Karl Moormann
Vorwort: Unconditional Surrender - Friedrich A. Kittlers Medientheorie am Autoreferenzpunkt.

Mit dieser Folge des Referateservice wird der in der ersten Folge vom Februar 1990 angekündigte Referatekomplex zur Theorie technischer Medien von Friedrich A. Kittler vorgelegt. Zusätzlich wurden einige Arbeiten aus der rein diskursanalytischen Phase referiert, um dadurch die große Arbeit Aufschreibesysteme 1800/1900 als eine Epochenschwelle auch in der Entwicklung der Theorie Kittlers kenntlich zu machen, an der Diskursanalyse und Medientheorie an dem Schrägstrich 1800/1900 die neuen Kräfte aus ihrer Verschweißung erproben.
Wurden mit dem Referateservice bis jetzt vornehmlich "Materialien aus der Grauzone zwischen Literaturwissenschaft und Informationstechnologien" vorgelegt, so hat diese Folge von Referaten zum Gegenstand einen radikalen Versuch, diesem Zwischenbereich jede Spur von Grau durch hellste Ausleuchtung auszutreiben. Den früheren poststrukturalistischen Programmen wurde von Kittler "Effekte einer Streuung" zugeschrieben. Sie seien "nicht geschrieben, um referierbar zu werden", sondern um die "Un-Möglichkeit eines unifizerten Diskurses"(1) aller Diskurse zu belegen. Gegenüber einer Theorie aber, die an technischen Medien und Waffensystemen die historischen "Apriori" des Zeitalters entdeckt hat, hieße der Versuch, einen Über- oder Durchblick der dergestalt den technischen Systemen übertragenen Unifizierung der 'Diskurse' den Referaten beifügen zu wollen, die Unifizierung einer schon automatisierten Unifizierung zu betreiben.
Die Übergabe dieser Sammlung von Referaten hat deshalb bei der noch fehlenden Distanz ihnen gegenüber auch den Charakter der Weitergabe eines Knäuels von Fragen(2), die sich schließlich am Begriff 'Medientheorie' selbst verfilzten und in den Referaten nicht auseinandergeflochten wurden. Weitergegeben werden dabei auch die mit der "historische[n] Positivität und [...] Durschlagskraft der Kommunikationsmedien" potenzierten "Strahlkräfte oder Schrecken innerhalb der neueren Philosophien und Geschichtswissenschaften [...], die unter dem Namen Poststrukturalismus firmieren"(3). Strahlkräfte, die nicht nur von der Theorie ausgehen, sondern auch von den blitzartigen "Verschaltungen" der aus ihren Kontexten herausgesprengten Zitate, die den Leser bis an die Schmerzgrenze unter ein Trommelfeuer von Erleuchtungen setzen.
So werden Fallen, Effekte und an sie geheftete Fragen weitergegeben. Die Fragen sind zunächst in der Zone angesiedelt, wo unter dem Schock der Lektüreeffekte die Grenze verschwimmt zwischen der Durchschlagskraft der Kommunikationsmedien und der ihrer Theorie selbst, die gezielt jede politische und kulturelle Vermittlung zwischen den "Leuten" und den technischen Medien ausschaltet, um ersteren in einer Art Trepanation den Effekt technischer Medien unmittelbar zu "implementieren". "Nur wer durchs Nadelöhr der Destruktionspraxis geht, gewinnt Zugang zu den kopernikanischen Begriffen des 20. Jahrhunderts. Dabei kann die politische Dialektik der Gewalt durch ethische Raisonnements nur verschliffen werden. Denn wer seine Hände um jeden Preis rein von Blut halten will, verstellt sich die Möglichkeit einer Reinigung kraft der Revolte, d.h. des Aufrufs der Gewalt durch die Vernunft in geschichtlicher Krisis." So schreibt Norbert Bolz in dem Sammelband, aus dem der Aufsatz Kittlers über Wagners Medientheorie referiert wurde."(4) Die Theorie der absoluten Gewalt der technischen Medien als absolute Gewalt? Unconditional Surrender(5) heißt der wohl neuestes Aufsatz Kittlers. Aber wem dann ohne wenn und aber unterworfen sein? Der Theorie? Dem Medienapparat? Dem selbst theoretisch oder theologisch gewordenen Medienapparat oder der Medienapparat gewordenen Theorie oder Theologie?
