Roman Jakobson hatte, allerding nüchterner, ein Wort von frischer Luft zitiert, um eine radikale Bereinigung zu benennen. "According to Weaver, the analysis of communication 'has so penetratingly cleared the air that one is now, perhaps for the first time, ready for a real theory of meaning [...]'".(21) Umberto Eco sprach in dem erwähnten Beitrag über Jakobson von der Wiederaufnahme eines Fremdlings oder Aussenseiters in die linguistische scientific community der Nachkriegszeit. Es handelte sich um Charles Sander Peirce. Aber dieser "Zusammenschluß Peirce-Prag war mehr als eine Verschmelzung: Es war eine Befreiung, eine Erlösung."(22) Eine Befreiung, weil nach der Befreiung eine Tradition konstruiert werden konnte?
Und der Feind? September 1948 trafen sich am California Institute of Technology Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zu einer Konferenz über zerebrale Verhaltensmechanismus, dem sogenannten Hixon Symposium.(23) Der Mathematiker John von Neumann hielt dort einen Vortrag über "The General and Logical Theory of Automata." Ein anderer Mathematiker und Neurophysiologe, der schon angesprochene Warren McCulloch, überlegte sich in seinem Vortrag "Why the Mind Is in the Head" - so der Titel des Vortrags. Zusammen mit einem Logiker, Walter Pitts, hatte er 1943 eine mathematisch-logische Analyse eines idealisierten Netzwerks von Neuronen vorgelegt, "A Logical Calculus of the Ideas immanent in Nervous Activity". Von Neumann feierte diese Arbeit von 1943 in seinem Vortrag als Durchbruch auf dem Weg zu einer "mechanical, neural realization" allen Verhaltens eines Systems, das vollständig und in unzweideutigen Worten beschrieben werden könne.(24)
In der an den Vortrag von Neumanns anschließenden Diskussion beneidete McCulloch von Neumann darum, daß für die Maschinen, also die Computer, mit denen er es zu tun habe, von Anfang an eine "blueprint" gebe. In der Biologie oder zumindest in der Psychiatrie sei das unglücklicherweise anders, denn dort sei man "with an alien, or enemy's, machine" konfrontiert. "We do not know exactly what the machine is supposed to do and certainly we have no bluebrint of it. In attacking our problems, we only know in psychiatry, that the machine is producing wrong answers. We know that, because of the damage by the machine to the machine itself and by its running amuck in the world."
Erst als ihm ein Aufsatz von Alan Turing Aufsatz in die Hände fiel, in dem die Möglichkeit einer ideellen universalen Rechenmaschine mathematisch bewiesen worden war, begriff McCulloch, wie seine Amok laufenden feindlichen oder von einem anderen Planeten stammenden Patientenmaschinen funktionierten. Mit Pitts' Hilfe konnte der benötigte logische calculus gefunden werden, der in der Arbeit von 1943 niedergelegt wurde. "What we thought we were doing (as I think we succeded farly well) was treating the brain as a Turing machine; that is, as a device which could perform the kind of functions which a brain must perform if it is only to go wrong and have a psychosis."(25) Das war also 1943. In dieser Zeit liefen psychotische Feindmaschinen wie automatisierte Invasoren von einem anderen Stern in der Welt Amok. Ihre grundlegenden geistigen Funktionen ließen sich, so McCulloch, entschlüsseln: es waren Turing-Maschinen.
Der Mathematiker Alan Turing war in England in einem "exile from exile"(26) aufgewachsen. Er hatte sich selbst einen 'Psychotiker' aufgezogen, sich nämlich einen Säugling vorgestellt, dessen unorganisiertes Gehirn so programmierbar wäre, daß er zu keinem Menschen aufwüchse, sondern zu einer Universalen Turing-Maschine.
