Dem Vorspiel des Aufschreibesystems um 1800, der
Gelehrtentragödie Fausts, entspricht hier Nietzsche. Incipit
tragoedia.(183 ff). Beginnen tut hier aber mit "den Sommern von
Sils-Maria" das Ende des Diskursverbundes 'Deutsche Dichtung', die
"an der Kernfamilie ihre Produktionsinstanz, an den Gebildeten ihre
Multiplikatoren und an einer Wissenschaft, die den Titel Der
Wissenschaft beanspruchte, ihre Rechtfertigung gehabt"
hat.(183)
Wenn die eine Mutter von pluralen Frauen, der
fleischgewordene Alphabetismus von technischen Medien und die
Philosophie von psychophysischen oder -analytischen
Sprachzerlegungen abgelöst wird, zergeht auch die Dichtung. An ihre
Stelle tritt, deutsch oder nicht, eine Artistik in der ganzen
Spannweite dieses Nietzschewortes: vom Buchstabenzauber bis zum
Medienhistrionismus.
Es ist ein Fluch Zarathustras - und keine
"Weltkriegswinter" -, mit dem Nietzsche "das Aufschreibesystem von
1800 in seiner technisch-materiellen Basis [trifft] : als
allgemeine Alphabetisierung".(184) Nietzsches gnadenlose Analyse
des klassischen Bildungssystems trägt "mit Ausnahme der Funktion
Leserin [...] alle Regelschleifen des klassischen
Aufschreibesystems zusammen" und es erscheint als
eine einzige Maschinerie zu dem einzigen Zweck,
diskursive Effekte zu neutralisieren und auf den Trümmern der
Wörter »unsere absurde Erzieher-Welt« aufzubauen, »der der
'brauchbare Staatsdiener' als regulierendes Schema
vorschwebt«.(185)
Der "einsame Rufer Nietzsche" entdeckt "die
materiale Basis von literarischem Wirken überhaupt und seines
eigenen insbesondere"(186). Ein unbekanntes Fragment -
Euphorion (187 f) - zeigt den jungen Nietzsche wieder in
Fausts Studierstube. Aber keine Bibel steht zur Eindeutschung an,
keine Stimme zur Niederschrift.
Der einsame Schreiber ist Schreiber und sonst
nichts: kein Übersetzer, kein Abschreiber, kein Interpret. Kahl und
dürftig kehrt das Federkatzen eine nie beschriebene Funktion
heraus: Schreiben in seiner Materialität.(187)
So streift Nietzsche "einen Nullpunkt, von dem aus
Literatur um 1900 notwendig und möglich wird"(188) und diesen
"Nullpunkt von Literatur definiert ein unartikulierter Ton"(189).
Er ist "keine Rede erstanfänglicher Artikulation, sondern überhaupt
keine."
Kein Diskurs vermag etwas gegen ihn, weil alle
Diskurse ihm zurechnen und anheimfallen. Diesseits von Lauten und
Worten, diesseits aller Organismen taucht das weiße rauschen auf,
dieser unaufhörliche unauffhebbare Hintergrund von Information.
Denn Rauschen emittieren die Kanäle selber, die jede Nachricht
durchlaufen muß.
Diese Botschaft vom Rauschen der Kanäle, in dem
Kittler Mutter- und Mädchenstimmen, Poeten und Individualitäten,
Fausti, Heinrichs und Anselmi, Werke und Leserinnen thermodynamisch
verheizt, verkündet, daß "Schreiben, das weder im Geschriebenen
noch im Schreiber Rechtsgründe findet, [...] seine Botschaft einzig
am Medium [hat], das es ist."(191) Tritt zu Nietzsche Mallarmé, so
stehen "ein Professor, der keiner mehr ist, und ein
Erziehungsbeamter, der keiner mehr sein will [...] an der Schwelle
eines neuen Aufschreibesystems", in dem "die Verwechslung von
Worten und Ideen, wie sie eine ganze Klassik getragen hat" nicht
mehr läuft. Dann aber kann das Aufschreibesystem von 1900 "nach
alledem" nicht auf den "drei Funktionen Produktion, Distribution,
Konsumtion"(192) aufbauen. "So historisch variabel sind
Diskursivitäten, daß auch elementare und scheinbar universale
Konzepte in bestimmten Systemen ausfallen".
Es gibt um 1900 keine Diskursproduktionsinstanz,
die den unartikulierten Anfang von Artikulation macht. Es gibt nur
ein unmenschliches Rauschen als das Andere aller Zeichen und
Schriften. Es gibt keine Distribution, die Sprache als bloßen Kanal
benutzt und darum immer schon weitere Schreiber und Leserinnen
anwirbt. Wie jedes Medium ist der Diskurs ein irreduzibles Faktum,
das nicht in philsophischen Bedeutungen und psychologischen
Effekten aufgeht. Deshalb erlaubt er drittens auch keine
Konsumtion, die Reden wieder in den Ursprung
rückübersetzt.(192)
Das aber ist "ein ziemlich ungeschriebenes Kapitel
Literaturwissenschaft", das "in seiner technischen und
institutionellen Breite zu beschreiben sind [wird]".
Für die Sprachtheorie von Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne ist Sprache nicht mehr "Übersetzung
vorsprachlicher Bedeutungen, sondern ein Medium unter Medien".
"Medien aber gibt es nur als willkürliche Selektionen aus einem
Rauschen, das sie alle dementiert." Wenn es aber keine Natur der
Sprache gibt, - so übersetzt Kittler ein Zitat aus Wahrheit und
Lüge... - "tritt eine andere und physiologische Natur erst
hervor. Wie Nietzsches Ästhetik geht auch seine Sprachtheorie von
Nervenreizen aus. Optische und akustische Reizreaktionen, Bilder
und Laute erzeugen die Sprache in ihren zwei Seiten, als Signifikat
und Signifikant. Nur bleiben sie dabei voneinander genauso getrennt
wie von der puren Stochastik auf die sie reagieren."(193)
Den Bruch zwischen bildlichem Signifikat und
lautlichem Signifikanten kann kein kontinuierliches Übersetzen,
sondern nur die Metapher oder Transposition überspringen. Auf dem
Hintergrund eines allgegenwärtigen Rauschens gehen einzelne
Sinnesmedien in Differenz zueinander - als »ganz andre und neue
Sphären«. Statt Medien auf eine gemeinsame Wurzel vom Typ
poetischer Einbildungskraft zurückzuführen, trennt Nietzsce Optik
und Akustik wie »Schauwelt« und »Hörwelt«. Jedes der zwei Medien
wiederholt noch einmal ihrer aller Bezug auf einen Ursprung, der
als Zufallsgenerator keiner ist.(193)
Nietzsches Schauwelt "entsteht im Auge selber" als
"entoptische Vision"(194). Also beschreibt "Nietzsches
Apollinisches [...] das technische Medium Film", wie die Brüder
Lumière es am 28. Dezember 1895 öffentlich machen werden."
Apollinisches und Kino, beide basieren sie auf
angewandter Physiologie: den entoptischen Nachbildern bzw. der
gleichfalls von Nachbildern und Stroboskopeffekten bewirkten
Illusion, diskrete Bilder von zureichender hoher Frequenz seien ein
Kontinuum.(194)
In der Hörwelt ihrerseits triumphieren "Klänge und
Farben über Formen und Moralen". Sie ist "ihrem unmenschlichen
Hintergrund nahe, der auf den Götternamen Dionysos hört", und es
erklingt: "Sound". "Eine Musik, deren Sound noch vor der Wüste
recht behält, und ein Drama, das Film avant la lettre ist, sprengen
durch physiologische Effekte die Schranken europäischer Kunst. Sie
werden zu Medien."(194/95)
Aber Nietzsche ist kein "heroischer Vorläufer" von
Medien wie Wagner (195), sondern "Worte-macher", und denen bleibt
"nur der paradoxe Wunsch, das Medium allgemeiner Bildung in und
kraft seiner eigenen Struktur zu sprengen". So entwickelt er eine
"Signifikantenlogik", die seit ihm "Technik der Verknappung und
Vereinzelung" ist.
Nur ein Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen
kann ja das Maximum ihrer Energie freisetzen. An solche Kalküls
reichten hermeneutische Stellenwerttheorien einfach nicht heran.
Sie kannten nur organische Verhältnisse und zu ihrer Darstellung
ein kontinuierliches, also psychologisches oder historsches
Erzählen. Stellenwerte von Signifikanten dagegen sind mathematisch
anzugeben; ihre Artikulation heißt Zählen.(196)
Philologie im vorfaustischen Sinne von Bücherkram
zu betreiben heißt also zeugleich der "erste[n] und elementare[n]
Notwendigkeit" des "Medienzeitalters" zu folgen: Wörter zählen. So
bereitet Nietzsche "die Herrschaft des rätselhaften Buchstabens im
Aufschreibesystem von 1900 vor". Und da "Topologie und Ökonomie von
Signifikanten [...] eine Sache eher von Ingenieuren als
Renaissancephilologen" sind, können auch expressionistische Dichter
wie August Stramm zugleich Postinspektoren sein, nämlich
"Telegrammstil als Literatur" produzieren, und zugleich über
postalische Gebührenfragen des Weltpostvereins, also über
Diskursökonomie promovieren.(197) Für Nietsche aber dient solche
Diskursökonomie der "Selbststeigerung von Herrschaftgebilden, wie
sie unter Bedingungen standardisierte und massenproduzierter
Nachrichten ja auch immer nötiger wird".
Nur ein Minimax an Zeichenenergie entgeht dem Los
unabzählbarer Datenmengen, wie im inneren Bürgerkrieg Nietzsches
einander auszulöschen.(197)
Und das will Kittler mit Stramms Dissertation und
Nietzsches Philosophie sagen: Was einer schreibt um schreibend
weiteres Schreiben zu stimulieren, geht unter in dem, was daraus
folgt: "nichts als Rauschen". Dagegen ist "Zeichenökonomie" - oder
ihre informationstheoretische Offenbarung als Ökonomie von
Aufschreibesystemen - zur Durchsetzung von Büchern oder
"Herrschaftsgebilden" strategisch notwendig.
Hier wird eine Signifikantenmaschine
(system)notwendig, und so ist die Augenkrankheit Nietzsches ein
"physiologischer Glücksfall"(197). »Meine Augen allein machten ein
Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: Ich war vom
'Buch' erlöst, ich las jahrelang Nichts mehr«, schreibt er (zit.
197). Sein »unterstes Selbst«, das frei vom Zwang des »beständigen
Hören-Müssens auf andre Selbste« (zit 197) selbst zu reden anfängt,
ist für Kittler "physiologisch" und von keinem Wort erreichbar. Der
Glücksfall Krankheit [bewirkt] nur, was Signifikanten überhaupt
auszeichnet. Zeichen, um Zeichen zu sein, stehen notwendig vor
einem Hintergrund, den kein Speicher speichern kann. Es ist im Fall
von Lettern das leere weiße Papier und im andern Fall, der Schrift
nur spiegelverkehrt transponiert, der leere schwarze
Himmel.(198)
Oder knapper: "die Materialität von Signifikanten
ruht einem Chaos auf, das sie differenziell definiert." Und
zwischen Augenkrankheit und "Logik von Chaos und Intervallen" tritt
eine "Technologie, die das Aufschreibesystem von 1900 auch
implementiert": die Schreibmaschine. Denn Nietzsche schafft sich
eine, ein Modell "Malling Hansen" an.( Einzelheiten 199 ff). Auch
das ist "eine Zäsur in den Aufschreibesystemen".(199)
"Räumlich bezeichnete und diskrete Zeichen - das
ist über alle Temposteigerung hinaus die Innovation der
Schreibmaschine [...]. Den Signifikanten definieren eben
einzigartige Beziehungen zum Ort: Anders als alles Reale kann er
nach Lacan an seinem Ort sein und auch nicht sein."(200) Mit der
Schreibmaschine hört Schreiben auf,
"handschriftlich-kontinuierlicher Übergang von Natur zu Kultur zu
sein. Es wird Selektion aus einem Vorrat, der abzählbar und
verräumlicht ist."
Nicht umsonst wurden die ersten Schreibmaschinen
für Blinde (und einige auch von Blinden, 199 f) gebaut. "Während
Handschriften dem Auge, einem gewaltlosen Fernsinn unterstehen,
praktiziert sie ein blinde und taktile Gewalt." Vor Underwoods
»Sichtschriftmaschine« (1898) schrieben sämtliche Schreibmaschinen
unsichtbare Zeichen. Aber auch bei der Sichtschriftmaschine - so
das "Ingenieurswissen" eines Zeitgenossen (201 ff) - verdeckt der
Typenhebel beim Auftreffen auf dem Papier gerade die Stelle, die
beschrieben wird, und trennt damit "die Kopplung von Hand, Auge,
Letter just für den Moment auf, der in der Goethezeit bestimmend
war. So massiv fällt der Beweis aus, daß nicht jedes
Aufschreibesystem eine ursprüngliche Zeichenproduktion
kennt."(202)
Um 1900 laufen mehrere Blindheiten - des
Schreibers, des Schreibens, der Schrift - zur Garantie einer
elementaren Blindheit zusammen: des blinden Flecks Schreibakt.
