Den "Output von Medien weiterhin mit Kunst
verwechseln" können Medienkonsumenten, weil technische Geräte black
boxes bleiben. Was unter ihren Deckelhauben aufläuft, "in den
Schaltkreisen selber, ist keine Kunst, sondern ihr Ende in einer
Datenverarbeitung, die von den Menschen Abschied nimmt."(58)
Datenverarbeitung arbeitet auf der Basis nicht von Sprachen sondern
von Algorithmen, geht also über Kultur hinaus und "zeitigt Effekte,
die keine Rede - auch meine nicht - zureichend beschreiben
kann".
Die Schrift - entstand "auf der Basis einer ersten
'Totalanalyse' von Sprache, wie das griechische Vokalalphabet sie
gleichermaßen für Sprachlaute und Musiktöne geleistet hat".(58)
Lautdifferenzen werden "anschreibbar, also speicherbar", und das
gilt auch für Töne, weil damals "Buchstaben zugleich Notenwerte und
(im Unterschied zu unseren) sogar Zahlen darstellten". Das
ermöglichte, "Elemente der Sprache und Elemente der Musik [...]
beliebig auf dem Papier zu manipulieren - allerdings um den
entscheidenden Preis, eben diese Elemente, jeder weiteren Analyse
zu entziehen. Wie eine Kehle klingt, barbarisch oder nicht [...]
steht in keinem Buch oder Papier. Das Papier erlaubte nur
Manipulationen am Code, auch und gerade in der Zeit."(59)
Damit aber Manipulationen an einem Code "auf die
Seele von Lesern oder Hörern durchschlagen", muß "eine Fiktion in
Kraft sein, die alle Ästhetik getragen hat: Daß die Buchstaben
[...] Zeichen der Laute und die Laute Das aber "verdient den Titel
Fiktion, wie umgekehrt das Maximum datenverarbeitender Manipulation
(mit Baudrillard) den Titel Simulation verdient."
Was Fiktion ist, zeigt Goethes Gedicht
Prometheus von 1774. "Menschen nach seinem Bilde" zu formen,
heißt "schrittweise Beseitigung aller Störgrößen", "die der Lehm in
seiner materiellen Zufälligkeitkeit dem Geschäft einer
Menschenbildung entgegensetze".(60) "Goethes Prometheus (um mit
Begriffen von Jacques Lacan zu reden) operierte im Grenzbereich
zwischen Realem und Imaginären, sofern das Reale reines Rauschen
ist und das Imaginäre über Prozesse der zumal optischen
Gestalterkennung herrscht.(61) Und doch unterstand auch Prometheus
wie jede Kunst in letzter Analyse einem Symbolischen, sofern das
Symbolische in Lacans methodischer Dreiteilung mit einem
sprachlichen Code zusammenfällt."(61) Nur schafft Prometheus im
Gedicht keine Menschen, sondern das, was der sich mit ihm
identifizierende Schöpfer-Dichter schafft: freie Verse, "die
ihrerseits von Menschen und Menschenbildung nur reden".(62)
"Aber die Herrschaft über den Signifikanten (mit
allen Korrekturmöglichkeiten, die Feder und Papier bereitstellen)
hat keinen automatischen Effekt auf Signifikate oder gar
Referenten, auf Menschen oder Lehm. Um Menschen statt nur Verse
gebildet zu sehen, müßten jene Menschen, die Goethes Gedicht als
seine Leser adressiert, erst noch in eine Falle gehen."(62) Nämlich
in jene bekannte "der allgemeinen Alphabetisierung, wie die
Goethezeit sie ja(84) gestartet hat". Die
Leser mußten "Manipulationen im Symbolischen als sinnliche Daten
halluzinieren. Bildung hieß, vom Alphabet so gebildet oder verformt
zu sein wie der Lehm von Prometheus."(63) Diese Alphabetisierung
