Friedrich A. Kittler. Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985 — II 1900 (181 ff.).

Dem Vorspiel des Aufschreibesystems um 1800, der Gelehrtentragödie Fausts, entspricht hier Nietzsche. Incipit tragoedia.(183 ff). Beginnen tut hier aber mit "den Sommern von Sils-Maria" das Ende des Diskursverbundes 'Deutsche Dichtung', die "an der Kernfamilie ihre Produktionsinstanz, an den Gebildeten ihre Multiplikatoren und an einer Wissenschaft, die den Titel Der Wissenschaft beanspruchte, ihre Rechtfertigung gehabt" hat.(183)
Wenn die eine Mutter von pluralen Frauen, der fleischgewordene Alphabetismus von technischen Medien und die Philosophie von psychophysischen oder -analytischen Sprachzerlegungen abgelöst wird, zergeht auch die Dichtung. An ihre Stelle tritt, deutsch oder nicht, eine Artistik in der ganzen Spannweite dieses Nietzschewortes: vom Buchstabenzauber bis zum Medienhistrionismus.
Es ist ein Fluch Zarathustras - und keine "Weltkriegswinter" -, mit dem Nietzsche "das Aufschreibesystem von 1800 in seiner technisch-materiellen Basis [trifft] : als allgemeine Alphabetisierung".(184) Nietzsches gnadenlose Analyse des klassischen Bildungssystems trägt "mit Ausnahme der Funktion Leserin [...] alle Regelschleifen des klassischen Aufschreibesystems zusammen" und es erscheint als
eine einzige Maschinerie zu dem einzigen Zweck, diskursive Effekte zu neutralisieren und auf den Trümmern der Wörter »unsere absurde Erzieher-Welt« aufzubauen, »der der 'brauchbare Staatsdiener' als regulierendes Schema vorschwebt«.(185)
Der "einsame Rufer Nietzsche" entdeckt "die materiale Basis von literarischem Wirken überhaupt und seines eigenen insbesondere"(186). Ein unbekanntes Fragment - Euphorion (187 f) - zeigt den jungen Nietzsche wieder in Fausts Studierstube. Aber keine Bibel steht zur Eindeutschung an, keine Stimme zur Niederschrift.
Der einsame Schreiber ist Schreiber und sonst nichts: kein Übersetzer, kein Abschreiber, kein Interpret. Kahl und dürftig kehrt das Federkatzen eine nie beschriebene Funktion heraus: Schreiben in seiner Materialität.(187)
So streift Nietzsche "einen Nullpunkt, von dem aus Literatur um 1900 notwendig und möglich wird"(188) und diesen "Nullpunkt von Literatur definiert ein unartikulierter Ton"(189). Er ist "keine Rede erstanfänglicher Artikulation, sondern überhaupt keine."
Kein Diskurs vermag etwas gegen ihn, weil alle Diskurse ihm zurechnen und anheimfallen. Diesseits von Lauten und Worten, diesseits aller Organismen taucht das weiße rauschen auf, dieser unaufhörliche unauffhebbare Hintergrund von Information. Denn Rauschen emittieren die Kanäle selber, die jede Nachricht durchlaufen muß.
Diese Botschaft vom Rauschen der Kanäle, in dem Kittler Mutter- und Mädchenstimmen, Poeten und Individualitäten, Fausti, Heinrichs und Anselmi, Werke und Leserinnen thermodynamisch verheizt, verkündet, daß "Schreiben, das weder im Geschriebenen noch im Schreiber Rechtsgründe findet, [...] seine Botschaft einzig am Medium [hat], das es ist."(191) Tritt zu Nietzsche Mallarmé, so stehen "ein Professor, der keiner mehr ist, und ein Erziehungsbeamter, der keiner mehr sein will [...] an der Schwelle eines neuen Aufschreibesystems", in dem "die Verwechslung von Worten und Ideen, wie sie eine ganze Klassik getragen hat" nicht mehr läuft. Dann aber kann das Aufschreibesystem von 1900 "nach alledem" nicht auf den "drei Funktionen Produktion, Distribution, Konsumtion"(192) aufbauen. "So historisch variabel sind Diskursivitäten, daß auch elementare und scheinbar universale Konzepte in bestimmten Systemen ausfallen".