Anstelle der Spiele zwischen zeichensetzendem Menschen und
Schreibfläche, Philosophengriffel und Naturtafel tritt das Spiel
zwischen der Type und ihrem Anderen, ganz abgelöst von Subjekten.
Sein Name ist Einschreibung.(202)
"»Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren
Gedanken«, heißt es in einem Maschinenbrief Nietzsches", und in der
Genealogie der Moral schreibt er, statt auf seiner Maschine
zu schreiben, über (Ein)Schreibmaschinen.
»Vielleicht ist nichts furchtbarer und
unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als sein
Mnemotechnik. 'Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt:
nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss'«.(zit
202)
Kittler folgert: "Der Signifikant, aufgrund seiner
einzigartigen Beziehung zum Ort, wird Einschreibung am Körper.
Verstehen und Auslegen scheitern an einer unbewußten Schrift, deren
Entzifferung die Beschrifteten nicht leisten, sondern sind. Denn
die mnemotechnische Einschreibung bleibt (ganz wie die maschinelle)
im entscheidenden Moment unsichtbar." So versammelt die
Genealogie der Moral "ein ganzes Arsenal von Martern,
Opfern, Verstümmelungen, Pfändern und Bräuchen, denen Leute, sehr
taktil, ihre Gedächtnisse verdanken".(202) Solche Schrift ist
das ganze Gegenteil des fleischgewordenen
Alphabetismus. Sie gehorcht keiner Stimme und verbeitet darum auch
den Sprung zu Signifikaten. Sie macht den Übergang von Natur zu
Kultur nicht als Kontinuum, sondern im Choc von Ereignissen. [...]
Der Signifikant, aufgrund seiner einzigartigen Beziehung zum Ort,
wird Einschreibung am Körper [...].(202)
Deshalb ist "Dionysos (wie ein paar Jahre später
Dracula) [...] ein Schreibmaschinenmythos"(203). In dem in der
Genealogie beschriebenen »Schauspiel zur Klage der
Ariadne« ist das "Ende aller Frauenklagen" zu finden, wenn
Ariadne in ihr kleines Ohr - phono- oder pornographisch? -"das
kluge Wort" des Dionysos/Nietzsche "hineinsteckt" und in einer "mit
dem Hammer" gedichteten "Folterszene" "anstelle von Elegie, Monolog
und Epiphanie sehr plötzlich und technisch ein Diktat
statt[findet]".(205, im Einzelnen 203 ff)
Das Ende aller Frauenklagen basiert auf dem
historischen Faktum, daß Schrift, statt weiter Übersetzung aus
einem Muttermund zu sein, zum irreduziblen Medium unter Medien, zur
Schreibmaschine geworden ist. Diese Desexualisierung erlaubt es,
Frauen zum Schreiben zuzulassen. Buchstäblich und übertragen gilt
vom Aufschreibsystem 1900 der Satze, daß »die Schreibmaschine dem
weiblichen Geschlecht den Einzug in die Schreibstuben geöffnet
hat«. Nietsches Ariadne ist kein Mythus.(205)
Folgen auf Die Frau und bloße Leserinnen neue
Frauen (205 ff): "Frauen um 1900 sind nicht mehr nur Die Frau, die
Männer reden macht, ohne selber zu schreiben, und auch nicht mehr
nur Konsumentinnen, die bestenfalls Lesefrüchte aufschreiben. Eine
neuerliche Klugheit erteilt ihnen das Wort, und sei's zum Diktat
von Herrndiskursen."(206)
Das ist aber eine der "diskursive[n]
Innovation[n]", die der Mann "immer als erster" nutzt. Sehr "genau
nimmt Nietzsche die "negative Lektion Schulpfortas, wo Schüler ja
alles kennenlernen durften außer Frauen". "Seine »Philosophie«,
eben darum in Anführungszeichen gesetzt, kehrt den universitären
Diskurs um. Aus der Ausschließung des anderen Geschlechts wird um
1900 eine Einschließung." Die Regeln am Ursprung aller Diskurse hat
ausgespielt. »Frauenzimmer«, wie Nietzsche sie nennt
sind weder Eine noch alle, sondern, wie
Signifikanten auch eine gezählte Vielheit, mit Leporello also
mill'e tre. Demgemäß wird ihre Beziehung zu Nietzsches
»Philosophie« durch Selektion geregelt(207),
und im "Geschlechterkrieg ist jedes Mittel recht,
um Frauen [...] aus einer offenen Menge zu selektieren." Daß "jener
Phallos, den Nietzsche zum dionysischen Folterwerkzeug verklärt",
dabei einiges durchmacht, beschäftigt Kittler 209 ff.
1. Das große Lalulâ. (211 ff).
Das Kapitel beginnt mit seiner Zusammenfassung:
"Im Aufschreibsystem 1900 sind Diskurse Outputs von
Zufallsgeneratoren. Die Konstruktion solcher Rauschquellen fällt
einer Psychophysik zu, ihre Speicherung den neuen technischen
Medien." (211) Die Psychophysik (211 ff) stellt Kittler mit der
Arbeit des Breslauer Psychologieprofessors Hermann Ebbinghaus
Über das Gedächtniss (1885) vor. Ebbinghaus' Selbstversuch
einer "Gedächtnisquantifizierung" und Nietzsches Beschreibung von
Mnemotechnik als körperliche Einbrenntechnik sieht Kittler als
"Paradigmenwechsel"(212)
Wenn Nietzsche noch das spirituellste Gedächtnis
auf Körper und deren Qual zurückführt, so geht die Psychophysik
dasselbe Rätsel mathematisch und nach Methoden an, die Helmholtz
und Fechner zur Messung der Sinneswahrnehmung entwickelt haben. Ein
Paradigmenwechsel hat statt: nicht mehr Erinnerung und Gedächtnis,
sondern Vergessen setzen Nietzsche und Ebbinghaus voraus, um auch
das Medium Seele vor den Hintergrund einer Leere oder Erosion zu
stellen. Erst ein Nullwert macht Gedächtnisleistungen
quantifizierbar. [...] Dort Nietsches delirantes Glück, noch sein
Vergessen zu vergessen, hier ein Psychologe, der alle Psychologie
vergißt, um ihre algebraische Formel zu schmieden. Es ist das
Verhältnis zwischen Diskurs des Herrn und universitärem Diskurs,
nietzscheanischem Befehl und technischer Ausführung.(212)
Ebbinghaus aber tut folgendes: er liest jahrelang
mit lauter Stimme im Takt eines Zeitgebers "Reihe um Reihe
sinnloser Silben durch, bis er sie zum erstenmal auswendig aufsagen
kann". So werden Gedächtnisleistungen meßbar. Dabei werden alle
kulturellen Gedächtnishilfen ausgeschaltet, d.h. "Sprache gerät in
einen artifiziellen Rohzustand" (213). "Zur Isolation des
Gedächtnisses von allen anderen Kulturtechniken scheiden
Signifikate, weil sie Hermeneutik provozieren würden, von
vornherein aus." Kittler nennt das "Institution von
Gedankenflucht".
So kommt die große Lehre ins Wanken, die dem
Aufschreibesystem von 1800 seine reformierten Fibeln beschert hat:
daß Signifikate kraft ihrer Seeleninwendigkeit unvergleichlich
schneller als auswendige Signifikanten zum Leser finden.(214)
Hier aber treten "Spezifizitäten des Merkens
zutage, die keine Hermeneutik nur ahnen kann" und am Horizonts des
Tests, "der Ebbinghaus nichts mehr angeht, wohl aber alsbald Freud
und die Schriftsteller, "steht also eine Differnzialität vor jeder
Bedeutung: die nackte und rohe Existenz von Signifikanten". Das
"Reich der Bedeutungen und d.h. das gesamte Aufschreibesystem von
1800 [sinkt] zum zweitrangigen Sonderfall ab"(214).
Das Testmaterial aber wird "auf strikt
statistische Gegebenheiten" gebracht, d.h. durch "exhaustive
Kombination" von Vokalen und Konsonanten erzeugt, um weiterhin
permutiert zu werden.(214) "Permutationen von Permutationen aber
schneiden jeden Naturbezug ab" und Medien im modernen Sinn
konstituieren sich hier als:
vom Zufallsgenerator ausgeworfene Materialmengen,
deren Selektion dann einzelne Komplexe bildet. Daß diese Mengen
immer schon diskrete Elemente verknüpfen, statt in kontinuierlicher
Genese aus einer unartikulierten Natur zu werwachsen, trennt sie
von Minimalsignifikaten.(215/16)(55)
Der vom Aufschreibsystem 1800 begrüßte Sinneffekt
wird hier zur Störung. Denken und Meinen - "genau die imgainären
Akte, deren Philosophie um 1800 zum Primat des Gesprochenen geführt
hat" - werden ausgeschaltet und "aus einem Sprachmaterial, das
Zufallsgesetze generieren, verschwindet mit den Gedanken auch die
Mündlichkeit".(216)
Gedächtnistests, bei denen die notwendig
gedankenlose Versuchsperson ihr Erkenntnissubjekt opfert, haben
demnach auf der anderen Seite einen ebenso subjektlosen
Versuchsleiter. [...] Die zwei zusammengeschalteten
Maschinengedächtnisse vor und hinter der tabula rasa Ebbinghaus
bilden eine Schreibmaschine, die nichts vergißt und mehr an Unsinn
speichert, als Leute je behalten könnten : 2299 Unsinnssilben.
Genau das ist aber die Bedingung, um Gedächtnis psychophysisch
erforschbar zu machen. Es wird den Leuten abgenommen und an ein
materielles Aufschreibesystem delegiert. Wenn das Aufschreibesystem
von 1800 das Spiel gespielt hat, keins zu sein, sondern
Inwendigkeit und Stimme Des Menschen, so kommt um 1900 ein Schrift
zur Macht, die nicht einfach in überkommenen Schriftsystemen
aufgeht, sondern aus der Technologie von Schrift überhaupt alle
Konsequenzen zieht.(216)
Nun kommt von Morgenstern "Das grosse Lalulâ"
(zitiert 217), um in radikalster Konsequenz aus dem
Aufschreibesystem Schrift dieses selbst aufzuschreiben, d.h. "um
ein für allemal zu demonstrieren, was Medien sind"(217). "Auch
Das große Lalulâ ist Material ohne Autor", und Literatur um
1900 "wirft [...] Signifikanten aus. Großes Lalulâ besagt,
daß Sprache am Anfang und Ende Blabla ist."(218)
Die Psychophysik macht Schluß damit,
"Kulturtechniken einer Dichotomie des Normalen und Pathologischen,
des Entwickelten und Zurückgebliebenen zu unterwerfen. Sie
erforscht Fähigkeiten, die unter Alltagsbedingungen überflüssig
oder krankhaft oder obsolet heißen müssen" und "alle um 1800
verpönten Fertigkeiten oder Unfertigkeiten kehren also wieder, aber
nicht als simple Rückfälle hinter die einstige Bildung, sondern zu
ihrer Analyse und d.h. Zersetzung".(220) So repräsentieren "die
kulturtechnischen Standards [...] nicht Den Menschen und seine
Norm".
Sie artikulieren oder zerlegen Körper, die schon
zerstückelt sind. Vor allen anderen Experimentatoren schlägt die
Natur zu. Apoplexien, Kopfschußwunden und Paralysen haben die
grundlegende Entdeckung ermöglicht, auf die jede Zuordnung von
Kulturtechniken und Physiologie zurückgeht.(220)
"Die Methode, Kulturtechniken gerade an Defiziten
isolierbart und meßbar zu machen, führt schließlich zur Zerfällung
des Diskurses in lauter einzelne Parameter.": sensorische und
motorische Aphasien und Alexien oder Agraphien, schriftliche oder
mündliche Asymbolien. "Was im Alltag einfach Sprache heißt, ist
also eine komplexe Verschaltung von Hirnzentren über nicht minder
zahlreiche, direkte oder indirekte Nervenbahnen."(221)
Physiologie und Literatur aber sind "bis in
Einzelheiten [...] solidarisch". Das wird an Gedichten von
Kandinsky und an von Hofmannstahls Ein Brief demonstrierbar
(222), denn "um 1900 rauscht es allenthalben" und die Psychophysik
"stößt hinter aller Sinnstiftung und ihrer durchsichtigen Willkür
auf den sinnlosen Körper, der eine Maschine unter Maschinen
ist"(225). So kommt bei Liliencron kein Autor, sondern "die
Eisenbahn selber [...] zu Wort" (226) und George zeigt, wo die
Psychophysik ihr eigentliches Material findet: in einem Inferno, wo
die Verdammten mit Unsinnsilben aus dem "Zufallsgenerator einer
Hölle" (226) oder »Schlag- und Stichworte[n]« (Nietzsche) gefoltert
werden. So handgreiflich geht es in diesem Inferno zu:
Zerhackung und Iteration führen Diskurse auf
diskrete Einheiten zurück, die als Zeichenvorrat oder Tastatur
unmittelbar Körper affizieren. Statt wie die Lautiermethode
Gesichtssprache in Gehörsprache zu übersetzen und Reden die schöne
Innerlichkeit von Musik einzuhauchen, tut Psychophysik ihnen die
Handgreiflichkeit Verräumlichung an. Lokalisierung lautet das
Stichwort aller Aphasieforschung, Buchstabieren der belauschte
Psychiaterbefehl.(227)
Darum ist es für Kittler "nur konsequent", daß
auch Lesen und Schreiben von der Psychophysik untersucht wird.
