Friedrich Kittler. Fiktion und Simulation. In: Ars Elecronica (Hrsg). Philosophien der neuen Technologie. Berlin 1988. S. 57-80.

Den "Output von Medien weiterhin mit Kunst verwechseln" können Medienkonsumenten, weil technische Geräte black boxes bleiben. Was unter ihren Deckelhauben aufläuft, "in den Schaltkreisen selber, ist keine Kunst, sondern ihr Ende in einer Datenverarbeitung, die von den Menschen Abschied nimmt."(58) Datenverarbeitung arbeitet auf der Basis nicht von Sprachen sondern von Algorithmen, geht also über Kultur hinaus und "zeitigt Effekte, die keine Rede - auch meine nicht - zureichend beschreiben kann".
Die Schrift - entstand "auf der Basis einer ersten 'Totalanalyse' von Sprache, wie das griechische Vokalalphabet sie gleichermaßen für Sprachlaute und Musiktöne geleistet hat".(58) Lautdifferenzen werden "anschreibbar, also speicherbar", und das gilt auch für Töne, weil damals "Buchstaben zugleich Notenwerte und (im Unterschied zu unseren) sogar Zahlen darstellten". Das ermöglichte, "Elemente der Sprache und Elemente der Musik [...] beliebig auf dem Papier zu manipulieren - allerdings um den entscheidenden Preis, eben diese Elemente, jeder weiteren Analyse zu entziehen. Wie eine Kehle klingt, barbarisch oder nicht [...] steht in keinem Buch oder Papier. Das Papier erlaubte nur Manipulationen am Code, auch und gerade in der Zeit."(59)
Damit aber Manipulationen an einem Code "auf die Seele von Lesern oder Hörern durchschlagen", muß "eine Fiktion in Kraft sein, die alle Ästhetik getragen hat: Daß die Buchstaben [...] Zeichen der Laute und die Laute Das aber "verdient den Titel Fiktion, wie umgekehrt das Maximum datenverarbeitender Manipulation (mit Baudrillard) den Titel Simulation verdient."
Was Fiktion ist, zeigt Goethes Gedicht Prometheus von 1774. "Menschen nach seinem Bilde" zu formen, heißt "schrittweise Beseitigung aller Störgrößen", "die der Lehm in seiner materiellen Zufälligkeitkeit dem Geschäft einer Menschenbildung entgegensetze".(60) "Goethes Prometheus (um mit Begriffen von Jacques Lacan zu reden) operierte im Grenzbereich zwischen Realem und Imaginären, sofern das Reale reines Rauschen ist und das Imaginäre über Prozesse der zumal optischen Gestalterkennung herrscht.(61) Und doch unterstand auch Prometheus wie jede Kunst in letzter Analyse einem Symbolischen, sofern das Symbolische in Lacans methodischer Dreiteilung mit einem sprachlichen Code zusammenfällt."(61) Nur schafft Prometheus im Gedicht keine Menschen, sondern das, was der sich mit ihm identifizierende Schöpfer-Dichter schafft: freie Verse, "die ihrerseits von Menschen und Menschenbildung nur reden".(62)
"Aber die Herrschaft über den Signifikanten (mit allen Korrekturmöglichkeiten, die Feder und Papier bereitstellen) hat keinen automatischen Effekt auf Signifikate oder gar Referenten, auf Menschen oder Lehm. Um Menschen statt nur Verse gebildet zu sehen, müßten jene Menschen, die Goethes Gedicht als seine Leser adressiert, erst noch in eine Falle gehen."(62) Nämlich in jene bekannte "der allgemeinen Alphabetisierung, wie die Goethezeit sie ja(84) gestartet hat". Die Leser mußten "Manipulationen im Symbolischen als sinnliche Daten halluzinieren. Bildung hieß, vom Alphabet so gebildet oder verformt zu sein wie der Lehm von Prometheus."(63) Diese Alphabetisierung aber "versperrte alle Möglichkeiten, Zeichenbedeutungen zu negieren, bis die Fiktion eine wirkliche, sichbare Welt nach den Worten entließ.(63)