Es gibt um 1900 keine Diskursproduktionsinstanz, die den unartikulierten Anfang von Artikulation macht. Es gibt nur ein unmenschliches Rauschen als das Andere aller Zeichen und Schriften. Es gibt keine Distribution, die Sprache als bloßen Kanal benutzt und darum immer schon weitere Schreiber und Leserinnen anwirbt. Wie jedes Medium ist der Diskurs ein irreduzibles Faktum, das nicht in philsophischen Bedeutungen und psychologischen Effekten aufgeht. Deshalb erlaubt er drittens auch keine Konsumtion, die Reden wieder in den Ursprung rückübersetzt.(192)
Das aber ist "ein ziemlich ungeschriebenes Kapitel Literaturwissenschaft", das "in seiner technischen und institutionellen Breite zu beschreiben sind [wird]".
Für die Sprachtheorie von Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ist Sprache nicht mehr "Übersetzung vorsprachlicher Bedeutungen, sondern ein Medium unter Medien". "Medien aber gibt es nur als willkürliche Selektionen aus einem Rauschen, das sie alle dementiert." Wenn es aber keine Natur der Sprache gibt, - so übersetzt Kittler ein Zitat aus Wahrheit und Lüge... - "tritt eine andere und physiologische Natur erst hervor. Wie Nietzsches Ästhetik geht auch seine Sprachtheorie von Nervenreizen aus. Optische und akustische Reizreaktionen, Bilder und Laute erzeugen die Sprache in ihren zwei Seiten, als Signifikat und Signifikant. Nur bleiben sie dabei voneinander genauso getrennt wie von der puren Stochastik auf die sie reagieren."(193)
Den Bruch zwischen bildlichem Signifikat und lautlichem Signifikanten kann kein kontinuierliches Übersetzen, sondern nur die Metapher oder Transposition überspringen. Auf dem Hintergrund eines allgegenwärtigen Rauschens gehen einzelne Sinnesmedien in Differenz zueinander - als »ganz andre und neue Sphären«. Statt Medien auf eine gemeinsame Wurzel vom Typ poetischer Einbildungskraft zurückzuführen, trennt Nietzsce Optik und Akustik wie »Schauwelt« und »Hörwelt«. Jedes der zwei Medien wiederholt noch einmal ihrer aller Bezug auf einen Ursprung, der als Zufallsgenerator keiner ist.(193)
Nietzsches Schauwelt "entsteht im Auge selber" als "entoptische Vision"(194). Also beschreibt "Nietzsches Apollinisches [...] das technische Medium Film", wie die Brüder Lumière es am 28. Dezember 1895 öffentlich machen werden."
Apollinisches und Kino, beide basieren sie auf angewandter Physiologie: den entoptischen Nachbildern bzw. der gleichfalls von Nachbildern und Stroboskopeffekten bewirkten Illusion, diskrete Bilder von zureichender hoher Frequenz seien ein Kontinuum.(194)
In der Hörwelt ihrerseits triumphieren "Klänge und Farben über Formen und Moralen". Sie ist "ihrem unmenschlichen Hintergrund nahe, der auf den Götternamen Dionysos hört", und es erklingt: "Sound". "Eine Musik, deren Sound noch vor der Wüste recht behält, und ein Drama, das Film avant la lettre ist, sprengen durch physiologische Effekte die Schranken europäischer Kunst. Sie werden zu Medien."(194/95)
Aber Nietzsche ist kein "heroischer Vorläufer" von Medien wie Wagner (195), sondern "Worte-macher", und denen bleibt "nur der paradoxe Wunsch, das Medium allgemeiner Bildung in und kraft seiner eigenen Struktur zu sprengen". So entwickelt er eine "Signifikantenlogik", die seit ihm "Technik der Verknappung und Vereinzelung" ist.