(Techniken und Apparate - Kymographen, Tachistokope, Horopteroskope
u. Chronographen - im Einzelnen 227 ff) Hier erscheint "eine von
allen anderen Diskurstechniken entkoppelte Schrift". Sie "beruht
nicht mehr im Individuum, das ihr durch Bindungsbögen und
expressiven Federdruck seine Kohärenz einflößen oder ablernen
konnte; sie haust in einem Apparat, der Individuen zu Testzweken
zerhackt. Was Tachistokope messen, sind Automatismen, keine
synthetischen Urteile. Eben darum kommt es zur Ehrenrettung des
verpönten Buchstabens."(228) So kommen Funktionen zutage, "die den
Individuen und Bewußtseinen so fremd sind wie am Ende Schrift
überhaupt"(229) und der Eine Mensch, aus der biologischen in die
"Zeit der Apparate" gesetzt, zerfällt "in Illusionen einerseits,
die ihm bewußte Fähigkeiten und Fazilitäten vorgaukeln, und
andererseits in [...] unbewußte Automatismen". Diese maschinelle
Einschreibhölle nennt Kittler - was für eine Theologie?
-"Diesseits".
Diesseits der Illusionen Mensch und Welt bleibt an
Realem einzig eine Kontaktfläche oder Haut, wo etwas auf etwas
schreibt.(230)
Rezeptionsästhetische Effekte solcher
Einschreibungen plant "eine Literatur, die, statt von »unsinnlichen
Freuden zu stammeln«, »Nerven« in bestimmte »Stimmungen zwingen
will«." Hermann Bahr und Arno Holz zitierend beweist Kittler, wie
anders "um 1900 Rezeptionsästhetik geworden [ist]: An Stelle von
Kommunikation, deren Mythos zwei Seelen oder Bewußtseine
voraussetzt, treten Zahlenverhältnisse zwischen Schriftmaterialität
und Sinnesphysiologie." Zahlen aber, daran hat Kittler schon vorher
mit Lacan erinnert "sind die einzige Information, die über alle
Köpfe hinweg, die irren und die professoralen, in Geltung bleibt,
als Einschreibung ins Reale".(211)
Es folgt der Bericht von dem "höchsten Triumph",
den "die Bewegungen der Materie auf dem Feld des Schreibens"
feiern.(231) Am Harvard Laboratorium des deutschen Psychologen und
Psychotechnik-Erfinders Münsterberg entsteht "profane écriture
automatique" aus Forschungsarbeiten von Leon Solomons und Gertrude
Stein.(232 ff) Die Versuchsanordnung pervertierte die Schreibszene
des Anselmus "durch täuschende Nähe".(56) Aber alle Positionen
der Geschlechter sind "gegenüber dem Aufschreibsystem von 1800"
vertauscht. Im Résumée:
An den Ort des imaginären Muttermundes, der
Männern Innerlichkeit einhauchte, tritt ein Mann, sehr faktisch
diktieren, an den komplementären Ort des unbewußten Autors eine von
vielen Frauen, die studiert genug sind, um Diktat aufzunehmen -
Ariadne, Frau Röder-Wiederhold, Resa von Schirnhofer, Gertrude
Stein und wie sie alle heißen. Daß einige von ihnen zu
Schriftstellerinnen werden liegt schon in der Logik des
Experiments.(233)
Diese Logik besteht aber darin, Hysterie
experimentell zu simulieren, um sie "zum ganz normalen motorischen
Automatismus" aufzurücken zu lassen. Es ist "der höchste Triumph
von Psychotechnik, aus der écriture automatique eine spontane zu
machen" und das heißt, "der Stein" in der "methodischen Isolation
ihre Labors" alle "klassischen Bestimmungen des Weibes
abgeschnitten" und sie somit desexualisiert zu haben.(234) Dieser
Schnitt macht aus "Der Frau" "die Stein" - "und wie sie alle
heißen": Sekretärin Des Diskurses, der sich durch sie selbst
aufschreibt, also Medium, das seine Botschaft ist, oder das Fatum,
das spricht, wenn Es spricht, oder G.Stein als "Herrin des Orakels"
und "Kassandra".
Der Diskurs wird unentrinnbar im Maß seiner Leere.
Nicht von Gedanken und Innerlichkeiten, von Meinen und Verstehen
ist die Rede des Spontanschreibens, sie ist es es einzig von Reden
und Zungenfertigkeiten. [...] So folgenreich tritt Psychophysik an
die Stelle okkulter Medien (lies: Frauen).
"Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" schrieb
"Kassandra" und Kittler schreibt "Ein Medium ist ein Medium ist ein
Medien".
Das Wort sagt es schon: zwischen Okkulten und
technischen Medien besteht kein Unterscheid. Ihre Wahrheit ist die
Fatalität, ihr Feld das Unbewußte. Und weil Unbewußtes den Glauben,
der eine Illusion ist, nie findet, bleibt nur, es zu
speichern.(235)
"Technische Medien" heißt also das Kapitel. Die
"Zufallsgeneratoren" der psychophysischen Experimente werfen
"Diskurse ohne Sinn noch Gedanken" aus, für den "übliche[n]
Sprachverwendungszweck - sogenannte Kommunikation mit anderen"
unverwendbar. Was sie produzieren, kann nur schnellstens an
verstehenden Augen und Ohren vorbei in Datenspeicher überführt
werden."
Also muß die Psychophysik, um überhaupt etwas zu
behalten, mit den neuen Medien verschaltet werden, die um 1900 alle
Optik und Akustik revolutioniert haben. Es sind, wie man weiß,
Edisons zwei große Entwicklungen Film und Grammophon.(235)
Lumières Kinematograph ist diktiert "von der
technisch-industriellen Notwendigkeit, das träge Menschenauge im
Einzelbilderfassungstempo zu überbieten. Seiner Entwicklung standen
Muybridges Reihenphotographien, Mareys/Demenys photographische
Flinte und Ernemanns Zeitlupe Pate. Aber auch das Grammophon wäre
"vor der mathematischen Schwingungsanalyse eines Fourier und der
physiologischen Akustik eines Helmholtz [...] unerfindlich
gewesen."(235)
Die technische Simulation optischer und
akustischer Abläufe setzt jeweils Analysen voraus, die nur in der
Zeit der Apparate möglich werden.(235)
So verschiebt um 1900 "die technische
Aufzeichenbarkeit von Sinnesdaten [...] das gesamte
Aufschreibsystem".
Zum wahrhaft ersten Mal hört Schreiben auf, mit
serieller Datenspeicherung synonym zu sein. Zur symbolischen
Fixierung von Symbolischem tritt die technische Aufzeichnung von
Realem in Konkurrenz.(235)
Hier ist Villiers de l'Isle-Adam mit seiner Eve
future zur Hand um "Lessings Laokoon auf den Stand von
1886 zu bringen.(57)
Dem Buchglauben blieb es im Namen seines Herrn
untersagt, an Wort und Schrift die Äußerlichkeit und Sinnlichkeit
zu feiern. Das ihm eingeräumte Medium Buchdruck machte es möglich,
Zeichen auf Sinn, dieses »Jenseits« der Sinne hin zu überspringen.
Erst unterm Gegenbefehl »Hört die heiligen Schwingungen!« verliert
die symbolische Fixierung von Symbolischen ihr Monopol.
Schwingungen, auch in Gottes Stimme, sind Frequenzen weit unter der
Wahrnehmungs- und Notationsschwelle von Einzelbewegungen. Weder
Bibel noch Fibel können sie aufschreiben.(236)
Und an Salomon Friedländers Goethe spricht in
den Phonographen wird erwiesen, daß "Ton und Gehalt einer
Stimme, die Leserinnen im Imaginären schon lange beglückt hat", es
nun auch "im Realen" tun soll.(237)
Die neuen Medien aber setzen "nicht anders als
psychophysische Experimente [...] an der Stelle physiologischer
Defizite an". "Edinson ist fast taub, während unter den
Schreibmaschinenerbauern die Blinden dominieren". Das Kinderlied,
das Edinson am 6. Dezember 1877 einer Stanniolwalze aufprägt ist
für Kittler Anlaß, festzustellen: "Erst wenn Diskursen die
Handgreiflichkeit angetan werden kann, ihr Reales zu speichern,
gibt es eine Kindersprache". Der Phonograph Edinsons "fixiert reale
Laute, statt sie wie das Alphabet in Phonem-Äquivalente zu
übersetzen."(238) Der Phonograph zieht nicht nur in die Labors ein,
sondern auch in die Schulen.(58)(239) Dort
rehabilitieren Medien "Dialekte überhaupt", denn "entweder gibt es
Charaktere, Individuen und die eine Norm [ i.e. Hochsprache] oder
aber Grammophonie erhebt alle unsteten, launischen Wendungen der
Münder zu Standards".(241) Und man kann es nicht genug wiederholen:
"Daß auf einmal rein empirische Phonetik (in sauberer Trennung von
Phonologie) möglich wird, lädt eher dazu ein, Reales nach
technischen Standards zu speichern als nach Bildungsmaßstäben zu
normieren."(239) So wird die Buchsprache zu einem "überhaupt nicht
gesprochenen Sonderfall", der "faktisches Reden nur
verhindert".
An einem phonographisch gespeicherten Gedicht
Ernst Wildenbruchs (zit 241) zeigt sich so eine "Unentrinnbarkeit
[...], die mit poetischen Freiheiten aufräumt. Wildenbruch muß in
einen schwarzen Schalltrichter sprechen, der statt seiner Wörter
und Vorstellungen pure Klänge speichert."(242)
Damit hört die Stimme zwar nicht auf, im Hauch zu
entstehen; sie behält ihre für klassisch-romatische Lyrik
grundlegende Vibration; aber - und das ist ein Faktum zu empirisch
oder trivial für Foucaults großangelegte Diskurshistorie - die
Stimme kann nicht mehr reiner poetischer Hauch heißen, der ohne
Spur und im Hören schon aufhört. Entrinnendes wird unentrinnbar,
Körperloses material.(242)
"Leute" können dort spurensichernd erfaßt werden,
wo sie es für undenkbar halten, da der Phonograph Verborgenes zu
reden zwingt und Sprechern eine Falle stellt.
Sie sind identifiziert, nicht im Symbolischen, wie
durch den Namen, nicht im Imaginären wie durch romantische
Held-Leser-Wiedererkennungen, sondern im Realen. Und das ist kein
Kinderspiel.(242)
Was aufgezeichnet wird, ist der sprechende Körper.
Sein "sound ist ein Komplex physiologischer Daten, die unmöglich zu
verschriften und unmöglich zu fälschen sind".
Im Aufschreibesystem von 1900 tun Psychophysik und
Medien alles, um das imaginäre Körperbild, das Individuen von ihnen
selber haben, auf eine untrügliche Positivität hin zu
unterlaufen.(242)
Vor einer Maschine vergehen "den Leuten" die
Listen, sich unkenntlich zu machen genauso wie das Lachen. Und
diese Maschine bewirkt nicht nur den "Tod des Autors" (243), indem
sie "statt ewiger Gedanken und Wortprägungen eine sterbliche
Stimme" speichert, sondern allgemeiner den "Tod des Menschen", der
mit "Spurensicherung der Körper" eins ist. "Edinsons Stanniolwalzen
oder Galtons Fingerabdruckarchive sind planvoll ausgelegte
Aufschreibeflächen für Daten, die ohne Maschinen weder zu speichern
noch auszuwerten wären". So ist, was der Phonograph des Psychiaters
Stransky in einer bestimmten Versuchsanordnung (244 ff) speichert,
"blanker Hohn auf alle politischen und pädagogischen Normen, die
anders denn in normierter Sprache keinen Tag Bestand hätten"(245).
"Kraut und Rüben", der gespeicherte Wortsalat eines Katatonikers,
haben somit die Wirkung, "schlechthin effektiv die Mächte, auf
denen Bildung seit 1800 beruht" zu zersetzen, und das heißt, daß,
"was technische Medien speichern, [...] ihre eigene Opposition
gegenüber Staat und Schule" ist.