Diese Organisierung könnte die Modifikation der Maschine zu einer Universalmaschine oder ähnlichem zum Ergebnis haben. Das hieße, daß der Erwachsene in einer geeigneten Sprache gegebene Anweisungen befolgen wird, selbst wenn sie sehr kompliziert wären; er besäße keinen gesunden Menschenverstand und würde die lächerlichsten Befehle unerschrocken befolgen. Hätte er alle Befehle ausgeführt, fiele er in einen komaähnlichen Zustand oder würde vielleicht einige Standardroutinen befolgen, wie etwa zu essen. Kreaturen, die davon nicht weit entfernt sind, kann man tatsächlich finden, aber die meisten Leute verhalten sich unter vielen Umständen ziemlich anders.(27)
"Der Mensch, insofern er eine Maschine ist", also dieses in einem künstlichen Exil heranprogrammierte Wesen, sollte zu kompliziertesten intellektuellen Leistungen fähig sein. Eine davon sollte Kryptologie sein. Die Verwendung, die Alan Turing im Krieg gefunden hatte, war die als Kryptologe, der mithilfe von computerähnlichen Geräten die Sprache von in der Welt Amok laufenden "aliens, or enemy's machines" zu entschlüsseln hatte. Die Säuglingmaschine Turings sollte dann bei geeigneter Programmierung, und mit Lernfähigkeit ausgestattet, auch das Verhalten eines normalen Menschen erlernen und simulieren können. War 'Pschose' aber nicht der Untergang einer Welt und der Versuch, nach der Katastrophe über ihren Trümmern eine neue zu konstruieren oder zu simulieren, also eine 'Schließung' nach der Vorstellung McLuhans? Sollten Turing-Maschinen dies tun? Immerhin beschrieb Roman Jakobson nach dem klärenden Gewitter den Linguisten gegenüber der von ihm erforschten Sprache sprechender Wesen als "most detached and external onlooker" und sah ihn als "Cryptanalyst, who is a recipient of messages without being their addressee and without knowledge of their code", beschrieb ihn also Kryptologen, der einen feindlichen Code entziffert. War denn da noch Krieg? Erst danach könne sich der Linguist einem weniger fremden und distanziertem Verhältnis der Sprache gegenüber annähern. "As far as possible, this level of linguistic investigation must be merely a preliminary stage toward an internal approach to the language studied [...]."(28)
Und die Katastrophe? Ich stieß auf eine Grammatologie, von der ich bisher nur gedacht hatte, daß sie in einer bestimmten philosophischen Tradition stehend, die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik betrieb. Genauer gelesen, berief sie sich aber nicht nur auf Nietzsche, Freud und Heidegger, sondern bezog sich auf eine Situation, die sich immer schon angekündigt, aber erst "nachträglich" zu erkennen gegeben habe. Um aber anzudeuten, was diesem 'danach' die Erkenntnis auslösend vorausging, wird auf die theoretische Mathematik verwiesen,(29) sowie implizit auf ihren informationstheoretischen Zweig, explizit auf die technische "Entwicklung der Informationspraktiken". Ein "nicht zufälliges Zusammentreffen von Kybernetik und 'Humanwissenschaft' der Schrift" verweise aber "auf eine noch viel tiefer gehende Erschütterung".(30) Das Denken der Schrift sei auf eine "unaufhaltsam kommende Welt gerichtet" in einem "Vorgriff auf die Zukunft" , der nur "in Gestalt der absoluten Gefahr" möglich sei.(31)
Wo sich diese Grammatologie auf Begriffe wie message, code, und program bezog, fand sie sich auch mit der Molekularbiologie und einer Logik des Lebenden des Molekularbiologen François Jacob(32) konfrontiert, um dort einen "Diskurs über das-Leben-den-Tod" zu finden, der "einen bestimmten Raum zwischen dem lógos und der grammè besetzt".(33) Angesichts der strukturalen Anthropologie sprach diese Grammatologie in Bezug auf jenes Dazwischen von einer Struktur ohne Zentrum und Ursprung und von der "Angst", hier in ein Spiel ohne Grenzen hineingezogen zu werden. Die Frage, auf welches "Ereignis", welche Lehre oder welche Namen von Autoren diese "Dezentrierung als Denken der Strukturalität der Struktur"(34) zu beziehen wäre, wurde als "ziemlich naiv" abgetan, obwohl dann einige "'Eigennamen', aber kein Ereignis, genannt werden. Die strukturalistische Ethnologie aber, so wird gesagt, konnte erst nach einem Vorgang entstehen, der, Naivität hin oder her, ein Ereignis war, nämlich erst nachdem die "die europäische Kultur - und also auch die Geschichte der Metaphysik und ihrer Begriffe - verortet wurde, als sie aus ihrer Stätte verjagt wurde und daher genötigt war, sich der Vorstellung von ihr selbst als einer Bezugskultur zu entschlagen." Dieser "Augenblick" aber "ist nicht in erster Linie ein Moment des philosophischen oder wissenschaftlichen Diskurses, er ist auch ein politischer, ökonomischer, technischer Moment usf."(35) An anderer Stelle jedoch wird das strukturalistische Denken selbst verortet, nämlich an einem Ort, wo der "Inhalt, der die lebendige Energie des Sinns ist, neutralisiert worden ist, etwa wie die Architektur einer unbewohnten oder hinweggefegten Stadt, die infolge irgendeiner Natur oder Kunstkatastrophe bis auf ihr Skelett reduziert wurde."