In einem erstern offizielleren Teil umgeht also dieses Geleitwort die Fragen und beschränkt sich auf Hinweise zu Thema, Umfang und Grenzen dieser Folge des Referateservice. In einem zweiten Teil versucht der Referent dann, aus den Auswirkungen der referierenden Lektüre auf das 'Subjekt des Referierens' selbst die Frage nach eben dem Effekt einer Theorie der Effekte der Medien - und nicht nach ihrer "unifizierten" Aussage - zu entwickeln. Dieser Teil wäre also eher als zunächst reflektiert idiosynkratisches Nachwort zu den Referaten lesen. Er endet dann mit der Frage nach der Beziehung zwischen der Unhintergehbarkeit der "Positivität" der technischen Medien und einer unbeendbaren Hintergehbarkeit des an ihnen dekonstruierten Subjekts.
I
Die Referate legen nicht nur, wie ursprünglich dem Themenbereich entsprechend beabsichtigt, die späteren Arbeiten Kittlers zu den technischen und vor allem digitalen Medien(6) vor, sondern bieten zugleich einen Überblick über eine Entwicklung, die mit dem Titel "Von der Diskursanalyse zum informationstheoretischen Materialismus" umrissen ist.
Die Notwendigkeit dieser Ausweitung lag erstens(7) und - unter Voraussetzung der Begriffsstutzigkeit wenigstens des Referenten - am dringendsten in dem Verhältnis von Vorwegnahme und Rückbezug wie -wirkung der verschiedenen Arbeiten untereinander, von dem die Zugänglichkeit der einzelnen Arbeiten abhängt. Das "Aufschreibesystems 1800" erschließt sich, wenn sein schon vorher ausgearbeiter 'genetischer Code' bzw. das von Jacques Lacan übernommene generative Schema der kernfamilialen Intersubjektivität mit der Zirkulation des imaginären mütterlichen Phallus auch dort im Kopf des Lesers präsent ist, wo diese Zirkulation das gesamte System steuert, ohne als solche noch explizit ausgesprochen zu werden. Dieses generative Schema ist in dem Referat Nr.1 aus dem ihm vorliegenden Text möglichst rein herausgeschält worden, im Referat Nr. 2 kann es in einem weiteren systematischen und textuellen Zusammenhang noch ohne Entschlüsselung bei der Arbeit beobachtet werden. Auf der anderen Seite wird die 'Schließung' dieses Systems zu einer Art autopoietischem Medienverbund über den Begriff "Diskursverkabelung" in ihrer radikalen Konsequenz erst von den späteren technischen Verbundsystemen her greifbar: das Aufschreibesystem 1800 enthält fast komplett das von 1900, jedoch als halluziniertes "avant la lettre".
Zweitens stehen die verschiedenen Phasen der Ausarbeitung der Aufschreibe- und Medientheorien insofern im Verhältnis der Überbietung zueinander, als die späteren die theoretischen Stützen der vorangehenden dekonstruieren, um an ihnen ihre technologischen Apriori bloßlegen. Das gilt für die Psychoanalyse Freuds und dann auch für die Lacans genauso wie für die Diskursanalyse Foucaults(8). Das gilt damit schließlich auch für Kittlers eigene diskursananlytische Arbeiten, die in Grammophon, Film, Typewriter - dem Referat Nr. 5 zugrundeliegenden Text - implizit der National Security Agency als ihrem eigenem technischem Apriori überschrieben werden.(9) Schließlich wird im zuletzt referierten Aufsatz (Nr. 10) der "Begriff Medium selber" von einem "totaler[n] Medienverbund auf Digitalbasis [...] kassiert", um mit der These "nur was schaltbar ist, ist überhaupt" einem "informationstheoretischen Materialismus"(10) freien Raum zu geben.
Drittens beansprucht diese Medientheorie auch in ihren letzten Formen immer noch den dekonstruktiven Effekt gegen ein Ziel, das sie wieder und wieder zu allen möglichen Variationen seiner Liquidation von bloßen Verschwindenmachen bis zum Ausräuchern(11) ansteuert: Das Subjekt, Der Mensch, Die Geschichte, also das, was die frühere Diskursanalyse als Effekt programmierend programmierter diskursiver "Positivität", und vor Auf-schreibesysteme als Signatur auch noch "unserer" Zeit freigelegt hatte. Dieses Ziel liegt in seiner ursprünglichen und ausgearbeitetsten Form sozusagen neben dem Startpunkt der früheren theoretischen Missionen seiner Dekonstruktion, und die Bahnen der späteren Unternehmen müssen über den Querschnitt immer wieder auf diesen Punkt zurückbezogen werden. Die Medientheorie ist ohne die Diskursanalyse undenkbar.