Leute, die schneller reden sollen, als Denken und
d.h. Kontrolle läuft, sagen mit Notwendigkeit der Disziplinarmacht
einen Kleinkrieg an. Wer nicht nur vergißt, sondern gut
nietzscheanisch auch noch sein Vergessen vergißt, liefert wie
Kafkas Betrunkener immer schon die Beschreibung eines
Kampfes.(59)(246)
Der Arzt Gottfried Benn beweist nun mit dem Drama
Der Vermessungsdirigent, daß eine Transposition des von den
Apparaten bewirkten Effekts Gedankenflucht in Literatur zwingend
ist. Hier wird vom Sprechen statt vom Handeln gehandelt, und
Identität - "dieser erkenntnistheoretische Felsen" - mit bloßer
Gleichheit verwechselt(60). Das zeigt, wie "ohne
extrakiskursiven Kontext [...] Selbigkeit zum Simulakrum" zergeht
und nur noch leere Reden ohne Adresse und Referenz zirkulieren,
"bestimmt und gesteuert nur vom Imperativ, Assoziationen überhaupt
zu sein".(247) "Das Drama, vormals die Gattung freier Subjekte,
wird pathologisch resp. experimentell", "und das alles, weil freie
Subjekte nur in Philosophielehrbüchern, Versuchspersonen dagegen im
Feld der Psychophysik vorkommen".(248)
Auch das gedankenflüchtige Assoziieren des ersten
Novellenhelden Benns, des Dr. med Werff Rönne, ist "lediglich eine
weitere Transposition psychophysischer Techniken in Literatur".
Dessen Reden wären eher den psychophysisch untersuchten Schülern
des Psychiaters Ziehen(61) vertraut als einer
Interpretation zugänglich. Sie sind "verbale Vermittlung als
Neurose, ohne Grund in einem transzendentalen oder schöpferischen
Dichterich; mediale Selektion ohne Referenz auf Reales, diesen
unfaßlichen Hintergrund aller Medien."(249) Gedankenflüchtige
Assoziationen sind "Sache einer unmöglichen Exhaustion" und Rönne
"assoziiert [...] noch die materiale Basis seiner Assoziationen,
das Hirn selber herbei".
So hört Sprache auf, Bastion der Innerlichkeit zu
sein; dieselbe Geste, die das Umstülpen des eigenen Hirns
simuliert, verkehrt auch Sprache in Zufall und Äußerlichkeit. [...]
Das Wort, das Menschen als solche erreichte, hat ja auf einer
psychischen Ansprechschwelle operiert, die zugleich Diskurs der
Natur und Natur des Diskurses hieß. Mit beiden räumt die
Psychophysik auf.(250)
Konsequent geht es mit Rönne und blitzhaft
erhellendem Zitat ins Kino. Die Novelle mache deutlich, daß hier
"Bewegung" gespeichert werden kann "im technisch Realen und nicht
mehr nur im Imaginären". Rönnes Ansprechschwelle vor einem
Stummfilm fungiert "physiologisch statt psychisch" und der Arzt
verfällt einer Asymbolie, die "vor aller Psychiatrie [und mit
Guattari, KM] die Struktur von Kino" ist. Das heißt: zwei
literarische Filmbeschreibungen - die zweite ist von Sartre (Les
Mots) - feiern "das Ende des Buchmonopols"(251).
Das aber ist dann die Funktion des Mediums Film im
neuen Aufschreibesystem:
Was Dichtung im Zeitalter der Alphabetisierung
versprochen und durch Bibliotheksphantastik auch gewährt hat, der
Film transponiert es ins technologisch Reale. [...] Habend sua fata
libelli. Es hat Zeiten gegeben, da das Absolute als Bildergalerie
des Geistes und d.h. poetisch-philosophischer Schriften bei den
Leuten war. Es gibt andere Zeiten, in denen es die Papierstöße
verläßt. Kohärenz, Identifikation, Allgemeinheit - alle Ehrentitel,
die die allgemeine Alphabetisierung dem Buch eingebracht hat,
fallen an Medien bei den Leuten. Denn wie um 1800 die neue und von
Gelehrten verschmähte Bibiliotheksphantastik zur Lust von Frauen,
Kindern, Ungebildeten geworden ist, so ein Jahrhundert später die
von den Bibliotheksphantasten verschmähte Apparatur.(251)
Ingenieure attakieren das Monopol, "das die
allgemeine Alphabetisierung, aber auch erst sie dem Buch zugespielt
hat: das Monopol auf Speicherung serieller Daten."(252)
Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung
ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch
Techniken. Das Grammophon entleert die Wörter, indem es ihr
Imaginäres (Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) hin
unterläuft. [...] Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre
Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden
Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt.(252)
Dann aber sind im Hinblick auf "Lacans methodische
Unterscheidung symbolisch/real/imaginär [...] zwei von drei
Funktionen, die Informationssysteme ausmachen, vom Medium Schrift
ablösbar geworden".
Was am Sprechen das Reale ist, fällt dem
Grammophon zu; was das im Sprechen oder Schreiben produzierte
Imaginäre ist, dem Spielfilm. [...] Während also die Plattenrillen
Körper und ihre scheußlichen Abfälle speichern, übernehmen die
Spielfilme all das Phantastische oder Imaginäre, das ein
Jahrhundert lang Dichtung geheißen hat.(252)
Und "kein geringerer als Münsterberg, der Erfinder
von Wort und Sache Psychotechnik, liefert 1916 die historisch erste
Spielfilmtheorie oder den Nachweis, daß Kinotechniken wie
Projektion und Schnitt, Rückblende und Großaufnahme psychische
Prozesse wie Halluzination und Assoziation, Erinnerung und
Aufmerksamkeit jeweils technisch implementieren, statt diese
Prozesse lediglich mit Wörtern (also Theaterstücken oder Romanen)
beschreibend anzuregen.(252)
Bleibt das Symbolische. Wenn in dem Schwenk von
"Beamtentum zu Technik, von Schrift zu Medien" eine
Unterhaltungsliteratur entsteht, die schon auf ihre
Medientransposition oder Verfilmung hin geschrieben wurde (254 f),
muß ab 1900 "eine E-Literatur" aufkommen, die sich im technisch
noch nicht okkupierten Symbolischen einnistet und so "ihre
Unverfilmbarkeit" verficht.
Wörter als buchstäbliche Antiphysis, Literatur als
Wortkunstwerk, das Verhältnis zwischen beiden als
Materialgerechtigkeit - so die Konstellation im keuschesten l'art
pour l'art wie in den provokantesten Spielen der Avangarde. [...]
Dichtung durfte [um 1800] als Universalmedium Einbildungskraft
schalten. Genau dieser Sonderstatus vergeht um 1900 einer
durchgängigen Materialgerechtigkeit zuliebe. Literatur wird
Wortkunst von Worte-Machen. Wie um Lacans Liebeslehre zu beweisen,
ist Schwitters in seine Anna ja nur verliebt, weil ihr »Name von
hinten wie von vorne : 'a-n-n-a'« lautet.(255)
Ähnliches formuliert "bündig" auch Hofmannsthal
(zit 255) und Mallarmé wie Kafka (256) beweisen, daß Literatur
"genau die Marge besetzt [...], die andere Medien ihr
lassen":
zurückbleibt ein Symbolisches, autonom und
bilderlos wie vorzeiten nur der Gott.(256)(62)
Die psychophysischen Experimente zur 'character
recognition' ihrerseits untersuchen "nur noch
Buchstabenmaterialität"(258) und eine der Schreibmaschine
angeglichene Hirnmechanik mit kortikalen Lauttasten. Diese Versuche
mittels Tachistokop fungieren als "Zwilling des Filmprojektors
exakt spiegelverkehrt". Bei den Zuschauern im Kino,
im Unbewußten des Parterres, ein Kontinuum des
Imaginären, generiert durch Einzelbildfolgen, die Flügelscheibe und
Malteserkreuz aber so ausgeklügelt zerhacken, daß gerade die
entgegengesetzte Illusion aufkommen kann.(259)
Im "abgedunkelten Labor der alphabetischen Elite"
der Psychophysiker andererseits "eine Bilderzerhakung, die als
Zerhackung attackiert, um ein für allemal aus den Qualen und
Fehllesungen ihrer Opfer zu eruieren, welche Letternformen und
Schriftarten physiologisch optimal sind (259)."
Das Tachistoskop aber weist nach, "daß
elementarstes Lesen nicht Buchstaben, sondern nur die Unterschiede
zwischen ihnen wahrnimmt und Worterkennung an diskontinuierlich
einzelnen, buchstäblich herausragenden Lettern einhakt". Und das
führt zu der Folgerung, daß hier "Saussures Lehre vom
kombinatorischen System Sprache [...] geboren" wird.(259
u.ff)
Aber wie erst Derrida wieder entdeckt hat, sind
die bescheidenen Buchstabenforscher oder Grammatologen konsequenter
als der linguistische Gründerheros. Ihr Tachistoskop lokalisiert
die reine Differenzialität nicht in »Tönen« und .h. ungreifbaren
Wortklangbildern, sondern in materialen Zeichen vom Letterntyp.
(260)
So entwickelt sich ein "Wissen von
Differenzialitäten" an Buchstaben, das dann bei der Analyse von
Antiqualettern zwangsweise zu "jene[r] Opposition [führt], die in
Theorie und Praxis das laufende Jahrhundert bestimmt: die
Binäropposition." (im Einzelnen 261 f) Wenn aber die Analyse von
Antiqualettern zuletzt auf "elementaren Binarismus stößt", dann
bedeutet Blockschrift schreiben umgekehrt nicht mehr, "Zeichen mit
anderen Zeichen verbinden, sondern diskrete Elemente bastelnd
kombinieren".
Im Zeitalter der Ingenieure ersetzt ein
Ankerbaukasten das Wachstum von Pflanzen und
Urschriften.(262)
Doch der "Choc der Binäropposition", der um 1800
durch Verbindungslinien oder Milderungen des
Schwarz/Weiß-Kontrastes gedämpft wurde, führt noch weiter:
Getrennte Buchstaben aus ihrerseits getrennten
Elementen beruhen in strikter Umkehr klassischer
Schreibvorschriften auf jener Opposition, der auch Saussures
abgründigster Gedanke gild: der Opposition zwischen Zeichen und
Leere, Medium und Hintergrund.(262)
Die Literaturwissenschaft hingegen braucht "eben
das Aufgebot seiner ganzen Schaukraft, um an Texten ihre übersehene
Sichtbarkeit zu sehen".(263) Und so wird übersehen, "daß Lesbarkeit
von Zeichen eine Funktion ihrer Verräumlichung ist".(263) Umgekehrt
verschwinden
wenn der Mangel mangelt und die Leerstellen
leerbleiben, [...] Medien [...] im Chaos, dessen Selektion sie
sind.(263)
Wie nun aber Schriftsteller eigene Alphabete
erfinden, "um ihre Texte dem hermeneutischen Verzehr zu
entrücken"(265) und Esoterik physiologisch zu verbürgen(267), legt
Kittler an der "St-G-Schrift" Stefan Georges zum genüßlichen
Nachlesen(63) dar, nicht ohne ihre
Konkurrenz zu Schrifttechniken zu übersehen, die durch Rundschrift
jeder individualisierenden Schrifterkennung zu entgehen
suchen.
Gleichzeitig mit dem Aufkommen graphologischer
Spurensicherung zerfallen Alphabetisierte in zwei Klassen: da die
Leute, deren Handschrift unmittelbar Effekt ihres Unbewußten und
somit psychologisch oder kriminalistisch auszuwerten ist; dort die
professionellen Schriftsteller als Schreibmaschinen ohne
Handschrift. [...] Professionell intransitivies Schreiben in
Blockbuchstaben sperrt mit den unbewußten Abgründen auch moderne
Spurensicherungstechniken aus.(269)(64)
Versichert kann man aber zum Schluß des Kapitels
sein, daß sich solche Faktizität von Signifikantenlogik im
"Elementarfeld Schreiben" nur dem offenbart, der schon immer
"scheinbare Konventionen als Regelkreise und Programme
auseinandergenommen"(267) haben wird.
2. Rebus (271 ff).
"Rebus" soll anzeigen, daß es im neuen
Aufschreibesystem keine "Übersetzbarkeit aller Diskurse in
poetische Signifikate" mehr gibt, sondern Unübersetzbarkeit und
Medientransposition (271ff) bestimmend sind. Was eine Transposition
ist, wird mengen- und informationstheoretisch erläutert(271
f)(65), denn "Medienlogik -
in Mengenlehren oder Informationstheorien eine Binsenwahrheit", ist
"für Dichter [...] die Überraschung des Jahrhunderts". Im Jahr 1919
- das Jahr der Erstveröffentlichung von Stefan Georges Gedicht
DAS WORT - bricht ein "Tauschhandel" zusammen, den die
Einbildungskraft als "Äquivalent aller Sinne" ermöglichte.(66) Mit
der Sprache wird nicht mehr verfahren "als wäre sie bloßer Kanal",
sondern "Sprache selber, unters Abtasttheorem gestellt, ist eine
endliche Menge".(272) "Eine Ökonomie der Zeichenknappheit löst um
1900 den allgemeinen Tausch ab." Dichtersprache wird zur
"Berufssprache" mit begrenztem, erschöpfbaren oder "exhaurierbarem"
Vokabular, Poesie zum "Exhaurieren" einer Signifikantenmenge, den
Kittler Tresor oder mit George "Nornenborn" nennt. Und das heißt:
"um 1900 [...] steht die künstliche Hervorbringung ganzer
künstlicher Sprachen auf dem Plan". Das wird an George demonstriert
(274 ff) und zwingt die Interpretation zur "Umstellung ihrer
Techniken."