Nur ein Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen kann ja das Maximum ihrer Energie freisetzen. An solche Kalküls reichten hermeneutische Stellenwerttheorien einfach nicht heran. Sie kannten nur organische Verhältnisse und zu ihrer Darstellung ein kontinuierliches, also psychologisches oder historsches Erzählen. Stellenwerte von Signifikanten dagegen sind mathematisch anzugeben; ihre Artikulation heißt Zählen.(196)
Philologie im vorfaustischen Sinne von Bücherkram zu betreiben heißt also zeugleich der "erste[n] und elementare[n] Notwendigkeit" des "Medienzeitalters" zu folgen: Wörter zählen. So bereitet Nietzsche "die Herrschaft des rätselhaften Buchstabens im Aufschreibesystem von 1900 vor". Und da "Topologie und Ökonomie von Signifikanten [...] eine Sache eher von Ingenieuren als Renaissancephilologen" sind, können auch expressionistische Dichter wie August Stramm zugleich Postinspektoren sein, nämlich "Telegrammstil als Literatur" produzieren, und zugleich über postalische Gebührenfragen des Weltpostvereins, also über Diskursökonomie promovieren.(197) Für Nietsche aber dient solche Diskursökonomie der "Selbststeigerung von Herrschaftgebilden, wie sie unter Bedingungen standardisierte und massenproduzierter Nachrichten ja auch immer nötiger wird".
Nur ein Minimax an Zeichenenergie entgeht dem Los unabzählbarer Datenmengen, wie im inneren Bürgerkrieg Nietzsches einander auszulöschen.(197)
Und das will Kittler mit Stramms Dissertation und Nietzsches Philosophie sagen: Was einer schreibt um schreibend weiteres Schreiben zu stimulieren, geht unter in dem, was daraus folgt: "nichts als Rauschen". Dagegen ist "Zeichenökonomie" - oder ihre informationstheoretische Offenbarung als Ökonomie von Aufschreibesystemen - zur Durchsetzung von Büchern oder "Herrschaftsgebilden" strategisch notwendig.
Hier wird eine Signifikantenmaschine (system)notwendig, und so ist die Augenkrankheit Nietzsches ein "physiologischer Glücksfall"(197). »Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: Ich war vom 'Buch' erlöst, ich las jahrelang Nichts mehr«, schreibt er (zit. 197). Sein »unterstes Selbst«, das frei vom Zwang des »beständigen Hören-Müssens auf andre Selbste« (zit 197) selbst zu reden anfängt, ist für Kittler "physiologisch" und von keinem Wort erreichbar. Der Glücksfall Krankheit [bewirkt] nur, was Signifikanten überhaupt auszeichnet. Zeichen, um Zeichen zu sein, stehen notwendig vor einem Hintergrund, den kein Speicher speichern kann. Es ist im Fall von Lettern das leere weiße Papier und im andern Fall, der Schrift nur spiegelverkehrt transponiert, der leere schwarze Himmel.(198)
Oder knapper: "die Materialität von Signifikanten ruht einem Chaos auf, das sie differenziell definiert." Und zwischen Augenkrankheit und "Logik von Chaos und Intervallen" tritt eine "Technologie, die das Aufschreibesystem von 1900 auch implementiert": die Schreibmaschine. Denn Nietzsche schafft sich eine, ein Modell "Malling Hansen" an.( Einzelheiten 199 ff). Auch das ist "eine Zäsur in den Aufschreibesystemen".(199)
"Räumlich bezeichnete und diskrete Zeichen - das ist über alle Temposteigerung hinaus die Innovation der Schreibmaschine [...]. Den Signifikanten definieren eben einzigartige Beziehungen zum Ort: Anders als alles Reale kann er nach Lacan an seinem Ort sein und auch nicht sein."(200) Mit der Schreibmaschine hört Schreiben auf, "handschriftlich-kontinuierlicher Übergang von Natur zu Kultur zu sein. Es wird Selektion aus einem Vorrat, der abzählbar und verräumlicht ist."