Deshalb und schließlich sollte die Arbeit der Dekonstruktion am Aufschreibesystem 1800 nicht nur in ihrer zunehmenden Verkürzung als immer weiter entfernter, aber weiterhin notwendiger Bezugspunkt der Medientheorie, sondern auch in ihrer unerbitterlichen Höchstform vorgelegt werden.
Die einzelnen Referate tasten sich mit penetranter Gründlichkeit an den Stellen der Texte entlang, an denen eine Freilegung der Verstrebungen des theoretischen Gerüstes sowie des "Schaltplans" des jeweiligen Medienverbundes zu winken scheint, ohne generell auf einer Metaebene sich bewegen zu können und zu wollen. Die Grund dafür ist oben angesprochen worden. Die theoretischen Einsätze Kittlers greifen so weit und hoch, daß das Referieren die Mitte zu halten sucht zwischen seinen beiden Unmöglichkeiten, nämlich bloßem Abschreiben und einer eingängigen Erklärung der Theorie, ihrer Grundlagen und der Phasen ihrer Entwicklung. Das läßt den Benutzerinnen und Benutzern, wie schon in den anderen Folgen, die Freiheit, von durchgängiger Lektüre bis hin zum Ausschlachten die ihnen genehme Nutzungsart zu bestimmen, gibt an sie aber auch einen Teil des Mangels an erklärenden Hilfestellungen weiter, der Texte auszeichnet, die zu ihrem Verstehen ihr Verständnis schon voraussetzten oder jenseits von ihnen zu erarbeiten erst aufgeben.
II
Die Frage nach dem Effekt der Theorie der Effekte der technischen Medien läßt sich in Form einer Befragung des Effektes ihres Lektüre vornehmen. Am Aufschreibesystem 1800 wurden die Effekte der positiven diskursiven Gegebenheiten des Systems der Untersuchung Kittlers zufolge von diesem System selbst an seinem "Autoreferenzpunkt" inszeniert, um seine Reproduktion durch Verdopplung seiner Wirkungen zu sichern. Genau das bewirkten die Kupferstiche der pädagogischen Alphabetisierungswerke, indem sie einer Mutter mit Kind eine Mutter mit Kind beim Alphabetisierungswerk zeigten. Genau das geschah den Lesern der Romane, wenn sie als Romanhelden einen angehenden Dichter vorfanden, der in einer Schreibszene im Roman selbst einen Text hermeneutisch als seine Initiation in die Autorschaft las.(12) Das hermeneutische Lesen des Lesers als semiotechnischer Effekt wird, so die These Kittlers, über seine Identifikation mit seiner Spiegelung im Roman verstärkt.
Diese Autoreferenzszenen verschwinden notwendigerweise in der Theorie der technischen Medien, um - so die hinsichtlich der einzelnen Phasen der Medienentwicklung noch etwas undifferenzierte Vermutung - in ihr selbst aufgehoben zu werden. Die Erleuchtung oder blitzartige Erhellung als Effekt der Montage oder "Verschaltung" von Textfragmenten, Apparatebildern und Prinzipschaltungen hätte ihre sie verdoppelnde Spiegelung in einer Form von Theorie, die die traditionellen Möglichkeiten der Lektüre, des Nachvollzugs und des Verstehens dem lesenden Subjekt nicht nur entzieht, sondern diesen Entzug in einer Inszenierung des Verschwinden des Subjekts vom Schauplatz der Ankunft der technischen Medien noch verdoppelt.
Diese Struktur findet sich an einem besonders ingeniösem Beispiel der "Verschaltung" von Texten und Apparaten in Grammophon, Film, Typewriter(13), dessen vollständige Rekonstruktion allein schon den Rahmen dieses Geleitwortes überschreitet.(14) Es werden dort die optischen Apparate nach der Optique et photométrie dites géométriques von Bouasse(15), mit deren Hilfe Lacan seine Lehre vom Imaginären unterstützt, auf ihr mediales "Apriori" zurückgeführt. Es sind drei Varianten davon im Spiel. Hinzu kommt ein vierter Apparat aus einem anderen Kontext als Autoreferenzapparat.