Bei der Simulation hingegen, "desem mehr als ästhetischen Verfahren, ist die Negation immer schon eingebaut. Mit dem Begriffspaar Simulation und Dissimulation hat das Lateinische - nach der These von Johannes Lohmann -die in allen indoeuropäischen Sprachen verfügbaren Operationen der Affirmation und Negation drastisch erweitert. Während Affimieren nur bejaht, was ist, und negieren nur verneint, was nicht ist, heißt simulieren, was nicht ist, zu bejahen und dissimulieren, was ist, zu verneinen. Zum ersten Mal in der Sprachgeschichte hat ein Code es seinen Subjekten oder Untertanen freigestellt, die Negation zu manipulieren und diese Manipulation auf einen operativen Begriff zu bringen."(63/64) Nun mußte die Negation nur noch "von den Mündern und Papieren der Leute in die Elektronik-Gatter eine Booleschen Algebra" auswandern, "um auf den technischen Stand von heute zu kommen".(64)
Diese "Emigration" verfolgt Kittler einmal quer durch die Entwicklung mathematischer Symbolik vom "Einzug arabischer Ziffern im Mittelalter" über Leizniz, Babbages Analytical Engine von 1830 und die Boolesche Algebra von 1850 bis zu den Computern (64 ff). Seit der Booleschen Algebra können, "sehr anders als in Alltagssprachen, auch Sätze summiert oder multipliziert werden - einfach durch die Verknüpfungen ODER und UND. Daß dabei alle Verknüpfungen aus Negationen machbar sind, aber nicht umgekehrt, beweist den Vorrang der Negation."(65) So werde, wenn alles aus Negationen machbar ist, machbar, was nicht ist. "Unter Computerbedingungen wird es also machbar, maschinell zu affirmieren, was nicht ist: Siegeszug der Simulation. Das Symbolische hat aufgehört, wie im Goethe-Gedicht ein Gotteswort zu sein, das dann im Imaginären nicht besonders neue Menschen generiert. Es ist zu einer reinen Symtax aus Befehlen oder Algorithmen geworden, um Sachen zu generieren, die es schlechthin nicht gegeben hat."(65)
Folgt eine weitere Emigration: die des Mathematikers Benoit Mandelbrot "aus Warschau über Paris in IBM's Amerika" und dann in den Vax-Computer der Harvard-Universität. Das "öde Geschäft" der rekursiven Berechnung der Formel zn+1 = zn2+c, mit z und c als komplexen Zahlen (65), konnte nur noch maschinell erledigt werden, "der sogenannte Mensch selbst als Mathematiker" verschwand im Computer und das "Mandelbrot-Männchen [...] war geboren".(66) "Aber nicht, weil Mandelbrot irgendwelche Figuren nach irgendwelchen prometheischen Selbstbildern hätte schaffen wollen. Die Bildschirmdarstellung war nur ein Mittel, um algebraische Fragen zu beantworten."(67)