Nicht umsonst wurden die ersten Schreibmaschinen für Blinde (und einige auch von Blinden, 199 f) gebaut. "Während Handschriften dem Auge, einem gewaltlosen Fernsinn unterstehen, praktiziert sie ein blinde und taktile Gewalt." Vor Underwoods »Sichtschriftmaschine« (1898) schrieben sämtliche Schreibmaschinen unsichtbare Zeichen. Aber auch bei der Sichtschriftmaschine - so das "Ingenieurswissen" eines Zeitgenossen (201 ff) - verdeckt der Typenhebel beim Auftreffen auf dem Papier gerade die Stelle, die beschrieben wird, und trennt damit "die Kopplung von Hand, Auge, Letter just für den Moment auf, der in der Goethezeit bestimmend war. So massiv fällt der Beweis aus, daß nicht jedes Aufschreibesystem eine ursprüngliche Zeichenproduktion kennt."(202)
Um 1900 laufen mehrere Blindheiten - des Schreibers, des Schreibens, der Schrift - zur Garantie einer elementaren Blindheit zusammen: des blinden Flecks Schreibakt. Anstelle der Spiele zwischen zeichensetzendem Menschen und Schreibfläche, Philosophengriffel und Naturtafel tritt das Spiel zwischen der Type und ihrem Anderen, ganz abgelöst von Subjekten. Sein Name ist Einschreibung.(202)
"»Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«, heißt es in einem Maschinenbrief Nietzsches", und in der Genealogie der Moral schreibt er, statt auf seiner Maschine zu schreiben, über (Ein)Schreibmaschinen.
»Vielleicht ist nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als sein Mnemotechnik. 'Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss'«.(zit 202)
Kittler folgert: "Der Signifikant, aufgrund seiner einzigartigen Beziehung zum Ort, wird Einschreibung am Körper. Verstehen und Auslegen scheitern an einer unbewußten Schrift, deren Entzifferung die Beschrifteten nicht leisten, sondern sind. Denn die mnemotechnische Einschreibung bleibt (ganz wie die maschinelle) im entscheidenden Moment unsichtbar." So versammelt die Genealogie der Moral "ein ganzes Arsenal von Martern, Opfern, Verstümmelungen, Pfändern und Bräuchen, denen Leute, sehr taktil, ihre Gedächtnisse verdanken".(202) Solche Schrift ist
das ganze Gegenteil des fleischgewordenen Alphabetismus. Sie gehorcht keiner Stimme und verbeitet darum auch den Sprung zu Signifikaten. Sie macht den Übergang von Natur zu Kultur nicht als Kontinuum, sondern im Choc von Ereignissen. [...] Der Signifikant, aufgrund seiner einzigartigen Beziehung zum Ort, wird Einschreibung am Körper [...].(202)
Deshalb ist "Dionysos (wie ein paar Jahre später Dracula) [...] ein Schreibmaschinenmythos"(203). In dem in der Genealogie beschriebenen »Schauspiel zur Klage der Ariadne« ist das "Ende aller Frauenklagen" zu finden, wenn Ariadne in ihr kleines Ohr - phono- oder pornographisch? -"das kluge Wort" des Dionysos/Nietzsche "hineinsteckt" und in einer "mit dem Hammer" gedichteten "Folterszene" "anstelle von Elegie, Monolog und Epiphanie sehr plötzlich und technisch ein Diktat statt[findet]".(205, im Einzelnen 203 ff)
Das Ende aller Frauenklagen basiert auf dem historischen Faktum, daß Schrift, statt weiter Übersetzung aus einem Muttermund zu sein, zum irreduziblen Medium unter Medien, zur Schreibmaschine geworden ist. Diese Desexualisierung erlaubt es, Frauen zum Schreiben zuzulassen. Buchstäblich und übertragen gilt vom Aufschreibsystem 1900 der Satze, daß »die Schreibmaschine dem weiblichen Geschlecht den Einzug in die Schreibstuben geöffnet hat«. Nietsches Ariadne ist kein Mythus.(205)
Folgen auf Die Frau und bloße Leserinnen neue Frauen (205 ff): "Frauen um 1900 sind nicht mehr nur Die Frau, die Männer reden macht, ohne selber zu schreiben, und auch nicht mehr nur Konsumentinnen, die bestenfalls Lesefrüchte aufschreiben. Eine neuerliche Klugheit erteilt ihnen das Wort, und sei's zum Diktat von Herrndiskursen."(206)
Das ist aber eine der "diskursive[n] Innovation[n]", die der Mann "immer als erster" nutzt. Sehr "genau nimmt Nietzsche die "negative Lektion Schulpfortas, wo Schüler ja alles kennenlernen durften außer Frauen". "Seine »Philosophie«, eben darum in Anführungszeichen gesetzt, kehrt den universitären Diskurs um. Aus der Ausschließung des anderen Geschlechts wird um 1900 eine Einschließung." Die Regeln am Ursprung aller Diskurse hat ausgespielt. »Frauenzimmer«, wie Nietzsche sie nennt
sind weder Eine noch alle, sondern, wie Signifikanten auch eine gezählte Vielheit, mit Leporello also mill'e tre. Demgemäß wird ihre Beziehung zu Nietzsches »Philosophie« durch Selektion geregelt(207),
und im "Geschlechterkrieg ist jedes Mittel recht, um Frauen [...] aus einer offenen Menge zu selektieren." Daß "jener Phallos, den Nietzsche zum dionysischen Folterwerkzeug verklärt", dabei einiges durchmacht, beschäftigt Kittler 209 ff.