1. Der in Le Séminare, Livre I von Lacan auf S. 92 abgebildete und erklärte Apparat.(16)
2. Der ebendort auf S.143 abgebildete modifizierte und durch einen Planspiegel erweiterte Apparat. Er erscheint in dieser Form noch in den Écrits S. 674.
3. Dergleiche Apparat in Écrits auf S. 680 abgebildet, aber wiederum modifiziert: der Planspiegel wird um 900 gedreht.
4. Der Aufriß des »Alabaster Theaters« von Oskar Messter nach dem ersten Band von Friedrich von Zglinckis Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer.(17)
Die Funktionsweise der Apparate sowie die Argumentation, die sie illustrieren, kann hier nicht wiedergegeben werden. Einzelheiten werden nur erwähnt, soweit sie das Verschaltungsprinzip verdeutlichen.
Die Abbildung auf S. 249 von GFT ist die von Apparat 1. Der Text, den diese Abbildung illustrieren soll, bezieht sich auf Apparat 2 und ist nur auf diesen bezogen unmißverständlich. Danach folgt die Einführung oder -schaltung eines weiteren optischen Apparates, des »Alabaster Theaters« von Oskar Messter, also von Apparat 4.(GFT 250) Dessen Beschreibung wird nur zugänglich, wenn man nach der oben angeführten Quelle (S.43 f.) den "Planspiegel B" (GFT 250) in "Planspiegel D" korrigiert und sich ebenfalls von der Quelle informieren läßt, daß es sich dabei um eine "durchsichtige Spiegelscheibe D" (Zglincki a.a.O. S.43) handelt, auf die von einem Filmprojektor Schauspieler so projiziert werden, daß sie auf der hinter dem durchsichtigen Spiegel aufgebauten realen Bühnendekoration zu agieren scheinen.
Nach der Einführung dieser Apparatur erfolgt eine nächste Verschaltung: ihr (durchsichtiger) Planspiegel wird um 900 gedreht (GFT 251). Damit wird diese Apparatur, ohne daß das explizit gemacht wird, mit dem an dieser Stelle nicht erwähnten Apparat 3 'verschaltet', an dem Lacan unter anderem den dort eingebauten Planspiegel eben um 900 dreht, um dessen imaginären Effekt auszuschalten.
Die "Handgreiflichkeit" besteht darin, über den Einbau der apparativen Analogien Lacans in eine Apparatur, in der selbst schon Theater und technisches Medium (Kino) 'verschaltet' sind, das Abtreten des Analytikers als Spiegelfläche der wiederbelebten imaginären Identifikationen des Subjektes in der psychoanalytischen Situation in das Abtreten von Psychoanalyse überhaupt im theatralischen Rahmen einer medientechnischen Initiationapparatur zu transponieren.
Das Abtreten des Analytikers oder das Verschwinden des Spiegels imaginärer Projektionen heißt für das Subjekt in der analytischen Situation die Auflösung imaginärer Verstrickung und Entfremdung, bei der zugleich die drei Register des Imaginären, Symbolischen und Realen voneinander geschieden werden. In der theatralisch-medientechnischen Transposition hingegen findet das "Ende von Psychoanalyse" überhaupt statt, die hermeneutischen Verstrickungen des bürgerlichen Subjekts als solchem zerfallen, und die "drei Dimensionen oder Medien - das Nichts namens Rose, die Illusion Kino und der Diskurs - [sind] technisch rein geschieden". (GFT 251)
Die Medientheorie zeigt so an ihrem Autoreferenzpunkt einem unter dem Effekt der Textverschaltung, d.h. des Entzugs der traditionellen Verstehens- und Nachvollzugsmöglichkeiten blitzartig erhellten Leser seine eigene Initiation - oder deren Scheitern - in die Theorie als theatralisch-medientechnische gespiegelte Erlösung des Subjekts vom Zwang imaginärer Identifikationen. In Verbindung mit diesem Entzug können die drei Register Lacans auseinandertreten und schließlich, ins Technische transponiert und aus ihrer Verhakung im Subjekt herausgerissen, vor dessen geblendetem oder erleuchtetem Blick zum Medienverbund im Mikroprozessor sich zusammenschließen (GFT 353 f).