Gleich einer Stadt, die weder bewohnt wird, noch im Stich gelassen wurde, sondern in der vielmehr der Sinn und die Kultur gespensterhaft umgehen.(36)
Da ist von "Heimsuchung" und "katastrophischem Bewußtsein" die Rede. Das aber sei auch eine Befreiung, nämlich die Entdeckung, die "Kraft unserer Schwäche" liege darin, "daß die Ohnmacht trennt, entbindet und emanzipiert. Von nun an nimmt man die Totalität besser wahr, das Panorama und die Panoragraphie werden möglich."(37)
Also ein Gewimmel von zirkulierenden Paradigmen, eine Art Wirbel, darin ein Sog hin zu einer immer wieder angesprochenen Katastrophe und gleichzeitig Befreiung, Erlösung, Neubeginn, Rekonstruktion und 'Schließung'. Nun klärte Michel Serres darüber auf, daß diese Zirkulation das Wesen des neuesten Wissens selbst sei. Es bilde ein Kontinuum.
Ce continuum est le siège de mouvements et d'échanges: méthodes, modèles, résultants circulent partout en son sein, exportés ou importés de tous lieux en tous lieux, de manière incessante [...]. le nouveau nouvel esprit se développe en une philosophie du transport: intersection, intervention, interception.(38)
Das Werk in vier Bänden aber, aus denen dieses Zitat stammt, ist mit seinem Titel dem Gott dieser Zirkulation gewidmet: "Hermès". Der war aber offensichtlich auch 1979 noch immer der Gott des Abhörens, der Interzeption, der Feindaufklärung, der Kryptoanalyse. Und dann gab es doch tatsächlich eine Theorie dieser Analogiebildungen, des sich aufeinander Abbildens von 'Paradigmen', eine mathematische Theorie der Analogie, die für die Semiotik von Thomas A. Seboek eine bedeutende Rolle zu spielen schien. Sie war von dem Mathematiker René Thom entwickelt worden, ein Zweig der Topologie. Er nannte sie Katastrophentheorie.