1. Das große Lalulâ. (211 ff).
Das Kapitel beginnt mit seiner Zusammenfassung: "Im Aufschreibsystem 1900 sind Diskurse Outputs von Zufallsgeneratoren. Die Konstruktion solcher Rauschquellen fällt einer Psychophysik zu, ihre Speicherung den neuen technischen Medien." (211) Die Psychophysik (211 ff) stellt Kittler mit der Arbeit des Breslauer Psychologieprofessors Hermann Ebbinghaus Über das Gedächtniss (1885) vor. Ebbinghaus' Selbstversuch einer "Gedächtnisquantifizierung" und Nietzsches Beschreibung von Mnemotechnik als körperliche Einbrenntechnik sieht Kittler als "Paradigmenwechsel"(212)
Wenn Nietzsche noch das spirituellste Gedächtnis auf Körper und deren Qual zurückführt, so geht die Psychophysik dasselbe Rätsel mathematisch und nach Methoden an, die Helmholtz und Fechner zur Messung der Sinneswahrnehmung entwickelt haben. Ein Paradigmenwechsel hat statt: nicht mehr Erinnerung und Gedächtnis, sondern Vergessen setzen Nietzsche und Ebbinghaus voraus, um auch das Medium Seele vor den Hintergrund einer Leere oder Erosion zu stellen. Erst ein Nullwert macht Gedächtnisleistungen quantifizierbar. [...] Dort Nietsches delirantes Glück, noch sein Vergessen zu vergessen, hier ein Psychologe, der alle Psychologie vergißt, um ihre algebraische Formel zu schmieden. Es ist das Verhältnis zwischen Diskurs des Herrn und universitärem Diskurs, nietzscheanischem Befehl und technischer Ausführung.(212)
Ebbinghaus aber tut folgendes: er liest jahrelang mit lauter Stimme im Takt eines Zeitgebers "Reihe um Reihe sinnloser Silben durch, bis er sie zum erstenmal auswendig aufsagen kann". So werden Gedächtnisleistungen meßbar. Dabei werden alle kulturellen Gedächtnishilfen ausgeschaltet, d.h. "Sprache gerät in einen artifiziellen Rohzustand" (213). "Zur Isolation des Gedächtnisses von allen anderen Kulturtechniken scheiden Signifikate, weil sie Hermeneutik provozieren würden, von vornherein aus." Kittler nennt das "Institution von Gedankenflucht".
So kommt die große Lehre ins Wanken, die dem Aufschreibesystem von 1800 seine reformierten Fibeln beschert hat: daß Signifikate kraft ihrer Seeleninwendigkeit unvergleichlich schneller als auswendige Signifikanten zum Leser finden.(214)
Hier aber treten "Spezifizitäten des Merkens zutage, die keine Hermeneutik nur ahnen kann" und am Horizonts des Tests, "der Ebbinghaus nichts mehr angeht, wohl aber alsbald Freud und die Schriftsteller, "steht also eine Differnzialität vor jeder Bedeutung: die nackte und rohe Existenz von Signifikanten". Das "Reich der Bedeutungen und d.h. das gesamte Aufschreibesystem von 1800 [sinkt] zum zweitrangigen Sonderfall ab"(214).