Die Verschaltung der aus der Textmasse herausgesprengten Zitate ist in ihrem Effekt also eben das, was schon die Diskursanalyse an den von ihr dekonstruierten Diskursen freigelegt hatte, nämlich "diskursive Handgreiflichkeit". Schon diese Lehre sagte, daß das, was sie untersucht, der "Diskurs" also, das tut, was er sagt. Spätestens als Medientheorie aber tut sie selbst, was sie als Effekt aufdeckt, indem sie die "Positivitäten" des Diskurses den technischen Medien überschreibt. So kann auf der Ebene der Medientheorie die Ausarbeitung der Verschaltung der verschiedenen Medien zugleich als Beschreibung der Methode ihrer Ausarbeitung gelesen werden: "Medientechnische Ausdifferenzierung öffnet zugleich die Möglichkeit von Verbundschaltungen" sagt die Lehre von den Medien und öffnet über die Ausdifferenzierung ihrer Textbasis auf Texte zu verschiedenen Medientechniken die Möglichkeit textueller Verbundschaltungen. "Nachdem die Speicher für Optik, Akustik, Schrift getrennt," - die einschlägigen Textsorten also ausdifferenziert - "mechanisiert und durchgemessen waren," - also die 'Lötstellen' an den Texten ausfindig gemacht - "konnten ihre diversen Datenflüsse auch wieder zusammenfließen": die textuelle Verbundschaltung kann zusammengelötet und aktiviert werden. "Das physiologisch zerlegte und physikalisch nachgebaute Zentralnervensystem feierte Auferstehung, aber als Golem aus lauter Golems"(18): Die Verschaltungen aus Verschaltungen wird als neuronal-assoziatives Konstrukt oder Buch aus Büchern dem Leser als einer Art biblio-neuronalem Empfangsapparat gesendet. Das Subjekt wird in den Metaphern Kittlers von seiner eigenen Lektüre durchgemessen und -geschaltet.
Die Theorie wirkt so selbst als "Implementierung". Sie tut mit den "Leuten", was ihr zufolge ihnen die Medien antun. Nach dem auf Seite 246 von GFT 'aktivierten' Zitat von Béla Balázs kann »Geist an sich« durch »'Technik an sich'« dargestellt werden. Das Zitat wirkt als 'Verstärker' der Bestimmung des technischen Mediums Films durch Kittler, derzufolge der Film die "Leute" in "neurologisch reine Datenflüsse" einschaltet. Der Film sendet "seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozeß" (GFT 240). Ebenso sendet das Buch seinen Lesern deren Leseprozeß: die Zustände eines unter dem Effekt der Verschaltung von Zitaten, Apparaten, Prinzipschaltungen und schließlich mathematischen Formeln auf Höchstschaltgeschwindigkeit gebrachten Gehirns.
Theorie eines Traumas? Trauma einer Theorie? Auflösung eines Traumas durch theoretische Mimikry? Die Befragung des Lektüreeffekts kann nur den neuralgischen Punkt bloßlegen, an dem Medientheorie selbst zum Medium wird. Unter der Gewalt der von ihrer Dekonstruktion ermöglichten Implosion und Verdichtung des von ihr entwickelten technischen Mediensystems rückt sie dem Punkt nahe, der vorher die Stelle war, auf den die Diskursanalyse als den Ort zeigte, an dem das System über die Besprechung und Inszenierung der Szene seiner eigenen Reproduktion seine Reproduktion erreichte. "Eine automatisierte Diskursanalyse übernimmt das Kommando", heißt es schließlich in GFT (S. 379). Am Autoreferenzpunkt der Medientheorie, wo diese schon den Begriff Medium kassieren ließ, rücken bis zu fast völliger Ununterscheidbarkeit sie selbst und das inzwischen auf Digitalbasis totalisierte und nicht mehr nennbare Kommunikations- oder Nachrichtensystem der NSA - National Security Agency oder No Such Agency(19) - zusammen, und die Gewalt der Theorie überlappt sich mit der ihres ihr selbst offenbarten anonymen Apriori. Dann aber ist das apokalyptische Erlösungssversprechen, das die Theorie verkündet, zugleich endzeitliche Heilung durch das totalisierte Mediensystem und umgekehrt.