Das neueste Wissen schien mir nun aber als dieses nur noch Abbilder abbildende Kontinuum selbst die Tendenz zu haben, sich als die Katastrophe, als die es sich selber erfaßte, über einer anderen Katastrophe und Heimsuchung als globale Wissenssphäre schließen zu wollen, um eine neue Homöostase zu erreichen, oder sich selbstorganisierend auf einen neu errechneten 'Eigenwert' einzupendeln. Es tauchten Theorien von den Wissenschaften als selbstorganisierenden Systemen auf. Und das Referieren ging nicht weiter.(39)
IV
Vorhin war nicht nur von Katastrophen und Heimsuchungen sowie von Befreiungen und Erleuchtungen die Rede gewesen, sondern der "Diskurs über das-Leben-den-Tod" (Derrida) hatte sich am genetischen 'Code' festgesetzt. Vorher hatten weitere Lektüre und weitere Referatversuche zu Werken und den Autobiographien von Norbert Wiener stattgefunden. Der Sohn eines gelehrten Vaters, in dessen Haus vierzig Sprachen gesprochen worden seien, eines Linguisten, der sich in den Verzweigungen der Stammbäume von Sprachfamilien auskannte, befreite sich von geschichtlichem Ballast, und wandte sich einer einzigen Sprache zu, der geschichtslosen der Maschinen. Die aber war universal, Sprache der toten Maschinen u n d der lebenden Organismen. Ein Buch schien hier Klarheit zu schaffen. Grammatical Man. Information, Entropy, Language, and Life (New York 1982) von Jeremy Campbell. Ich habe es teilweise referiert. Ein Licht in der Grauzone? Aus Chaos entsteht Ordnung. Komplexität ist nicht nur mathematisch beherrschbar, Computer können auch neue Formen von Komplexität erzeugen, eine Mathematik der Biologie wird möglich, die Evolution des Lebens kann rechnerisch simuliert werden. Was aber hatten die von Campbell erwähnten mathematischen Crash-Programme zur Berechnung von Schockwelleneigenschaften, von den Mathematikern John von Neumanns und Stanislav Ulam in Los Alamos durchgeführt, mit zellulären Automaten zu tun, was hatte LIFE, das Computersimulationsspiel, das die Evolution komplexer Strukturen aus einfachster Programmierung zeigte, mit der Atombombe zu tun? Ich suchte weiter. Dem Phänomen der Kernspaltung war von Otto Frisch ein Name gegeben worden, der für die Zweiteilung von Bakterien reserviert gewesen war: "fission".(40) Richard Rhodes, der davon in seinem Buch Die Atombombe berichtet, bemerkt dazu: "Die Bezeichnung für einen lebensspendenden Vorgang wurde damit zum Inbegriff für einen Vorgang mit einem ungeheuren Zerstörungspotential."(41) Und Stan Ulam fand nach dem Ende des Krieges in Los Alamos, als Nichtbiologe beraten von Spezialisten der sogenannten "H-Division (H for health)", also der Strahlenschutzgruppe, daß die Zeit gekommen sei für eine tiefergehende Beschäftigung der Mathematik mit Problemen der Biologie.(42) Die Computersimulationen von Wachstums und Evolutionsphänomenen müssen aus mathematischen Spielereien an den großen Computern entstanden sein, wenn es zwischen deren Berechnungen mathematisch-physikalischer Probleme "a free period of time on the machine" gab. Mehr eine Art "luxury, since machine time was expensive".(43) Und weiter: was hatten die Wienerschen Vorstellungen von Gesellschaft als eines homöostatischen, demokratischen Kommunikationssystems mit den automatisierten Zielsuchgeräten der Flakgeschütze zu tun?
Weitere Suche. Es tauchten Giganten auf in der Grauzone auf. Tonnenschwere Computer in den USA, monströs verkabelte Apparate in England, kohlefressende Ungeheuer, mit dem Strombedarf einer einer Kleinstadt. Es tauchten 'Väter' des Informations- und Computerzeitalters auf, Wiener, Alan Turing, John von Neumann, Claude Shannon, und Stanislav Ulam, der eher schon einer der ersten Söhne. Und es tauchte eine reale Katastrophe auf, der zweite Weltkrieg. Aber auch der der Mathematiker. Denn diese, so Norbert Wiener, seien aus dem Himmel der reinen Zahlentheorie herabgestiegen und hätten entdeckt, daß diese beim Studium von Kommunikationstechniken ein machtvolles Werkzeug sei.
No matter, how innocent he may be in his inner soul and in his motivation, the effective mathematician is likely to be a powerful factor in changing the face of society. Thus he is really dangerous as a potential armorer of the new scientific war of the future.(44)
Aus dem "Diskurs über das-Leben-den-Tod" war From Mathematics to the Technologies of Life and Death geworden. Das war der Untertitel eines umfassenden Werkes über John von Neumann and Norbert Wiener. Es wurde referiert. Gleichzeitig durfte das schwierige Englisch(45) kein Hindernis mehr sein, die Arbeit von Andrew Hodges über Alan Turing, The Enigma zu referieren. Sie war in einer früheren Phase in einer Rezension durch Douglas R. Hofstadter aufgetaucht(46), von dessen metaphorischer Fuge über "Minds and Machines", Gödel, Escher, Bach, An Eternal Golden Braid betitelt, der Referent auch einmal "febril" geworden war und "rote Bäckchen" bekommen hatte. Was hatte das alles aber noch mit Literaturwissenschaft zu tun?