aber "versperrte alle Möglichkeiten, Zeichenbedeutungen zu
negieren, bis die Fiktion eine wirkliche, sichbare Welt nach den
Worten entließ.(63)
Bei der Simulation hingegen, "desem mehr als
ästhetischen Verfahren, ist die Negation immer schon eingebaut. Mit
dem Begriffspaar Simulation und Dissimulation hat das Lateinische -
nach der These von Johannes Lohmann -die in allen indoeuropäischen
Sprachen verfügbaren Operationen der Affirmation und Negation
drastisch erweitert. Während Affimieren nur bejaht, was ist, und
negieren nur verneint, was nicht ist, heißt simulieren, was nicht
ist, zu bejahen und dissimulieren, was ist, zu verneinen. Zum
ersten Mal in der Sprachgeschichte hat ein Code es seinen Subjekten
oder Untertanen freigestellt, die Negation zu manipulieren und
diese Manipulation auf einen operativen Begriff zu bringen."(63/64)
Nun mußte die Negation nur noch "von den Mündern und Papieren der
Leute in die Elektronik-Gatter eine Booleschen Algebra" auswandern,
"um auf den technischen Stand von heute zu kommen".(64)
Diese "Emigration" verfolgt Kittler einmal quer
durch die Entwicklung mathematischer Symbolik vom "Einzug
arabischer Ziffern im Mittelalter" über Leizniz, Babbages
Analytical Engine von 1830 und die Boolesche Algebra von 1850 bis
zu den Computern (64 ff). Seit der Booleschen Algebra können, "sehr
anders als in Alltagssprachen, auch Sätze summiert oder
multipliziert werden - einfach durch die Verknüpfungen ODER und
UND. Daß dabei alle Verknüpfungen aus Negationen machbar sind, aber
nicht umgekehrt, beweist den Vorrang der Negation."(65) So werde,
wenn alles aus Negationen machbar ist, machbar, was nicht ist.
"Unter Computerbedingungen wird es also machbar, maschinell zu
affirmieren, was nicht ist: Siegeszug der Simulation. Das
Symbolische hat aufgehört, wie im Goethe-Gedicht ein Gotteswort zu
sein, das dann im Imaginären nicht besonders neue Menschen
generiert. Es ist zu einer reinen Symtax aus Befehlen oder
Algorithmen geworden, um Sachen zu generieren, die es schlechthin
nicht gegeben hat."(65)
Folgt eine weitere Emigration: die des
Mathematikers Benoit Mandelbrot "aus Warschau über Paris in IBM's
Amerika" und dann in den Vax-Computer der Harvard-Universität. Das
"öde Geschäft" der rekursiven Berechnung der Formel zn+1 = zn2+c,
mit z und c als komplexen Zahlen (65), konnte nur noch maschinell
erledigt werden, "der sogenannte Mensch selbst als Mathematiker"
verschwand im Computer und das "Mandelbrot-Männchen [...] war
geboren".(66) "Aber nicht, weil Mandelbrot irgendwelche Figuren
nach irgendwelchen prometheischen Selbstbildern hätte schaffen
wollen. Die Bildschirmdarstellung war nur ein Mittel, um
algebraische Fragen zu beantworten."(67)
Natürlich hätte die Goethezeit Mandelbrotmännchen
nur als Gestalten erkannt und "nach Ähnlichkeiten der Farben und
Formen zu klassifizieren [versucht]. So ohnmächtig steht das
Imaginäre der Gestalterkennung vor Algorithmen: es übersieht sie
schlicht. Mandelbrot dagegen, der nichts auf der Welt fingieren
wollte, weder Blätter, Steine noch Menschen, der die Computer von
Harvard und IBM nur zu Rechenzwecken einschaltete, hatte eben damit
ein Stück Natur simuliert. Etwas nie Gesehenes öffnete die Augen.