Der klassische Weg zu Ursprüngen in Seele und
Kindheit des Autors scheidet aus; einer »littérature à rebus«
gegenüber tritt [...] eine objektive Interpretation, deren Vorbild
einzig kryptographische Decodierungstechniken sind.(275)
Mit Simmel kann bewiesen werden, daß
"Interpretation [...] also nur ein Sonderfall der allgemeinen
Technik Medientransposition [ist]. Zwischen codierendem Autor und
decodierenden Interpreten besteht keine psychologische Brücke,
sondern sachliche Konkurrenz. Jeder von ihnen verfügt über einen
Nornenborn, so daß im Glücksfall, den nichts und niemand
garantiert, Elemente und Verknüfungsregeln eines Mediums A auf
Elemente und Verknüfpungsregeln eines Mediums B abbildbar
werden."(275) Hingegen war es einer Bettina Brentano in einem
anderen Aufschreibesystem nicht vergönnt, "den Herzlieb-Code
knacken zu können". Hätte "die Arme" doch "wie so viele
Studentinnen um 1900 Simmels Straßburger Seminar besuchen können,
vieles wäre einfacher gelaufen".
Unter den Beispielen von Medientranspositionen
(276 ff) nimmt nun eine eine zentrale Stelle ein unter dem Titel
Die Psychoanalyse und ihre Rückseiten. (278 ff). "Freud
Traumdeutung, auf deren Titelblatt stolz und voreilig die
Zahl Null eines neuen Jahrhunderts prangt, inauguriert
Medientranspositionen als Wissenschaft."(276) Dort heißt es : »Der
Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren
Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen
sind.« (zit 279) Für Kittler heißt das: "Deutungstechniken, die
Texte als Scharaden oder Träume als Bilderrätsel behandeln, sind
keine Hermeneutik. Sie sind es nicht, weil sie nicht übersetzen.
Die Übersetzung eines Rebus scheitert daran, daß Buchstaben in
freier Natur, der Referenz allen Übersetzens, nicht vorkommen. Im
Gedicht Georges sind poetische Imagination und Sprachtresor nicht
koextensiv, im Vergleich Freuds gezeichnete Landschaft und
alphabetische Zeichensystem. Eben diese Fehlanzeige erzwingt eine
neue Wissenschaft. Um manifeste Trauminhalte in latente
Traumgedanken zu transponieren, muß zunächst und zuerste jedes der
zwei Medien als definierte Elementenmenge mit definierten
Verknüpfungsregeln (Fügungsgesetzen) angeschrieben
werden."(279/80)
So ist Die Traumdeutung
eine Zeichenanalyse einzig nach Stellenwerten
diskreter Elemente. Sie statuiert nicht ein Symbol im klassischen
Sinn, kein Transzendentalsignifikat also, wie es vormals alle
Wörter und vorab das Wort Wort einsaugte. An seine Statt
treten lauter unterschiedene Subsysteme von Signifikanten, in deren
jedes die Rebus-»Einzelheiten« probeweise eingesetzt werden müssen,
bis sie in je einem Subsystem einklinken.(280)
Als »wahre Silbenchemie« (Freud) ist "der Traum
selber schon ein Stück Technik fernab von Natur und Kunstnatur".
Die Traumdeutung setzt voraus, "kontinuierliche Bilderserien, bevor
sie durch Silben oder Wörter ersetzt werden, erst einmal zu
zerhacken", genauso wie "im Film Flügelscheibe und Malteserkreuz
die kontinuierlichen Bewegungen vorm Sucher" zerlegen.
Das aber praktizierte Freud an seinen
Hysterikerinnen. "Bilderfluchten" werden an ihnen "Element um
Element, ganz buchstäblich also exhauriert", bis alle Bilder durch
ihre Schilderung in Worte umgesetzt und aufgelöst
sind.(281)(67) So kommt zielsicher
die Frage: "sollte der Geist, den Freud austreibt, nicht einfach
die klassische Funktion Leserin sein?"(282)
Hysterisierung der Frauen um 1800 hat ja besagt,
ihnen eine Lektüre beizugringen, die poetische Gehalte
halluzinierend in Signifikate übersetzte. So käme auf der Couch nur
eine historische Sedimentierung wieder zutage, aber genau zu dem
Zeitpunkt, da sie dysfunktional wird, und genau zu dem Zweck, eine
andere, nämlich buchstäbliche Lektüre noch des Alltäglichsten
einzüben.(282)
So stehe die Psychoanalyse an einer Gabelung, "die
am 1900 [...] E-Kultur und U-Kultur scheidet".(282)
Frauen, Kinder und Irre, statt weiter
Lektürebilder zu träumen, endecken das Unbewußte des Parterres
[d.h. sie gehen ins Kino, KM], während die Wissenschaft
Psychonalyse gerade umgekehrt an Frauen, Kindern und Irren, um es
ihnen einzuschreiben, das elitäre Unbewußte skripturaler
Geheimcodes endeckt.(282)
So Kittler mit Verweis auf Félix Guattari. Daß die
Psychoanalyse "angesichts der Option Kinotraum/Tachistoskop das
Symbolische wählt, indiziert aber nur ihren Ort im
Wissenschaftssystem von 1900". Psychoanalyse, Ethnologie und
Strukturlinguistik habe Foucault, so Kittler, einer "Wiederkehr der
Sprache um 1900" zugeordnet, ohne dabei Technologien zu
berücksichtigen.
Aber nur seine informationstechnischen Neuerungen
verschaffen dem Aufschreibesystem von 1900 eine Autarkie, die es
vom transzendentalen Wissen und damit auch die Psychoanalyse von
allen Geisteswissenschaften trennt.(284)
Vielmehr habe die Psychoanalyse in einem
"methodische[n] Schwenk, dessen Prämissen beste Psychophysik
sind"(285), den von Medizinern und Spachforschern ermittelten
Schatz an sprachlichen Fehlleistungen - "ein immenser Tresor an
Unsinn" - nicht mehr auf Lokalisierung von Sprachfunktionen im
Gehirn hin untersucht, sondern auf die Dechriffrierung der Rede von
Einzfällen umgestellt. Mit diesem "Schwenk von Sprachsystem zu
Rede" durchquert die Psychoanalyse "am selben Material und nach
denselben Prämissen das Feld Psychophysik"(286), um den für
anatomische und linguistische Systeme schon erbrachten Beweis der
Regelhaftigkeit von Sprachschnitzern "auch noch für jenes singuläre
System Ubw" nachzuholen.
Im Kreuzfeuer von Psychophysik und Psychoanalyse
fällt das Individuum; an seine Statt tritt ein leerer Schnittpunkt
statistischer Allgemeinheit und unbewußter Singularität.(286)
Singularitäten sind aber keine Individuen mehr,
sondern ergeben Abnutzungsspuren von Sprachmaterialien.
Während Individuen aus gewachsener
Sprache-und-Schrift bestanden, sind Einzelfälle durch den Abfall
spezifiziert, den ihr Sprachumgang auswirft. Unverwechselbarkeit im
Aufschreibesystem von 1900 ist allemal ein Zersetzungsprodukt
anonymer Massenware.(286)(68)
So wird die Psychoanalyse zu einer Art
Recyclingindustrie für psychophysikalisch nicht verwertbare
Abfälle.
Deshalb gibt es Psychoanalyse. Der Abfall, den die
Psychophysik übrig läßt, wird durch Umsortieren decodierbar. Freuds
Diskurs anwortet nicht auf individuelle Nöte; er referiert auf ein
Aufschreibesystem exhaustiver Unsinnserfassung, um dessen
Signifikantenlogik den Leuten einzuschreiben.(288)
Vor dem Hintergrund der strukturalen Freudlektüre
Lacans(69) bezeugen Freuds
Fallgeschichten, "daß die Romantik der Seele einem Materialismus
der Schriftzeichen gewichen ist. [...] Gerade weil sie in freier
Natur nicht vorkommen, sind Buchstaben Schlüssel zum Unbewußten.
Sie durchstreichen bewußtes Meinen und hermeneutisches Verstehen,
um Leute ihrer Unterworfenheit unter die Sprache
auszusetzen."(288/89) So wird Freud zum "Korrekturleser", und zwar
zu einem, der hörend Druckfehler findet. Die Patienten sprechen nur
und der Arzt meidet Stenogramme und Nachschriften. "Die
Psychoanalyse liefert mithin den singulären Fall eines
Aufschreibesystems, das die Schrift zur Sache und ihr ganzes
Gegenteil zur Methode hat."
Da muß doch ein technisches Medium im Spiel sein?
In der Tat soll der Analytiker, so Freud, "dem gebenden Unbewußten
des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ
zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver
eines Telephons zum Teller eingestellt ist."
Das Paradox, ohne Schrift zu schreiben, lösen nur
technische Medien. Freud, auch er zum Opfer seine
Erkenntnissubjekts enschlossen, macht eine Medientransposition an
ihm selber: einen Telephonhörer aus Ohren. Denn wie geschrieben
steht, haben Menschen ihre Ohren ja nur, um nicht zu hören (und
alles in Sinn zu verwandeln). Erst die Zwischenschaltung
elektroakustischer Wandler sichert unselektierten Empfang eines
Rauschspektrums, das um so informativer ist, je weißer es
rauscht.(289)
Zwei 'kommunizieren' also bewußt, aber zählen tut
nur des einen Unbewußten "verschlüsselte Rebus-Nachricht" ans
andere. Der manifeste Sinn ist Unsinn.
Der Telephonreceiver Freud sondert gerade ihn als
Abfall von den Abfällen, die unterm Sinnpostulat Versprechungen,
Verlesungen, Verschreibungen wären.(290)
Um aber verräterische Signifikanten, also
"gesprochene Druckfehler" aus der Rede zu fischen, müssen diese
vorher gespeichert sein. Also wird ein Tonspeicher angeschlossen
werden. So arbeitet die Psychoanalyse eher "als Phonograph, der in
seiner entwickelten Form ja elektroakustischen Wandler und Speicher
koppelt". Das hat nicht einmal Benjamin erkannt, als er
Psychoanalyse in Film "synchronisiert" hatte.(290) Denn der
"Fischzug [geht] auf diskrete Elemente. Nicht allein die imaginäre
Bedeutung, auch das Reale am Diskurs fällt aus".(70) So bleiben
Kino und Grammophon [...] das Unbewußte des
Unbewußten. Die mit ihnen geborene Wissenschaft Psychonalyse
begegnet Bildersequenzen mit einer Urverdrängung. Geräuschsequenzen
mit ihrer Entstellung zu Signifikantenketten. Erst jener Tag, der
nach Freuds Traum und anderer Alptraum Psychoanalyse in
Psychochemie überführen wird, mag auch diese Verdrängung
verdrängen.(291)
Auch das ist Spurensicherung, und zwar "von
Buchstäblichkeiten" und
jedes Medium, das Verborgenes zutage bringt und
Vergangnes zu reden zwingt, wirkt durch Spurensicherung am Tod des
Menschen mit.(292)
Die Buchstaben werden aber von Freud in Bücher
überführt: seine Fallgeschichten. "Freud greift zur Feder"(291) und
gehört schon zum modernen deutschen Schrifttum, denn "Schreiben um
1900 heißt ohne Stimme und bei den Buchstaben sein." Das Verhältnis
von Hysterikerinnen und dem Literaten Freud ist nicht das von
Anselmus und Serpentina.
Die Psychoanalyse ist nicht übersetzende
Universalisierung, die aus Reden vieler Frauen die Ursprache der
Einen macht. In Praxis wie Theorie, im Zuhören wie im Aufschreiben
bleibt sie Rückkopplung von Daten, die jeweils einen Einzelfall
einkreisen.(291)
So aber besetzt die Psychoanalyse "den
Systemplatz, den im Aufschreibesystem von 1800 die Dichtung
innegehabt hat".(294)(71)
Bleibt der Fall, daß die Seele bei Dichtern oder
Psychotikern selbst schon "Aufgeschriebenheit erlangt"(296)
hat.(72) "Der Text als
verkörperte Psychoanalyse", das ist im Falle der
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken des Dr. jur. Daniel
Paul Schreber (1903 als Privatdruck erschienen) ein Text, der "die
Gesetze des Unbewußten verkörpert" enhält. "Freuds
libidotheoretische Grundannahmen stehen bei Schreber selbst". So
muss Freud in Psychoanalytische Bemerkungen über einen
autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia
Prioritätsfragen ansprechen. Denn Schreber hat in seinem Wahn "jene
Libiotheorie [archiviert], zu der Psychanalyse nur auf den langen
Umwegen der Deutung gelangt, als Körper und Text. Er steht zu ihr
im Verhältnis von Schriftstellern überhaupt."(297)
Die Denkwürdigkeiten schildern einen
nervenkranken Körper als Schauplatz ganzer Theomachien, wo
göttliche Nervenstrahlen Besetzungen und Rückzüge durchführen,
Organe zerstören und Hirnfasern extrahieren, Leitungen legen und
Nachrichten durchschalten -: ein psychisches Informationssystem,
das Freud nicht als Wahn, sondern beim Wort nimmt.(298)
Mit diesem aufgeschriebenen "Informationssystem
Seele" wird der Psychoanalyse ihr Kernstück als Beweisstück
zugespielt, nämlich der von ihr angenommenen "psychische Apparat",
den sie als »das Reale« (Freud, zit 298) nur erschließen kann:
"Schrebers endopsychische Wahrnehmungen, die ja ohne Zweifel einen
Körper, den seinen, als räumlich ausgedehnten Nervenapparat
beschreiben".