Natürlich hätte die Goethezeit Mandelbrotmännchen nur als Gestalten erkannt und "nach Ähnlichkeiten der Farben und Formen zu klassifizieren [versucht]. So ohnmächtig steht das Imaginäre der Gestalterkennung vor Algorithmen: es übersieht sie schlicht. Mandelbrot dagegen, der nichts auf der Welt fingieren wollte, weder Blätter, Steine noch Menschen, der die Computer von Harvard und IBM nur zu Rechenzwecken einschaltete, hatte eben damit ein Stück Natur simuliert. Etwas nie Gesehenes öffnete die Augen. Nachträglich kam zutage, daß die Selbstähnlichkeiten von Mandelbrotmengen auch in Wolken und Ufern, Eisblumen und Korallenriffen haust. Wenn simulieren besagt, zu bejahen, was nicht ist, und dissimulieren besagt, zu verneinen, was ist, dann hat die Computerdarstellung komplexer, zum Teil also imaginärer Zahlen eine sogenannte Wirklichkeit buchstäblich dissimuliert, nämlich auf Algorithmen gebracht. Seit Mandelbrots Fraktalen gibt es technogene Wolken und Uferlinieren. Das ist keine Kunst, aber auch von keiner Kunst zu erreichen.(67)
Sowas war den Speichermedien Film oder Grammophon noch nicht möglich und mithin war "zwischen Medien und Künsten [...] noch keine hinreichende Unterscheidung getroffen. Denn neben der Abtastung durch eine Sensorik, die Reales in seiner Zufallsstreuung nach mechanischen, chemischen oder anderen Größen erfaßt und elektrifiziert, steht bei Medien noch die Verarbeitung solcher übertragenen und zwischengespeicherten Daten."(68/69) Erst wenn diese Speichermedien und die technischen Übertragungsmedien wie Fernsehen oder Rundfunk "sämliche zu Untermengen des Computers als Universaler Diskreter Maschine geworden sind, dienen Archivierung und Transmission nur dazu, die Datenverarbeitung oder -manipulation zu maximieren."(69) Dann kann Datenverarbeitung "ihre Abtastwerte nach allen Spielregeln mathematischer Operationen noch einmal verwürfeln, bis eine Wirklichkeit tatsächlich nicht mehr vonnöten ist."(69)
Der Start solcher Simulationen startete bescheiden in den Analogmedien der Jahrhundertwende. Der ehemalige Zauberkünstler und "Konkurrent der Lumières", Georges Meliès, konnte 1896 filmisch durch den zufällig er- oder gefundenen "Stoptrick" eine Frau filmisch verschwinden lassen. "Die Simulation war durch Negation perfekt". Solche "Time Axis Manipulation oder Zeitachsenmanipulation, wie die Ingenieure sagen" lag dem Kino näher als den akustischen Medien. "Kino basierte von vornherein, seit den wissenschaftlichen Experimenten von Muybridge und Marey, auf diskreten, äquidistanten Abtastungen pro Sekunde, die zu Stoptricks und allen anderen Montagetechniken nachgerade einluden. [...] Diskrete Größen sind problemlos zwischenzuspeichern und damit schon der Zeitachsenmanipulation zugänglich."(70)...]
Edisons Phonographenwalze von 1877 und Berliners zehn jahre jüngere Grammophonschallplatte dagegen zeichneten die "stetigen Schwindungen von Schallwellen ebenso stetik und analog" auf. "Manipulationen des Realen" waren hier nur mit Filtern in Frequenzbereichen" möglich (70). Erst "das Tonband, diese AEG-Entwicklung des Zweiten Weltkrieges"(71), ermöglichte sie im Zeitbereich durch "Schnittmöglichkeiten nach dem Modell des Films". "Seitdem sind Augen und Ohren gleichermaßen täuschbar. Bild- und Soundmontagen unterlaufen ihre Wahrnehmungsschwellen und damit Kontrollmöglichkeiten." Kommt nun die "Berechnung beliebig abgetasteter Daten" hinzu, wird "auch das Unverhersehbare vorhersehbar" und "das Reale im Wortsinn Lacans zum manipulierbaren Code".