Das Testmaterial aber wird "auf strikt statistische Gegebenheiten" gebracht, d.h. durch "exhaustive Kombination" von Vokalen und Konsonanten erzeugt, um weiterhin permutiert zu werden.(214) "Permutationen von Permutationen aber schneiden jeden Naturbezug ab" und Medien im modernen Sinn konstituieren sich hier als:
vom Zufallsgenerator ausgeworfene Materialmengen, deren Selektion dann einzelne Komplexe bildet. Daß diese Mengen immer schon diskrete Elemente verknüpfen, statt in kontinuierlicher Genese aus einer unartikulierten Natur zu werwachsen, trennt sie von Minimalsignifikaten.(215/16)(55)
Der vom Aufschreibsystem 1800 begrüßte Sinneffekt wird hier zur Störung. Denken und Meinen - "genau die imgainären Akte, deren Philosophie um 1800 zum Primat des Gesprochenen geführt hat" - werden ausgeschaltet und "aus einem Sprachmaterial, das Zufallsgesetze generieren, verschwindet mit den Gedanken auch die Mündlichkeit".(216)
Gedächtnistests, bei denen die notwendig gedankenlose Versuchsperson ihr Erkenntnissubjekt opfert, haben demnach auf der anderen Seite einen ebenso subjektlosen Versuchsleiter. [...] Die zwei zusammengeschalteten Maschinengedächtnisse vor und hinter der tabula rasa Ebbinghaus bilden eine Schreibmaschine, die nichts vergißt und mehr an Unsinn speichert, als Leute je behalten könnten : 2299 Unsinnssilben. Genau das ist aber die Bedingung, um Gedächtnis psychophysisch erforschbar zu machen. Es wird den Leuten abgenommen und an ein materielles Aufschreibesystem delegiert. Wenn das Aufschreibesystem von 1800 das Spiel gespielt hat, keins zu sein, sondern Inwendigkeit und Stimme Des Menschen, so kommt um 1900 ein Schrift zur Macht, die nicht einfach in überkommenen Schriftsystemen aufgeht, sondern aus der Technologie von Schrift überhaupt alle Konsequenzen zieht.(216)
Nun kommt von Morgenstern "Das grosse Lalulâ" (zitiert 217), um in radikalster Konsequenz aus dem Aufschreibesystem Schrift dieses selbst aufzuschreiben, d.h. "um ein für allemal zu demonstrieren, was Medien sind"(217). "Auch Das große Lalulâ ist Material ohne Autor", und Literatur um 1900 "wirft [...] Signifikanten aus. Großes Lalulâ besagt, daß Sprache am Anfang und Ende Blabla ist."(218)
Die Psychophysik macht Schluß damit, "Kulturtechniken einer Dichotomie des Normalen und Pathologischen, des Entwickelten und Zurückgebliebenen zu unterwerfen. Sie erforscht Fähigkeiten, die unter Alltagsbedingungen überflüssig oder krankhaft oder obsolet heißen müssen" und "alle um 1800 verpönten Fertigkeiten oder Unfertigkeiten kehren also wieder, aber nicht als simple Rückfälle hinter die einstige Bildung, sondern zu ihrer Analyse und d.h. Zersetzung".(220) So repräsentieren "die kulturtechnischen Standards [...] nicht Den Menschen und seine Norm".