V
Es hatte gleichzeitig immer ein zweites Gebiet vor Augen oder im Regal gestanden. Die Arbeiten zur Medientheorie des Kassler DFG-Projektes und vor allem die von Friedrich Kittler. Hier wurden die Zusammenhänge von Krieg und neuen Technologien und Medien eindrucksvoll weitgreifend und systematisch erforscht, dar-, und ausgelegt. Die Literaturverweise verzweigten sich und bildeten Knoten aus. Im Umfeld viele Überlappungen und Kombinationen, Symposien und Kongresse, Kittler zusammen mit Jean Baudrillard, zusammen mit Vilém Flusser, zusammen mit Humberto Maturana, Heinz von Foerster, Paul Watzlawik und Niklas Luhmann. Im Hintergrund schon je Jacques Derrida, Jacques Lacan und Michel Foucault. Hier nun hatte sich immer schon sich ein Ausweg aus der Grauzone gezeigt. Das techno-logische Substrat des Diskurses von der Dezentrierung "des sogenannten Menschen" wird freigelegt und Erlösung vom "Joch der Subjektivität" versprochen. Sie ist im Vorwort von Kittlers Grammophon, Film, Typewriter angedeutet.(47) Es ist aber auch die Erlösung vom Schreiben im 'Referat' der "Gesetze, deren Fälle wir sind", also auch des ihm zugrunde liegenden Programms, also der Theorien Turings, Wieners, Shannons an ihrem apokalyptischem Platz. Erlösung bedeutet, daß hier, wo ich referiere, sich ereigne, daß verschwindet oder ausgetrieben wird: das Subjekt, die Hermeneutik, der Geist. Dieser Geist hatte jahrlang geglaubt, er könne überall dort zu Hause sein, wo ein Platz nicht war. Jetzt tritt die Wahrheit an ihn heran, daß er genau da nur seinen Platz findet, wo er sich selbst widerlegt. Diese Stelle weist ihm ein Bote. Er ist kein Euphorion, sondern er zeigt auf die Transactions of the American Institute of Electrical Engineers und auf das Bell System Technical Journal(48). Was bedeutet das? Ich glaube, es ist eine Art neuer Gnosis, deren alte Versuche, Wissenschaft zu überwinden, Hans Jonas dargestellt hat.(49) Es liegen zu diesem Bereich bis jetzt zwei Referate vor. Eines zu dem Buch von Volker Grassmuck, Vom Animismus zur Animation. Anmerkungen zur künstlichen Intelligenz, und eines zu einem kleinen Beitrag aus dem 'Umfeld', von Vilém Flusser, Gedächtnisse.
VI
Das Referieren hat es allerdings an sich, daß das Verschwindenlassen gar nicht so einfach ist. Einerseits muß Nebensächliches erst einmal als solches überhaupt erkannt werden können. Anderseits sind, wo Das Subjekt verschwunden sein mag, Die Subjekte hartnäckig noch da, auch das referierende. So wie man im Ungarn John von Neumanns in den zwanziger Jahren sagte, daß es nicht genüge reich zu sein, sondern man auch ein Bankkonto in der Schweiz haben müsse, kann es ihnen nicht reichen, erlöst zu werden. Denn heutzutage die Platine erkennend zu entziffern, heißt nicht, daß die geisteswissenschaftliche Subjekte beim Arbeitsamt oder anderswo nicht umschulbar wären, um vor ihr zu sitzen und ein 'Maschinensubjekt' zu bedienen. Und selbst wenn sie bedienen, sind sie immer noch da, und wollen wissen, unter welchen Bedingungen. Welche Alternativen aber bleiben angesichts des immer weiter wachsenden Techno-logisierungsdrucks den jüngeren akademischen Subjekten in den Geisteswissenschaften neben der Bedienung der Maschine. Eine Verheißung ist hier der techno-logisch-gnostische Dekonstruktivismus allemal. Eine andere wäre, die Maschinen zu programmieren und die Forschung zu computerisieren.