Das ermöglichte "das nachmalige Pentagon", indem es "zwei große Mathematiker, Norbert Wiener vom Massachusetts Institute of Technology und Claude Shannon von den Bell Telephone Laboratories mit der Entwicklung des ersten Waffensubjekts beauftragte".(71/2) Mithilfe von "Wieners Linear Prediction Code" (Erklärung 72 f.) konnte das "Subjekt" - ein Flakgeschütz - Abtastungen "im Realen" zwischenspeichern und mit zunehmend angenäherten Koeffizienten rekursiv berechnen, um bei genügender Rechengeschwindigkeit feindliche Fliegern mit "»order from noise« (um mit Heinz von Foerster zu reden)" abzuschießen. "Man weiß, vor allem dank Virilio, daß und wie solche Echtzeitsimulationen die Waffentechnik mittlerweile revolutioniert haben. Sie vollenden jenen Dreischritt militärischer Eskalation, der vom Symbolischen über das Imagniäre endlich zum Realen selber geführt hat [...]."(73)
Am Anfang stand "selbstredend" das Schachspiel, das "nur im Symbolischen opierieren konnte".(73) Den "Schritt zum Imaginären als einer Funktion von Gestalterkennung" bewirkte dann laut Kittler ein Sandkasten in Kombination mit Kleist und Carl Schmitt. Am Sandkasten probierten "Offiziere wie jener Karl Freiher von Müffling"(85) ihre Schlachten im voraus. "Müfflings Sandkasten als Miniatur einer nicht codierbaren Kontingenz bezeichnet sehr genau den Schritt von Künsten zu Analogmedien, von Fiktionen zur Simulationen. Im Zeitalter napoleonischer Kriege nahm der Befehlsfluß Abschied vom Schriftmedium, um mit der Erde selber zu rechnen und tellurische Krieger, also Partisanen im Wortsinn Carl Schmitts hervorzugringen. [...] Eine strategisch planbare Erde dagegen, wie sie in Clausewitz' Schrift Vom Kriege und folglich auch in Kleists Hermannsschlacht zum Grundbegriff wurde, entstand erst mit den Reproduktionstechniken des 19. Jahrhunderts, bis die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges sie dann pulverisiert haben."(73/74) "Unser Jahrhundert" aber pulversisiert "eben solche Kontingenzen", indem es sie digitalisiert. Die Digitalisierung "ist ein Kurzschluß, der unter Umgehung alles Imaginären das Reale in seiner Kontingenz erstmals symbolischen Prozeduren auftut. Der Schnitt, bei Film und Tonband eine ästhetisch geplante Korrekturmöglichkeit von Cuttern und Tonmeistern, entgleitet der trägen Menschenhand und kommt auf Geschwindigkeiten im Mikrosekundenbereich. Diese diskret gemachte Zeit des Schaltwerks erlaubt dann Manipulationen am Realen, wie sie unterm Regime hergebrachter Künste nur am Symbolischen möglich waren."(74)
Folgen Shannons Abtasttheorem und Informationsmaß und "digitale Verfahren wie Frequenzmultiplex oder Pulscodemodulation", die jeden einzelnen Sprachlaut "zur Zahlenkolonne" umwandeln, sowie nocheinmal der Linear Prediction Code von Wiener als "eins der klassischen Verfahren [...], nach denen Computer den Klang von Sprache oder Musik erstens analysieren und zweitens synthetisieren können"(76). Damit sind "Soundeffekte" möglich geworden, von denen die Musik träumt "seitdem und erst seitdem technische Medien ihr Konkurrenz machen". Schon Wagners Gesamtkunstwerk startet "von einem neuen Simulationbegriff her" einen "Angriff auf die Schrift, also auf Text und Partitur zugleich". (im Einzelnen 76 ff.) Schon bei Wagner also verläßt die Musik "das Symbolische von Noten oder Buchstaben, [...] um in die Kontingenz eines rosa Rauschens überzugehen. Sie wird, mit anderen Worten, analphabetisch. [...] Soundmodulationen also ersetzen und überbieten harmonische Modulationen, diese innere Grenze kompositorischer Fiktion. Wagner, mit anderen Worten, hätte digitale Sound Sampler gut gebrauche können."(78)
Für die aber "ist es seit Shannon und Winer kein Problem mehr, des Quelles sanft rieselnde Wellen zu simulieren. Signale, die wie die musikalischen nur Variablen der Zeit sind, erlauben schon den Mikroprozessoren von heute Echtzeitanalysen und Echtzeitsynthesen, also Simulationen." Dagegen ist optisches "zweidimensionales Signalprozessing" sehr viel rechenaufwendiger. Mandelbrotmännchen erscheinen erst bei "sechs bis sieben Millionen Quantisierungen" pro Rechensekunde. "Erst dann verschwindet der Mensch wie am Ufer des Meeres ein Gesicht im Sand.[...] Die Übertretung des Gebots, sich kein Bildnis zu machen, kostet Rechenzeit - nicht nur den Untertanen eines toten Gottes, sondern dem Realen selber."(79) So beschließt Kittler seine Berechnungen, indem er Foucault vorrechnet, was es kostet, den Menschen verschwinden zu lassen.