Das Korpus des psychotischen Textes liefert der
Psychoanalyse ihre unversichtbare, aber unauffindbare Grundlage:
einen Körper. Einen Körper als jenes Beweisstück, ohne das sie nach
allen zeitgenössischen Standards leere Spekulation
bliebe.(298)
So entsteht zwischen zwei Systemen eine
Nachrichtenverbindung.
Nicht nur ist der psychische Apparat, wie
psychotisches und psychoanalytisches Korpus ihn beschreiben, ein
einziges hochkomplexes Nachrichtensystem, auch die zwei Korpora
bilden dieses selbe System noch einmal. Kunde vom unmöglichen
Realen gelangt medientransponiert ins Symbolische. Freud empfängt,
was Schreber sendet; Schreber sendet, was Freud
empfängt.(299)
Nur wie das funktionieren kann, wird nicht gesagt.
"Freud ist viel zu sehr auf den Zeugniswert des Empfangenen aus, um
auch noch die Logik der Kanäle zu untersuchen".(299)
Im Wettlauf um das Körperwissen fällt also die
Frage aus, welche Wissenskanäle den Körper selber bilden. Das
Aufschreibesystem von 1900 bleibt seinen Eigennamen schuldig.
Der Senatspräsident aber steht vor der Alternative
"Schreber als Schreiber oder Schreber als Anatomiepräparat". Die
führt ihn dazu "an der Stelle seiner Obduktion einen Abfall,
Körperersatz, Text" anzubieten. Er vermacht also seine
Aufzeichnungen als seinen aufgezeichneten Körper, nämlich seine auf
"Nerven und deren Sprache" reduzierte "Seele" der Wissenschaft,
genauer: dem Psychiatrieordinarius der Leipziger Universität Paul
Flechsig, in dessen Behandlung er sich befand. Dieser sah sich
durch die Schwierigkeiten einer Gehirnerforschung in vivo auf den
der »Erhebung des Leichenbefundes« (zit 301) verwiesen. Wenn
Schreber in den Denkwürdigkeiten nun darauf verweist, daß
»nach dem Tode die Nerven der Menschen mit allen Eindrücken, die
sie während des Lebens empfangen hatten, offen vor Gottes Augen
dalagen« (zit Schreber 301), so identifiziert er schlicht Gott mit
dem Leipziger Professor.(302)
Die Seele besteht aus Nerven, die in vivo
unmöglich zu untersuchen sind, aber perfekte Datenspeicher abgeben
und deshalb im Augenblick der Leichenöffnung ihre Geheimnisse
sämtlich dem klinischen Auge offenbaren.(301)
Und deshalb kommt Schreber seinem Psychiater
zuvor, "wenn er seine Nerven schriftlich seziert".
Er tut es und fabriziert damit zur Freude Freuds,
des vormaligen Neurologen, das unmögliche Beweisstück der
Psychoanalyse: endopsychische Wahrnehmung von
Hirnfunktionen.(302)
Damit ist aber neuerdings eine "Verschaltung" von
"Nachrichtenkanälen" aufgedeckt.
So verschaltet sind Nachrichtenkanäle. Der Fall
Schreber, statt unabhängiger und unverdächtiger Beweis einer
Libidotheorie zu sein, belegt nur den Nexus zwischen Psychophysik
und Psychoanalyse. Freud als Leser und Schreiber geht blind ins
Diskursnetz, dem er selber zuzählt. Entwurf eine Psychologie
und Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken sind zwei
Fortschreibungen ein und desselben Diskurses.(302)
Die Versuche hingegen, Schrebers Gott mit dessen
Vater - Erfinder des Schrebergartens und Betreiber einer Art
orthopädischer Pädagogig - zu identifizieren, verfehlen diese Art
von zweiter industrieller Revolution:
Flechsigs Botschaft vom Tod des Menschen,
versteckter als diejenige Nietzsches, hat Exegeten also nicht
erreicht. Immer wieder wird versucht, die zweite industrielle
Revolution mit der ersten zu erklären: das Informationssystem
Schrebers mit orthopädischer Mechanik [des Vaters von Schreber,
KM], die Schreibmaschine in Kafkas Strafkolonie mit
Freisköpfen und Planhobel. Aber Nervensprachen bleiben
Nervensprachen, Schreibmaschinen mit eigens konstruierter
Schrift-Sichtbarkeit bleiben Underwoodmodelle. Das System von 1900
kann sich die Ersparnis von Muskelenergie längst sparen, weil es
Substitutionen des Zentralnervensystems selber in Angriff
nimmt.(302)
Wenn also der Arzt Flechsig Schrebers
endophysische Nervenwahrnehmungen selbst als Halluzinationen abtut,
also die "Psychophysik ihre eigenen Effekte aus der Welt reden
kann"(303), bleibt Schreber nur, in Flechsigs eigener Sprache - der
"Nervensprache am Grund des neuen Dispositivs"(303) - und auf
dessen eigenem Feld "den Nachweis zu führen, daß seine vorgeblichen
Halluzinationen Tatsachen und vom Diskurs des Anderen effektuiert
sind". Ein kleines "Aufschreibesystem" versucht, "die dunkle
Wirklichkeit eines anderen und feindlichen zu beweisen", denn mit
dem, was Schreber selbst »Aufschreibesystem« (zit 304) nennt und
Kittler den Titel seiner Arbeit gibt, hat er selbst die seine Daten
aufzeichnende "paranoische Maschine" bezeichnet.(73) Diese Maschine
aber
arbeitet wie eine Verbundschaltung aller
Datenspeicher, die um 1900 das Aufschreiben revolutionieren. Und
weil ihre Strategie darauf geht, nicht statistische Serien, sondern
den zufälligen Fall Schreber zu exhaurieren, bezeichnet sie
zugleich das methodische Projekt am Grund der Psychoanalyse.(304)
[...] Das schwachsinnige Aufschreibesystem über Schreber ist also
[...] das Aufschreibesystem von 1900.(305)
"Exhaustion koppelt Einzelfälle ans
Aufschreibesystem von 1900 an".(305) Das nennt Kittler "Kurzschluß
zwischen Maschinenspeichern und Einzelfällen". Der "liquidiert ein
Grundkonzept von 1800: das Eigentum an Diskursen". Der "immense
Speicheraufwand"(305), den das Aufschreibesystem treibt,
unterstellt Schreber "exhaurierbare Gedankenvorräte"(307) als seine
eigenen Gedanken.
Maschinenspeicher sind viel zu akkurat, um die
klassischen Unterscheidungen von Meinen und Zitieren, selbsttätigem
Denken und bloßem Nachsprechen zu machen. Sie registrieren
diskursive Ereignisse ohne Ansehung sogenannter Personen. Weslhalb
die Ausrede, zwischen geistigem Eigentum, Zitaten und
Fehlleistungen zu trennen, hinfällig wird wie sonst nur in
Psychoanalysen.(306)
Und so verhöhnen Schrebers Stimmen "in triumphalem
Sächsisch [...] den guten hochdeutschen Glauben des Beamten a.D.,
wonach Dem Menschen Denken und Sprechen eignen."(306) Die "ewige
Wiederkehr [...] siegt über Originalgenies, Psychophysik über
absoluten Geist".(307)
Mithin produziert "jede diskursive
Handgreiflichkeit [...], was sie behauptet". Wenn "Experiment und
Pathologie zusammenfallen und die Versuchsleitung, heißt das, ihre
Probanden verrückt macht, bleiben allein Probleme der
Notwehr"(307). Um sich vor der Psychophysik zu retten, bleibt
Schreber "nur Medienkonkurrenz": vor "Stimmen, die alle Diskurse
auf ihre Materialität einebnen" rettet ihn nur "Mimikry". Er
übernimmt vom Feind die Technik der Exhaustion, um diesen mit
seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen, also seine Exhaustion mit
seiner eigenen Unverschöpflichkeit an Gedanken. Gegen das
Aufschreibesystem mischt er "Schiller und Zoten, Verse und
Gebrüll".
"Und das ist, wenn schon nicht Wahnsinn, so doch
Literatur."(308) Schreber übt nämlich, so Kittler, "genau die
apotropäischen Techniken, die zwölf Jahre später im Café Voltaire
der Züricher Dadaisten Ruhm und Öffentlichkeit
erobern."(308)(74) Denn die
unmenschlichen Aufschreibesysteme von 1900 sind unentrinnbar, "aber
gerade in ihrer Unmenschlichkeit erlauben sie es, dem Imperativ des
Sinns zu entrinnen"(308), und "wenn die Macht ihren klassischen
Imperativ wiederruft, nur Signifikate zu statuieren, wird auch den
Opfern neue Lust". Das heißt jenseits jeder "larmoyanten Theorie
über Den Menschen in einer technischen Welt":
Wo Sinn aufhört, beginnt das Genießen: eine Lust
in genau der Marge, die ein Aufschreibesystem purer Signifikanten
seinen Opfern läßt. [...] Exhaustive Datenerfassung hat es nicht
nötig, ihre Maschinenspeicher auch noch den Leuten einzufleischen,
also ihnen eine Seele zu machen. [...] Brüllend, vergeßlich und
gedankenflüchtig darf der Senatspräsident a.D eine Freiheit
diesseits von Beamten- und Menschenwürde genißen. Eben das ist aber
seit 1900 die Definition des Subjekts.(309)
Die aber ist: das Subjekt ist nicht einzigartig
sondern singulär. "Es darf im genauen Gegensatz zum produktiven
Individuum einfach konsumieren, was von Signifikantenketten für ihn
»an sinnlichem Genusse abfällt«. Das Subjekt des Unbewußten ist
buchstäblich Abfall" - so mit Deleuze und Guattari zum Fall
Schreber. Eine Singularität exhauriert, was sie exhauriert.
Das eben tut "Literatur im Aufschreibesystem von
1900" und ist damit Ein Simulakrum von Wahnsinn. (311 ff). Kurz
gesagt ist sie nichts anderes als "Abfallverwertung von
psychoyphysisch gespeichertem Unsinn."(314)
Vom Wahnsinn geschieden durch ein Nichts namens
Simulakrum, durch eine Folie namens Papier, durchläuft das
Schreiben den Freiraum ewiger Wiederkehr. Gerade in seiner leeren
Selbstbezogenheit ist literarisches Schreiben seine eigene
Rechfertigung.(75) [...] Das Simulakrum
von Wahnsinn setzt voraus, daß Wissenschaften vom Unsinn möglich
und herrschend geworden sind. Erst wenn es eine Psychophysik als
Zufallsgenerator und eine Psychoanalyse als Exhaustion von Unsinn
gibt, bleibt am Ende eine ebenso verrückte wie unwiederlegliche
Abfallverwertung.(311)
Das ergibt Texte, "die gar nicht mehr vorgeben,
Sinn zu machen, sondern auf ihr reines Geschriebensein pochen".
Darin finden Erwähnung und liefern Zeugenschaft Morgenstern, Ball
und Kafka (312 f), Heym, Ball, van Hoddis, Huelsenbeck, Zech,
Becher, Urzidil, Rilke, Adler, Breton (315 f) und der "junge
Assitenzarzt Benn" (316 ff). Bei diesem macht "die Montage ihrer
sinnlosen Faktenmengen [...] aus Psychophysik selber die
Geistesstörung, die sie erforscht"(316). Benn entwickelt eine
"doppelte Buchführung, die mit der einen Hand Statistiken
weiterschreibt und mit der anderen zur Simulation eines Deliriums
ausbeutet"(317), indem er, was ihm die Psychiatrieprofessoren
Ziehen (auch Nietzsches Arzt) und Bonhoeffer lehren, in entlegenen
Avantgardezeitschriften veröffentlicht.
Handelt es sich dabei um "Vereinzelung
psychophysischer Befunde, simuliert die Literatur aber nur, was im
Aufschreibesystem von 1900 die Psychoanalyse auszeichnet". "Die
Gemeinsamkeit von Gemeinsamkeit und Konkurrenz, einst das Los von
Dichtern und Denkern, ist zum Los von Schriftstellern und
Analytikern geworden."(318)
Selbstredend geht es nicht mehr um den Sinn und
seine Interpretation. [...] Getragen wird ihrer beider Beziehung
von dem Faktum, daß es am Grunde aller Kulturtechniken Körper und
deren Unsinn gibt. Diese Körper aber sind nur psychophysischen
Experimenten, also um den Preis von Schweigen und Tod zugänglich.