Sie artikulieren oder zerlegen Körper, die schon zerstückelt sind. Vor allen anderen Experimentatoren schlägt die Natur zu. Apoplexien, Kopfschußwunden und Paralysen haben die grundlegende Entdeckung ermöglicht, auf die jede Zuordnung von Kulturtechniken und Physiologie zurückgeht.(220)
"Die Methode, Kulturtechniken gerade an Defiziten isolierbart und meßbar zu machen, führt schließlich zur Zerfällung des Diskurses in lauter einzelne Parameter.": sensorische und motorische Aphasien und Alexien oder Agraphien, schriftliche oder mündliche Asymbolien. "Was im Alltag einfach Sprache heißt, ist also eine komplexe Verschaltung von Hirnzentren über nicht minder zahlreiche, direkte oder indirekte Nervenbahnen."(221)
Physiologie und Literatur aber sind "bis in Einzelheiten [...] solidarisch". Das wird an Gedichten von Kandinsky und an von Hofmannstahls Ein Brief demonstrierbar (222), denn "um 1900 rauscht es allenthalben" und die Psychophysik "stößt hinter aller Sinnstiftung und ihrer durchsichtigen Willkür auf den sinnlosen Körper, der eine Maschine unter Maschinen ist"(225). So kommt bei Liliencron kein Autor, sondern "die Eisenbahn selber [...] zu Wort" (226) und George zeigt, wo die Psychophysik ihr eigentliches Material findet: in einem Inferno, wo die Verdammten mit Unsinnsilben aus dem "Zufallsgenerator einer Hölle" (226) oder »Schlag- und Stichworte[n]« (Nietzsche) gefoltert werden. So handgreiflich geht es in diesem Inferno zu:
Zerhackung und Iteration führen Diskurse auf diskrete Einheiten zurück, die als Zeichenvorrat oder Tastatur unmittelbar Körper affizieren. Statt wie die Lautiermethode Gesichtssprache in Gehörsprache zu übersetzen und Reden die schöne Innerlichkeit von Musik einzuhauchen, tut Psychophysik ihnen die Handgreiflichkeit Verräumlichung an. Lokalisierung lautet das Stichwort aller Aphasieforschung, Buchstabieren der belauschte Psychiaterbefehl.(227)
Darum ist es für Kittler "nur konsequent", daß auch Lesen und Schreiben von der Psychophysik untersucht wird. (Techniken und Apparate - Kymographen, Tachistokope, Horopteroskope u. Chronographen - im Einzelnen 227 ff) Hier erscheint "eine von allen anderen Diskurstechniken entkoppelte Schrift". Sie "beruht nicht mehr im Individuum, das ihr durch Bindungsbögen und expressiven Federdruck seine Kohärenz einflößen oder ablernen konnte; sie haust in einem Apparat, der Individuen zu Testzweken zerhackt. Was Tachistokope messen, sind Automatismen, keine synthetischen Urteile. Eben darum kommt es zur Ehrenrettung des verpönten Buchstabens."(228) So kommen Funktionen zutage, "die den Individuen und Bewußtseinen so fremd sind wie am Ende Schrift überhaupt"(229) und der Eine Mensch, aus der biologischen in die "Zeit der Apparate" gesetzt, zerfällt "in Illusionen einerseits, die ihm bewußte Fähigkeiten und Fazilitäten vorgaukeln, und andererseits in [...] unbewußte Automatismen". Diese maschinelle Einschreibhölle nennt Kittler - was für eine Theologie? -"Diesseits".
Diesseits der Illusionen Mensch und Welt bleibt an Realem einzig eine Kontaktfläche oder Haut, wo etwas auf etwas schreibt.(230)
Rezeptionsästhetische Effekte solcher Einschreibungen plant "eine Literatur, die, statt von »unsinnlichen Freuden zu stammeln«, »Nerven« in bestimmte »Stimmungen zwingen will«." Hermann Bahr und Arno Holz zitierend beweist Kittler, wie anders "um 1900 Rezeptionsästhetik geworden [ist]: An Stelle von Kommunikation, deren Mythos zwei Seelen oder Bewußtseine voraussetzt, treten Zahlenverhältnisse zwischen Schriftmaterialität und Sinnesphysiologie." Zahlen aber, daran hat Kittler schon vorher mit Lacan erinnert "sind die einzige Information, die über alle Köpfe hinweg, die irren und die professoralen, in Geltung bleibt, als Einschreibung ins Reale".(211)