Gerade weil nun Theorie wie System Depersonalisation versprechen, können sie voraussetzen, daß Personen als Adressaten der Theorie oder des Systems für sie oder es ansprechbar und erreichbar sind. So fällt in gleicher Überlappung an den Subjekten ihre zusammengestauchte Subjektivität mit ihrem letztmöglichen Identifizierungmerkmal zusammen. Subjekte sind, so Kittler im Schulterschluß mit Luhmann, Adressen des Kommunikationssystems Gesellschaft.(20) Subjektivität bleibt nach Abzug aller speicherbaren Spuren durch die frühen technischen Medien für das letzte und späteste die letztmögliche postalische Beschriftung mit einer Adresse. So wird den Subjekten Erlösung von sich selbst versprochen, um sie als Unerlösbare mit ihrem unabstoßbaren Subjektsein zu markieren und darüber zu adressieren. Als unerlösbar Erlöste sind sie an die Medientheorie angeschlossen, als kommunizierend Exkommunizierte an das um sie geschlossene und durch sie durchgeschaltete Netz der Kommunikationsmedien. Funktionieren tut daran aber die "Verschaltung" von Theorie und System.
Das wäre das Ergebnis einer Lektüre der Medientheorie Kittlers gegen ihren Strich. Einer Lektüre nämlich, die in dieser Theorie eine 'Summa Technologica' der Exkommunikationsmedien liest, und damit die Ausarbeitung der großen Techniken medialer Spurensicherung an speicherbaren Resten oder Abfällen der Subjekte im Aufschreibesystem 1900 durch den Autor Kittler bis dorthin weiterdenkt, wo nach der nicht abzuschaffenden Abschaffung Des Menschen und Subjekts diese noch die letzte Adresse der Botschaft der Medien sind, die nach Kittler mit McLuhan sie selbst sind.
Als ihre eigene Botschaft aber sind diese ihre Technologie. In der vermutlich neuesten Arbeit Kittlers fallen Medien und Technologietransfer zusammen und sind Transfer von Weltreichen. Ein Reich, "und d.h. Medienssystem"(21), nämlich das dritte, wird durch eine Mutation seiner medientechnischen Strukturen zur medialen translatio imperii(22) an die Siegermächte gezwungen. "Wenn Reiche Medien sind und Medien Post, kann ihr Schicksal nur Verschickung heißen"(23). Der Titel der Arbeit aber, Unconditional Surrender, meint mit der Siegerforderung Roosevelts die Botschaft des 'Mediums Reich' oder die Bahnung der "Befehlsflüsse" selbst, also Technologietransfer ohne wenn und aber, vom vorletzten ins allervorletzte Reich, als das nicht endende Ende von Geschichte überhaupt.(24) "Unconditional Surrender" ist aber auch die imperiale, d.h. mediale, d.h. technologische Botschaft, die dem Subjekt, immer wieder dem Subjekt, wo es schon längst nicht mehr und doch noch ist, als allervorletzte Reichstheoriepost zukommt.(25)
"Das Gesetz macht die Sünde", sagt der Spiegel-Analytiker Lacan(26) mit Berufung auf den Apostel Paulus und auf die Schule des kanonischen Rechts von Bologna, die die Mechanisierung der Sündenproduktion durch die Technik der peinlichen Befragung entwickelt und damit - in der emphatischen Formulierung Lacans - ihren "Glauben an den Menschen"(27) bezeugt hatte. Nach der Demontage der analytischen Apparatur machen technische Medien bei Kittler das Subjekt als Rückfälliges und seine Subjektivität als Makel, an dessen Unausrottbarkeit die Theorie der unbefragbaren Positivität dieser Medien sich ihrer eigenen Souveränität versichert.
Es sind also nicht die historiographischen Ergebnisse der Arbeiten zur Kriegs- und Technologiegeschichte und zu deren Verzeweigungen in die 'zivilen' modernen Medien, die in Frage nach Subjekt, Mensch und Geschichte stehen, sondern die an ihnen offenbarten unhintergehbaren technologischen Apriori, die der Theorie selbst Unhintergehbarkeit und ihrer Aussprache den Charakter einer unbefragbaren Lehre zukommen lassen. Als Lehre spricht die Theorie in die Geschichte als endlose Endzeit und zum Subjekt als endlos verschwindendem. Geschichte und Subjekt sind der immerfort zusammenstürzenden Minimalraum und die immerfort durchgestrichene Minimaladresse ihrer Verkündigung und ihres Wunsches, sie, Geschichte und Subjekt, möchten doch nicht aufhören zu enden und zu verschwinden. Sollte die Lehre der unbefragbaren Positivität der technischen Medien ohne die unabschaffbare Hintergehbarkeit des Subjekts und das nicht endensollende Ende von Geschichte selbst hintergehbar sein?