[...] Die Psychoanalyse muß also [da sie nicht psychophysisch
experimentiert, sondern "Worte austauscht", KM] Reden solange auf
Unsinn hin abhören, bis eine Indizienkette hin zum unzugänglichen
Realen geschlossen wird. Die Literatur muß Papiere solange von
Lesbarkeiten reinigen, bis der Körper ihrer Wörter für den
Augenblick eines Kurzschlusses mit dem anderen zusammenfällt. Damit
aber stehen die zwei Diskurse in Konkurrenz. Es gibt Reales, das
beiden verschlossen ist, und zwei Umwege, die einander
ausschließen: die Decodierung und der Kurzschluß.(318)
Die Alternative der Schriftsteller war mithin,
"ihren Körper auf eine Couch zu legen oder aber Wortkörper zu
vertexten", und "fast alle [optieren] für reines Schreiben und
gegen ein »(möglicherweise unproduktives) Leben«" - so Kittler mit
Rilke. Schreber vermachte seinen Körper der Wissenschaft, Rilke
entzieht ihn ihr, denn bei ihm löst schon die Vorstellung einer
Psychoanalyse "das Phatasma einer Trepanation aus", nämlich, in
Rilkes Worten, »die panische Angst, zerpflückt und ausgesogen zu
werden«.(zit 319). So wird
Das Hirn des Schreibers [...] zum mythischen
Fluchtpunkt aller Versuche, Diskurse neurologisch abzuleiten.
Schreiben um 1900 heißt demgemäß: dieses Hirn unbeschadet seines
klinischen oder simulierten Wahnsinns, vor medizinischen Sonen
hüten und unmittelbar in Texte (umzusetzen. Eine
Medientransposition, die notwendig über jenen anderen Fluchtpunkt,
die endopsychische Wahrnehmung von Hirnfunktionen laufen
muß.(319)
Das treffe auf Gehirne von Benn zu wie auf
die Stadt des Hirns von Flake.(320) Und der Erzähler Marcel
in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird
"Nervenbahnungen [...] abschreiben müssen".(321) "Genug der
Belege", sagt Kittler, aber es geht weiter mit Rilkes
Ur-Geräusch von 1919 (321 ff), in der ein phonographischer
Apparat phantasiert wird, der die Kronen-Naht des Schädels abspielt
und die Festellung erlaubt:
Simmels objektive Interpretation [275 ff, KM],
Freuds analytische Konstruktion, Rilkes Apparat - sie alle können
Spuren ohne Subjekt sichern. Eine Schrift ohne Schreiber also, die
denn auch nichts anderes archiviert als das unmögliche Reale am
Grund aller Medien: weißes Rauschen, Ur-Geräusch.(323)
Und das, so Kittler, sei nur konsequent.
Sicher rauscht Es seit unvordenklichen Zeiten,
nämlich seit es Brownsche Molekuralbewegungen gibt. Aber um
Rauschen und Nachricht überhaupt zu unterscheiden, muß Reales über
technische Kanäle Laufen können. Das Medium Buch kennt Druckfehler,
aber kein Urgeräusch Die phonographische Wiedergabe »einer Spur,
die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammt« [zit
Rilke, KM] spottet der Übersetzbarkeiten und Allgemeinen
Äquivalente. Grammophonnadeln auf Schädelnähte anzusetzen ist nur
möglich in einer Kultur, die diskursive Handgreiflichkeiten
schlechthin freigibt. Extremierte Medientransposition macht aus
sogenannter Natur allemal unbewußte Programme.(323)
So sieht Kittler sich - unter dem Gesetz Lacans,
"daß im Realen erscheint, was nicht ans Tageslicht des Symbolischen
gedrungen ist"(325) - in der Lage, Rilkes Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge "zum erstenmal zu buchstabieren und nicht
bloß zu verstehen"(324 ff), d.h. aufzuschreiben, wie Schreiben "die
Geschwulst des Hirns zu Papier" bringt.(325) "Und da nichts und
niemand in Sprache bringen kann, was das materiale Substrat von
Sprache ist, tritt der Schatten vor Neurophysiologie vor Brigges
Mund", ein "Reales" also "das in keiner Sprache gesagt werden kann,
weil die Einweisung in Sprache überhaupt es schon
ausfällt".(325)
Das Medium Schrift kehrt seine Kälte hervor; es
ist Archivieren und sonst nichts. Deshalb kann es das Leben nicht
ersetzen, darstellen, sein, sondern nur erinnern, wiederholen,
durcharbeiten.(76) Etwas gegen die
Furcht tun, heißt sie selber aufschreiben.(325)(77)
Wenn dabei Kinderangt vor dem "Großen" und
Beruhigung durch die Mutter beschwört werden, dann nur, um
Artikulation selbst, also "den um 1900 elementaren Bezug zwischen
Einzelheit und Hintergrund, Zeichen und Urbrei, Sprache und
Urgeräusch" zu erfragen. Für diese Frage gibt die Psychophysik
"theoretisch und statistisch den Rahmen vor; Psychoanalyse und
Literatur verschriften passende Einzelfälle, bis das System
geschlossen ist".
Darum hat keiner der drei Diskurse an den zwei
anderen feste Referenzen; es gibt nur ihrer aller
Vernetzung.(327)
Keinen dieser drei Diskurse kümmert es, "was
Mütter tun und sagen, welche Liebe oder Bildung sie Kindern
einflößen".
Statt Minimalsignifikaten einer ersten Liebe
gelten einzig erste Signifikanten auf dem Hintergrund von
Ununterscheidbarkeit.(327/28)
So findet Kittler durch Rilke (Maltes Geschichten
von den Buntstiften und dem Bleistift) ein Aufschreibesystem
bezeugt, "das Kulturtechniken an ihren Defiziten und Einzelheiten
an ihrem Abnutzungsgrad mißt"(328), "Schrift auf einen Code unter
anderen" reduziert, nur "die analphabetischen Abenteuer mit
Schreibzug und Papier" gelten läßt und so Kindern vorschreibt,
"ihren Analphabetismus selber aufzuschreiben".
Literarische Texte um 1900 zeichnen also auf, "wie
eine alphabetische Kultur vom analphabetischen Außen her zu
definieren ist"(330). Und wenn es "keine Synthesefunktion gibt, die
unabgezählte Datenmengen auf Sinn hin selektieren könnte [...],
macht auch beim Lesen die transzendentale Apperzeption einer
unmöglichen Exhaustion Platz"(331). "Unterm Gesetz der
Exhaustion"(332) aber können »Furchen im Gehirn« (zit Rilke) nur
noch in "Real Time Analysis" verarbeitet werden, also in
"Echtzeitanalysen von Hirnengrammen", und "im Schreiben selber
tritt anstelle von Sinnminiaturen eine Exhaustion, die nicht
aufhört, nicht aufzuhören". Malte Laurids Brigge schreibt seine
Aufzeichnungen "als sei er, trotz Gutenberg und Anselmus,
schlichter Kopistenmönch"(333).
Aber auch Aufsatzregeln für die Schule passen sich
dem System an (333 ff) und werden zu Aufschreibübungen, "diese
psychophysisch so streng isolierte Subroutine"(333). Das hat
Methode, denn "das Zeitalter der Ingenieure verlang technisch
exakte Reproduktionen technischer Abläufe".(334) Und die sind der
einzige Zugang zum Realen. Sachverhalte "entgehen jeder
Hermeneutik; sie müssen angeschrieben und abgezählt werden."
Der Grund liegt auf der Hand: es gibt sie nur als
konstruierte. Programme, Pläne, Zahlen sind dazu da, Reales zu
verziffern. [...] Die grundsätzliche Unvorstellbarkeit von Realem
erzwingt Autopsien, die seine diskreten Elemente eins nach dem
andern verzeichnen. Genau das tut Brigge in Paris, wenn er (unter
Umgehung des Pantheons) abgerissene Häuser, blinde
Zeitungsverkäufer, Krankenhauswartezimmer und Moribunde zur Sache
eines Schreibens macht, das exhaustiv wie die Medien vorgeht.
Dichter, die das Ungefähre hassen, gehören allemal in eine Kultur
von Ingenieuren und Ärzten. Noch abgerissene Häuser rechnen zur
Technik, noch hoffnungslose Fälle zur Medizin. Der Schriftsteller
[...] ist nur einer, dessen Lust Abfallverwertung heißt. Während
die Ingenieure und Ärzte Einzelheiten machen, die funktionieren,
»macht« Brigges Schreiben genau umgekehrt den zufälligen und
singulären Zeitungsverkäufer »wie man einen Toten macht«. An der
Logik des Konstruierens ändert das nichts.(334/35)
Die seitenlange Beschreibung eines epileptischen
Spring-Tics durch Brigge ist eine Reproduktion körpertechnischer
Abläufe, also eine "Simulation" die "auf ein Reales stößt, das der
Einfühlung oder Hermeneutik verschlossen bliebe".(336)
So belegen "Écriture automatique,
psychoanalytisches Assoziieren, freier Aufsatz [...] Mächte, vor
denen der Schreibende zum Medium herabsinkt". Ihm wird diktiert.
Und wenn der "Schreibakt in seiner Materialität aufgeht", ersetzen
die "sonderbaren Leute, die ihn tun [...] einfach
Schreibmaschinen". Wo um 1800 ein absoluter Geist Autoren und Werke
"konsumierte", "steht 100 Jahre später die nackte
Vernichtung".
Schreiber [...] kommen nicht zur Unsterblichkeit
eines Autornamens, sie ersetzen nur jene anonymen und paradoxen
Analphabeten, die ein ganzes Aufschreibesystem von außen her
aufschreiben könnten.(343)
Da aber niemand so analphabetisiert ist, und schon
gar nicht Kittler - das größte Geschrei nach Reinheit vom Sinn,
könnte man ein Wort von Kafka abwandeln, ertönt in der
germanistischen Hölle - bleibt ihm diese letzte Medientransposition
verwehrt. So müssen weiterhin Belege "exhauriert" werden. Kafka
(344 f): es gibt nur Könige oder Kuriere. Und niemand will König
sein, so daß nur Kuriere sich sinnlos gewordene Meldungen zurufen.
Also gibt es nur "Diskursangestellte".
Wenn es Den Menschen oder Beamten ausgemacht hat,
universales Gedächtnis der Geistesprodukte zu sein, so bilden
Diskursangestellte eine disperse Menge mit partikularen, aber
umschriebenen Zuständigkeiten. Keiner von ihnen speichert alles,
alle zusammen aber sprengen sie das Monopol von Büchern und Sinn,
wie es unterm Titel Geist firmiert hat. Kuriere bei Kafka,
Briefträger bei Groß, Schreibkräfte bei Schreber [...].(345)
Und "deshalb behandeln soviele Kafkatexte die
Materialität von Nachrichtenkanälen:"
Die Kanäle sprechen durch (Der Nachbar),
sie arbeiten mit Tot- oder Verzögerungszeiten (Eine kaiserliche
Botschaft), sie sind nicht durchgängig verschaltet (Das
Schloß) und was sie übermitteln, hat keinen Sinn außer dem
Statement, daß es sie gibt (Vor dem Gesetz).(345)
Singulär sind die Sprecher wie ihr
Gespeichertes.
Zerstreute Spezial- oder Lokalgedächtnisse rufen
einander sinnlos gewordene Meldungen zu. Aber damit hört das
schiere Jetzt, eben das also, was nicht aufhört aufzuhören, zum
ersten gespeicherten Mal aufzuhören auf.(346)
Das gilt für jeden von Kittlers Funden und macht
ihn zum diskursiven Ereignis, wie denn "Speicher, die Diesheiten
speichern, [...] selber Diesheiten [werden]. Das macht jede
Archivierung zum diskursiven Ereignis".
Woraus folgt, daß unverständlicher Abfall, also
Literatur, nicht aufhört, nicht aufzuhören. (Davon handelt Valérys
gesamte Poetologie=. Eine Literatur, die ausschließlich Diesheiten
aufschreibt bzw. selber in Wörtern und Typographie als Diesheit
auftritt, besetzt die Speichereinrichtungen und verdrängt damit
jene Dichtung [von 1800, KM].(346)
Singuläre Sprecher und singulär Gespeichertes auf
der einen Seite und auf der anderen - der "unerreichbaren
Rückseite"(347) der Literatur - "stochastische Streuung, das weiße
Rauschen, denen gegenüber Medien erst das sind, was sie sind". Das
trifft auch ihre Rezeption: laut Kittler "das unmögliche Reale"
beim unvermittelten Umschlag in "Pragmalinguistik"."Eine Literatur,
die nur Einzelheiten aufschreibt, kennt auch auf seiten ihrer Leser
oder Nichtleser nur Einzelne". Ob Texte die »Leut« (zit
Hofmannsthal) erreichen, ist eine Frage von Statistik und
empirischer Sozialforschung. Nachweisen läßt sich nur,
wie die unmögliche Adresse Leut in die
Textur eingeht. Welche Maßnahmen Schriften also treffen, um das
gebildete Individuum nicht zu erreichen. Als
Verteilungsmodus von Texten, die Abfall eines Aufschreibesystems
sind, kommt nur der von Abfall in Frage. Damit aber opponiert die
Literatur Punkt für Punkt dem klassisch-romantischen Programm
proliferierender Dichtung.(348)
Sie opponiert auch darin, daß Autorennamen
verschwinden und Namen in Texten "als pure Signifikanten [...]
imaginäre Identifikationen" ausschließen.