Das Unternehmen 'Referateservice' ist also nicht nur thematisch in diesem Feld angesiedelt. Was aber das Thema betrifft, so geht es nicht nur darum, von der Herkunft einer Techno-logie zu berichten, sondern ebenso von der Herkunft von 'Paradigmen', die sich die Literaturwissenschaft weiterhin angeignet (oder umgekehrt), ohne auf diese Herkunft und deren Kontext achten zu wollen, können oder dürfen. So soll das Referat zur Arbeit von Heims und ein oder zwei folgende 'Großreferate' in dieser Hinsicht einen historischen Fluchtpunkt bilden, um den sich andere Referate gruppieren. Ich habe diese Arbeit von Heims gründlich und zugleich so knapp referiert, wie es möglich ist, ohne die biographischen, politischen, wissenschaftlichen und technischen Zusammenhänge zu zerreißen. Meiner Erfahrung nach, ist das die einzige Möglichkeit, Fuß zu fassen in einem Gebiet, das so verwirrend und brisant ist. Selbst mathematisch nichttechnische Darlegungen zu Entwicklungen in den 'harten' Wissenschaften lassen sich, wenn sie nicht schon die 'paradigmatische Schließung' hinter sich haben, d.h. in der interdisziplinären Zirkulation vom Kontext ihrer Entstehung gereinigt sind, nicht ohne Zuhilfenahme von ebenso nichttechnischen Erklärungen anderer Autoren wiedergeben. Die zahlreichen Fußnoten enthalten weiterführende Darlegungen, die verfolgen kann, wer über eine knappe Zusammenfassung hinaus mehr erfahren möchte. Ein Referat von etwa demgleichen Umfang wird zu dem vielleicht noch bewundernswürdigerem Buch von Andrew Hodges über Alan Turing vorgelegt werden. Weiterhin möchte ich noch einige der oben etwas assoziativ hergeleiteten Zusammenhänge genauer referiern, so mit einem Referat über die Autobiographie von Stanislaw Ulam vor dem Hintergrund seiner Artikel in dem oben als Fußnote angeführten Buch über Science, Computers & People. Hier und vor allem in einer weiteren Auswertung von Vorarbeiten zu Referaten zur Kybernetik, glaube ich, mich etwas freier bewegen und schwerpunktmäßig arbeiten zu können, ohne den Anspruch zu stellen, damit Forschungsreferate zu vorzulegen. So kann zwischem dem mehr assoziativem 'Referieren über das Referieren' und den streng am Buch arbeitenden Referaten ein Augleich sich einstellen. Die Kybernetik befragend zu referieren, kann Materialien zu einer Ermittlung von Zusammenhängen zwischen ihrer 'epistemologischen Struktur', der Ansiedlung ihres Wissens genau zwischen Maschine und Gesellschaft, und ihrer 'paradigmatischen Durschlagskraft' ergeben, die sie nicht nur an die Systemtheorie weitegegeben zu haben scheint. Denn mit der Kybernetik, so Lothar Späth, steht "mittlerweile auch eine geisteswissenschaftliche Untersuchungsmethode zur Verfügung"(50), und Lothar Späth setzt auf ihre "kulturelle Integrationskraft"(51) in der "Informationsgesellschaft". Von dieser Basis aus sollte es dann längerfristig möglich sein, sowohl den zu Beginn der Arbeit angegangenen Bereich Oralität-Literalität-'elektronische Medien' wie auch die Kittlersche 'Medientheorie' und ihr Umfeld anzugehen, ohne in deren paradigmatischen Fallen hängen zu bleiben.
Ich halte es für sinnvoll, die Abgabetermine nicht von der Komplettierung einzelner Bereiche abhängig zu machen, sondern regelmäßig vor Semesterende eine Lieferung auf dem jeweiligen Stand zu zusammenzustellen. Natürlich hoffe ich auch, daß das Unterfangen insgesamt auf Interesse stößt und bin für kritische und ermunternde Rückmeldungen dankbar.