Nachträglich kam zutage, daß die Selbstähnlichkeiten von
Mandelbrotmengen auch in Wolken und Ufern, Eisblumen und
Korallenriffen haust. Wenn simulieren besagt, zu bejahen, was nicht
ist, und dissimulieren besagt, zu verneinen, was ist, dann hat die
Computerdarstellung komplexer, zum Teil also imaginärer Zahlen eine
sogenannte Wirklichkeit buchstäblich dissimuliert, nämlich auf
Algorithmen gebracht. Seit Mandelbrots Fraktalen gibt es technogene
Wolken und Uferlinieren. Das ist keine Kunst, aber auch von keiner
Kunst zu erreichen.(67)
Sowas war den Speichermedien Film oder Grammophon
noch nicht möglich und mithin war "zwischen Medien und Künsten
[...] noch keine hinreichende Unterscheidung getroffen. Denn neben
der Abtastung durch eine Sensorik, die Reales in seiner
Zufallsstreuung nach mechanischen, chemischen oder anderen Größen
erfaßt und elektrifiziert, steht bei Medien noch die Verarbeitung
solcher übertragenen und zwischengespeicherten Daten."(68/69) Erst
wenn diese Speichermedien und die technischen Übertragungsmedien
wie Fernsehen oder Rundfunk "sämliche zu Untermengen des Computers
als Universaler Diskreter Maschine geworden sind, dienen
Archivierung und Transmission nur dazu, die Datenverarbeitung oder
-manipulation zu maximieren."(69) Dann kann Datenverarbeitung "ihre
Abtastwerte nach allen Spielregeln mathematischer Operationen noch
einmal verwürfeln, bis eine Wirklichkeit tatsächlich nicht mehr
vonnöten ist."(69)
Der Start solcher Simulationen startete bescheiden
in den Analogmedien der Jahrhundertwende. Der ehemalige
Zauberkünstler und "Konkurrent der Lumières", Georges Meliès,
konnte 1896 filmisch durch den zufällig er- oder gefundenen
"Stoptrick" eine Frau filmisch verschwinden lassen. "Die Simulation
war durch Negation perfekt". Solche "Time Axis Manipulation oder
Zeitachsenmanipulation, wie die Ingenieure sagen" lag dem Kino
näher als den akustischen Medien. "Kino basierte von vornherein,
seit den wissenschaftlichen Experimenten von Muybridge und Marey,
auf diskreten, äquidistanten Abtastungen pro Sekunde, die zu
Stoptricks und allen anderen Montagetechniken nachgerade einluden.
[...] Diskrete Größen sind problemlos zwischenzuspeichern und damit
schon der Zeitachsenmanipulation zugänglich."(70)...]
Edisons Phonographenwalze von 1877 und Berliners
zehn jahre jüngere Grammophonschallplatte dagegen zeichneten die
"stetigen Schwindungen von Schallwellen ebenso stetik und analog"
auf. "Manipulationen des Realen" waren hier nur mit Filtern in
Frequenzbereichen" möglich (70). Erst "das Tonband, diese
AEG-Entwicklung des Zweiten Weltkrieges"(71), ermöglichte sie im
Zeitbereich durch "Schnittmöglichkeiten nach dem Modell des Films".
"Seitdem sind Augen und Ohren gleichermaßen täuschbar. Bild- und
Soundmontagen unterlaufen ihre Wahrnehmungsschwellen und damit
Kontrollmöglichkeiten." Kommt nun die "Berechnung beliebig
abgetasteter Daten" hinzu, wird "auch das Unverhersehbare
vorhersehbar" und "das Reale im Wortsinn Lacans zum manipulierbaren
Code".
Das ermöglichte "das nachmalige Pentagon", indem
es "zwei große Mathematiker, Norbert Wiener vom Massachusetts
Institute of Technology und Claude Shannon von den Bell Telephone
Laboratories mit der Entwicklung des ersten Waffensubjekts
beauftragte".(71/2) Mithilfe von "Wieners Linear Prediction Code"
(Erklärung 72 f.) konnte das "Subjekt" - ein Flakgeschütz -
Abtastungen "im Realen" zwischenspeichern und mit zunehmend
angenäherten Koeffizienten rekursiv berechnen, um bei genügender
Rechengeschwindigkeit feindliche Fliegern mit "»order from noise«
(um mit Heinz von Foerster zu reden)" abzuschießen. "Man weiß, vor
allem dank Virilio, daß und wie solche Echtzeitsimulationen die
Waffentechnik mittlerweile revolutioniert haben. Sie vollenden
jenen Dreischritt militärischer Eskalation, der vom Symbolischen
über das Imagniäre endlich zum Realen selber geführt hat
[...]."(73)
Am Anfang stand "selbstredend" das Schachspiel,
das "nur im Symbolischen opierieren konnte".(73) Den "Schritt zum
Imaginären als einer Funktion von Gestalterkennung" bewirkte dann
laut Kittler ein Sandkasten in Kombination mit Kleist und Carl
Schmitt. Am Sandkasten probierten "Offiziere wie jener Karl Freiher
von Müffling"(85) ihre Schlachten im
voraus. "Müfflings Sandkasten als Miniatur einer nicht codierbaren
Kontingenz bezeichnet sehr genau den Schritt von Künsten zu
Analogmedien, von Fiktionen zur Simulationen. Im Zeitalter
napoleonischer Kriege nahm der Befehlsfluß Abschied vom
Schriftmedium, um mit der Erde selber zu rechnen und tellurische
Krieger, also Partisanen im Wortsinn Carl Schmitts hervorzugringen.