Der despotische Signifikant [...], der überm
Aufschreibesystem von 1900 steht, befiehlt Seelenmord oder
Menschheitsdämmerung. Deshalb verschwinden Autornamen, manche in
der Nichtigkeit von Einzelfällen, andere im faktischen
Anonymat.(349)
Davon zeugen Döblin und Rubiner. Und so setzen
Künstler im "elitären Buchstabenkultraum, den das Aufschreibesystem
von 1900 seinen Wortemachern läßt"(349) "auf stochastische
Streuung, sie alle operieren auf strategischem Feld"(350) und
machen "das Buch zum fait social" für eine Literatursoziologie, wie
sie 1904 Gustave Lanson erfand. Wo es "längst nur noch
Signifikanten gibt, die nicht nur nicht Autorgedanken, sondern gar
nichts besagen", kommt, was "faktische Leser am Sozialfaktum Buch
haben [...] ganz ohne Denken aus".(350)
Folgt über weitere "diskursive
Handgreiflichkeiten", "Einschnitte" und "Medientranspositionen" die
Freilegung neuer Textcorpora von "anonymen oder pseudonymen Frauen,
wie sie um 1800 am Rande des Schreibens blieben"(352). Diese
"rücken ins Systemtemzentrum, einfach weil die Autoren oder Männer,
in deren Werk sie zugrundegingen, ihrerseits zugrundegehen." So
Bettina Brentanos Korpus.
Das Korpus Bettina Brentano, auch Welt genannt,
tritt an die genaue Stelle von Autorschaft und Werkherrschaft. Wo
der Schöpfer namens Goethe ausfällt, wird offener Raum, von Vogel-
und Frauenstimmen durchgangen. Eine Briefschreiberin, die ganz
glücklich darüber war, unbedeutend zu sein, rückt nicht posthum zur
Autorin auf. Aber was sie in den Wind schrieb, hört auf, mangels
Autorschaft aufzuhören. Gerade weil es nur ewig eine Liebe
wiederholt, ist dieses Schreiben mit einemmal an der Zeit. An einer
Zeit, wo ewige Wiederkehr opaker Diesheiten Schreiben überhaupt
definiert.(352)
Es ist das diskursive Ereignis der Unterbrechung
einer Goethelektüre in Rilkes Aufzeichnungen..., die diese
Leerstelle frei- und das "Korpus" an ihrer Stelle einsetzt.
(Einzelheiten 352 ff).
Brigge, statt durch Goethelesen koninuierlich zur
eigenen Autorschaft zu wachsen, setzt seine Lektüre einer
Unterbrechung aus, die nicht anders fungiert als alle
Malteserkreuze des Films oder Tachistoskope der
Psychophysik.(353)
Eine Frau, Abelone, liest Bettinas Briefe ohne die
Antworten Goethes. "Eine Frau, die im doppelten Wortsinn unerhörte
Liebesbriefe einer Frau vorliest, schließt um beider Geschlecht
einen Kreis und männliche Hermeneuten, heißt das, aus".
So fallen "die Funktionen produktiven
Fortschreibens und reinen Konsums, wie sie im Aufschreibesystem von
1800 die zwei Geschlechter spezifiziert haben, gemeinsam aus"(353)
und "an genau der Stelle, wo die Gottheit Autor verschwindet,
erscheinen schreibende Frauen, so ungelesen wie irreduzibel", und
"eine Literaturgeschichte [...], die nur aus unerhörten und
intransitiven Liebesrufen besteht".(354) Viele Schreiberinnen nicht
mehr mit der Einen Mutter "konfundieren" zu können entspricht aber
"der Regel unmöglicher Exhaustion", die das Aufschreibesystem von
1900 "nirgens strenger [befolgt] als auf dem Felde des
Geschlechterunterschieds". Was macht es also mit vielen
Schreiberinnen statt Einer Mutter? Die Stimme Lacans - wohl eher
als die von Rilke (354) - sagt es aus dem Hintergrund : es zählt
sie ab, "une par une", und kommt nicht zu Ende bei
einer Zahl, die das Reale abzählt oder als reelle Zahl endlos
berechnet.(78)
"La femme n'existe pas. Im
Aufschreibesystem von 1900 sind Frauen unzählige Einzahlen und
irreduzibel aufs Singularetantum Frau oder Natur. Alle Medien und
Wissenschaften, die das Aufschreibesystem von 1900 tragen
konkurrieren in" 3. Damenopfer (355 ff). Das Damenopfer führt nicht
nur der ungarische Schachmeister Charousek (1873-1899) ein, sondern
auch der Edison, den Villiers de l`Isle-Adam in L`Eve future
feiert.(355 ff)
Alle Züge, die Dichter und Denker ihrem imaginären
Frauenbild zuschrieben, vervollkommnet und liquidiert der
technologische Ersatz. Spalanzanis mechanische Olimpia konnte
gerade den einen Urseufzer; Edisons mechanische Eva spricht 60
Stunden lang [und zwar über zwei Phonographen, die das "ihnen
eigefütterte Vokabular nach Ebbinghausmethode auswerfen", KM]. Jene
große Dame Natur, von der alle Welt redete und niemand etwas sah,
stirbt an perfekter Simulation. L`Eve future oder der
negative Beweis, daß es Mutter Natur nicht gibt. Mit der
unvermeidlichen Folge, daß nach Edisons Experiment nur noch plurale
Frauen übrig bleiben, zwar Experimentalabfall, aber
real.(356)
"Den Technikern folgen Theoretiker."
Wenn das Phantasma Frau aus einer Verteilung von
Form und Stoff, Geist und Natur, Schreiben und Lesen, Produktion
und Konsumtion auf die zwei Geschlechter entstanden ist, so
etabliert der Widerruf dieser Polarität ein neues
Aufschreibesystem.(356)
Und auch die Psychoanalyse liefert "nur ein[en]
Beweis mehr fürs Nichtsein Der Frau".(357)
Ihr eines Ach und der eine Punkt, von dem aus es
einem klassischen Therapeuten namens Mephisto heilbar schien,
verschwinden miteinander. An die entstandene Leerstelle treten
unabzählbare Reden, die Freud registriert [...]. Was um so nötiger
ist, als Hysterie, wiewohl eine ganze Sprache, an dialektalen
Wendungen dem Wetterwendischen wenig nachgibt.(357)
Da Freud seine Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse mit "Meine Damen und Herren!" beginnt und
ihnen über Traumsymbole "erstens einen Phallos oder Griffel" zu
haben und "zweitens Holz, Papier, Buch" zu sein erlaubt, sind
Frauen im Plural nicht mehr vom Wissen ausgeschlossen und hindert
sie "nichts mehr am Schreiben".(359)
Wenn beide Geschlechter auf beiden Seiten der
Differenz stehen, sind sie endlich reif für ein Schreibzeug, das
ohne Subjekt und Griffel auskommt.
Es sind aber Maschinen, die "den polaren
Geschlechtsunterschied mitsamt seinen Symbolen" "liquidieren" und
neben Freud eröffnet die Remington Frauen den Einzug in die
Schreibstuben.
Ein Schreibzug, das in keiner Weise mehr
Liebesvereinigungen zwischen Schrift und Stimme, Anselmus und
Serpentina, Geist und Natur vorspielt, kommt für koedukatorische
Praktiken wie gerufen. Die Schreibmaschine führt (und solche
Kleinigkeiten übersieht Foucaults Ordnung der Dinge) »eine
ganz neue Ordnung der Dinge herauf«.(79)
Das bezeugt ausführlicher Bram Stokers
Dracula von 1897. Im einzelnen S.362 ff, im
Allgemeinen:
Im Aufschreibesystem von 1900 heißt die
Alternative nicht mehr Mutterschaft oder Hysterie, sondern Maschine
oder Zerstörung. Mina Harker tippt, Lucy Westenras zweite
Persönlichkeit ist Wille vom Willen eines despotischen
Signifikanten. Da eine Desexualisierung, die Textverarbeitung noch
der intimsten Tagebücher und perversesten Sexualitäten erlaubt,
dort die Wahrheit.(363/64)
Dem despotischen Grafen/Signifikanten ist "ein
ganzer Medienverbund von Psychoanalyse und
Textverarbeitungstechniken" auf den Fersen, und "unter
nachrichtentechnischen Bedingungen zergeht der Despot Alteuropas
zum Grenzwert Brownscher Molekularbewegungen, die ja das Rauschen
auf allen Kanälen sind" - was im Roman schlicht heißt, daß er sich
in Staub auflöst. Den Absturz dieses Signifikanten feiernd schreibt
Kittler: "Der große Vogel über Transsylvanien fliegt nicht
mehr."(364) "Im Aufschreibesystem von 1900 - das ist sein offenbare
Geheimnis - gibt es keine sexuelle Beziehung der Geschlechter". Das
zeigen Henry James Diktate in die Remington von Theodora Bosanquet.
Nach einem Schlaganfall raubt ein Blutgerinnsel im Hirn "James zwar
nicht die klare Diktion, aber alle verabredeten Bedeutungen.
Lähmung und Asymbolie kennen nur noch Reales. Und dies Reale ist
eine Maschine."
Die Remington samt ihrem Medium [die Sekretärin]
wird ans Sterbebett beordert, um drei Diktate eines delirierenden
Hirns aufzunehmen. [...] Nichts ist undenkbarer, aber auch nichts
klarer: eine Maschine registriert sich selbst.(365)
"Der Schriftsteller verlangt nicht nach Theodora
Bosanquet, sondern nach ihrer Schreibmaschine" oder die Maschine
verlangt nach sich selbst: "Und das Damenopfer ist
vollbracht".
Das bezeugt weiterhin Richard A. Bermanns nie
verfilmtes Drehbuch Leier und Schreibmaschine von 1913, aus
dem Kinobuch von Kurt Pinthus.(366 ff) Verfilmt wurde das
Drehbuch aber, so Kittler, im Realen, nämlich in der
Liebesgeschichte des Schriftstellers Kafkas und der
Schreibmaschinistin Felice Bauer von der Parlographen- und
Diktiergerätfirma Carl Lindström A.G (369 ff) - eine dreieinhalb
Seiten lange Analyse, die inzwischen in der Kafkaforschung nicht
mehr unzitiert bleiben kann. In dieser Liebe darf, da
"Schrifsteller im Aufschreibesystem von 1900 selber der Abfall
sind, den sie aufschreiben", "über das Schreiben hinaus auch gar
nichts laufen".(372)
Im Briefwechsel Kafka-Bauer gibt es von beiden
Seiten her keine Möglichkeit, mit Wörtern Seelen zu erreichen. Auf
der einen Seite verhält ein Schreiben, daß die Stelle von Irrsinn
einnimmt und nicht aufhört, seine Nichtigkeit nicht aufzulösen. Auf
der anderen beginnt eine Textverarbeitung, die nicht minder
verschwindend und nurmehr Medium unter Medien ist.(372)
Die "Medienverbund-Amateure Rilke [372 f] und
Kafka [formulieren] ihr Damenopfer noch höflich: Mit sanften
Abgrenzungen und Liebesbriefen [...]. Expressionisten sind da
gröber"(372) und machen damit klar, "daß die Auflösung der Funktion
Autorschaft den Büchern alle Liebe austreibt [...]." Eine
nachträgliche Bestätigung ihrer Programmatik kommt dann aus den
Federn von Benn und Valéry. Benn sucht sich eine »Pallas, nie
beirrt, immer im Helm, nie befruchtet, schmale kinderlose Göttin,
vom Vater geboren ohne das Geschlecht« (zit 373). Eine Literatur
kommt also aus diesen Federn, "die Frauen nur arrangiert und Die
Frau oder Mutter gar verhöhnt", und eine Pallas als Schutzgöttin
ist notwendig, um Abfall auf den Schreibtischen von
"differenzierte[n] Junggesellen" oder "Junggesellenmaschinen" in
Kunst verzaubert. So kehrt Kittler kehrt zu seinem Anfang, zu
(Mon) Faust zurück, diesmal von Valéry, um an ihm die
"systematische Verkehrung aller klassischen Schreibpraktiken"(375)
zu zeigen. Demoiselle Lust aus dem ersten Teil des Dramenfragments,
deren Ohr "in phonographischer Treue Diktat aufzunehmen" und
wiederzugeben hat, bringt als "eine zweite Pallas" "Ordnung ins
kombinatorische Chaos des letzten Faust" und räumt mit
phonographischer Treue "die konstitutiven Verdrängungen von
Diskursen weg"(376). "So zersetzt die pure Gegenwart einer
Sekretärin das eine Menschengeschlecht und nur zwei getrennte
Geschlechter übrig zu lassen. [...] Frauen im Plural machen
Gretchenaffären (wie Faust den Teufel aufklärt) schlicht unmöglich.
Und weil unter hochtechnischen Bedingungen Diskurse nebensächlich
sind, muß nicht einmal mehr ausgesprochen werden, was an die Stelle
von Liebe und Seufzern getreten ist. Signifikanten sind
unzweideutig und dumm. Die lacht, heißt Lust."(377)