[...] Eine strategisch planbare Erde dagegen, wie sie in
Clausewitz' Schrift Vom Kriege und folglich auch in Kleists
Hermannsschlacht zum Grundbegriff wurde, entstand erst mit
den Reproduktionstechniken des 19. Jahrhunderts, bis die
Materialschlachten des Ersten Weltkrieges sie dann pulverisiert
haben."(73/74) "Unser Jahrhundert" aber pulversisiert "eben solche
Kontingenzen", indem es sie digitalisiert. Die Digitalisierung "ist
ein Kurzschluß, der unter Umgehung alles Imaginären das Reale in
seiner Kontingenz erstmals symbolischen Prozeduren auftut. Der
Schnitt, bei Film und Tonband eine ästhetisch geplante
Korrekturmöglichkeit von Cuttern und Tonmeistern, entgleitet der
trägen Menschenhand und kommt auf Geschwindigkeiten im
Mikrosekundenbereich. Diese diskret gemachte Zeit des Schaltwerks
erlaubt dann Manipulationen am Realen, wie sie unterm Regime
hergebrachter Künste nur am Symbolischen möglich waren."(74)
Folgen Shannons Abtasttheorem und Informationsmaß
und "digitale Verfahren wie Frequenzmultiplex oder
Pulscodemodulation", die jeden einzelnen Sprachlaut "zur
Zahlenkolonne" umwandeln, sowie nocheinmal der Linear Prediction
Code von Wiener als "eins der klassischen Verfahren [...], nach
denen Computer den Klang von Sprache oder Musik erstens analysieren
und zweitens synthetisieren können"(76). Damit sind "Soundeffekte"
möglich geworden, von denen die Musik träumt "seitdem und erst
seitdem technische Medien ihr Konkurrenz machen". Schon Wagners
Gesamtkunstwerk startet "von einem neuen Simulationbegriff her"
einen "Angriff auf die Schrift, also auf Text und Partitur
zugleich". (im Einzelnen 76 ff.) Schon bei Wagner also verläßt die
Musik "das Symbolische von Noten oder Buchstaben, [...] um in die
Kontingenz eines rosa Rauschens überzugehen. Sie wird, mit anderen
Worten, analphabetisch. [...] Soundmodulationen also ersetzen und
überbieten harmonische Modulationen, diese innere Grenze
kompositorischer Fiktion. Wagner, mit anderen Worten, hätte
digitale Sound Sampler gut gebrauche können."(78)
Für die aber "ist es seit Shannon und Winer kein
Problem mehr, des Quelles sanft rieselnde Wellen zu simulieren.
Signale, die wie die musikalischen nur Variablen der Zeit sind,
erlauben schon den Mikroprozessoren von heute Echtzeitanalysen und
Echtzeitsynthesen, also Simulationen." Dagegen ist optisches
"zweidimensionales Signalprozessing" sehr viel rechenaufwendiger.
Mandelbrotmännchen erscheinen erst bei "sechs bis sieben Millionen
Quantisierungen" pro Rechensekunde. "Erst dann verschwindet der
Mensch wie am Ufer des Meeres ein Gesicht im Sand.[...] Die
Übertretung des Gebots, sich kein Bildnis zu machen, kostet
Rechenzeit - nicht nur den Untertanen eines toten Gottes, sondern
dem Realen selber."(79) So beschließt Kittler seine Berechnungen,
indem er Foucault vorrechnet, was es kostet, den Menschen
verschwinden zu lassen.