Es folgt der Bericht von dem "höchsten Triumph", den "die Bewegungen der Materie auf dem Feld des Schreibens" feiern.(231) Am Harvard Laboratorium des deutschen Psychologen und Psychotechnik-Erfinders Münsterberg entsteht "profane écriture automatique" aus Forschungsarbeiten von Leon Solomons und Gertrude Stein.(232 ff) Die Versuchsanordnung pervertierte die Schreibszene des Anselmus "durch täuschende Nähe".(56) Aber alle Positionen der Geschlechter sind "gegenüber dem Aufschreibsystem von 1800" vertauscht. Im Résumée:
An den Ort des imaginären Muttermundes, der Männern Innerlichkeit einhauchte, tritt ein Mann, sehr faktisch diktieren, an den komplementären Ort des unbewußten Autors eine von vielen Frauen, die studiert genug sind, um Diktat aufzunehmen - Ariadne, Frau Röder-Wiederhold, Resa von Schirnhofer, Gertrude Stein und wie sie alle heißen. Daß einige von ihnen zu Schriftstellerinnen werden liegt schon in der Logik des Experiments.(233)
Diese Logik besteht aber darin, Hysterie experimentell zu simulieren, um sie "zum ganz normalen motorischen Automatismus" aufzurücken zu lassen. Es ist "der höchste Triumph von Psychotechnik, aus der écriture automatique eine spontane zu machen" und das heißt, "der Stein" in der "methodischen Isolation ihre Labors" alle "klassischen Bestimmungen des Weibes abgeschnitten" und sie somit desexualisiert zu haben.(234) Dieser Schnitt macht aus "Der Frau" "die Stein" - "und wie sie alle heißen": Sekretärin Des Diskurses, der sich durch sie selbst aufschreibt, also Medium, das seine Botschaft ist, oder das Fatum, das spricht, wenn Es spricht, oder G.Stein als "Herrin des Orakels" und "Kassandra".
Der Diskurs wird unentrinnbar im Maß seiner Leere. Nicht von Gedanken und Innerlichkeiten, von Meinen und Verstehen ist die Rede des Spontanschreibens, sie ist es es einzig von Reden und Zungenfertigkeiten. [...] So folgenreich tritt Psychophysik an die Stelle okkulter Medien (lies: Frauen).
"Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" schrieb "Kassandra" und Kittler schreibt "Ein Medium ist ein Medium ist ein Medien".
Das Wort sagt es schon: zwischen Okkulten und technischen Medien besteht kein Unterscheid. Ihre Wahrheit ist die Fatalität, ihr Feld das Unbewußte. Und weil Unbewußtes den Glauben, der eine Illusion ist, nie findet, bleibt nur, es zu speichern.(235)
"Technische Medien" heißt also das Kapitel. Die "Zufallsgeneratoren" der psychophysischen Experimente werfen "Diskurse ohne Sinn noch Gedanken" aus, für den "übliche[n] Sprachverwendungszweck - sogenannte Kommunikation mit anderen" unverwendbar. Was sie produzieren, kann nur schnellstens an verstehenden Augen und Ohren vorbei in Datenspeicher überführt werden."
Also muß die Psychophysik, um überhaupt etwas zu behalten, mit den neuen Medien verschaltet werden, die um 1900 alle Optik und Akustik revolutioniert haben. Es sind, wie man weiß, Edisons zwei große Entwicklungen Film und Grammophon.(235)
Lumières Kinematograph ist diktiert "von der technisch-industriellen Notwendigkeit, das träge Menschenauge im Einzelbilderfassungstempo zu überbieten. Seiner Entwicklung standen Muybridges Reihenphotographien, Mareys/Demenys photographische Flinte und Ernemanns Zeitlupe Pate. Aber auch das Grammophon wäre "vor der mathematischen Schwingungsanalyse eines Fourier und der physiologischen Akustik eines Helmholtz [...] unerfindlich gewesen."(235)
Die technische Simulation optischer und akustischer Abläufe setzt jeweils Analysen voraus, die nur in der Zeit der Apparate möglich werden.(235)
So verschiebt um 1900 "die technische Aufzeichenbarkeit von Sinnesdaten [...] das gesamte Aufschreibsystem".
Zum wahrhaft ersten Mal hört Schreiben auf, mit serieller Datenspeicherung synonym zu sein. Zur symbolischen Fixierung von Symbolischem tritt die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz.(235)
Hier ist Villiers de l'Isle-Adam mit seiner Eve future zur Hand um "Lessings Laokoon auf den Stand von 1886 zu bringen.(57)
Dem Buchglauben blieb es im Namen seines Herrn untersagt, an Wort und Schrift die Äußerlichkeit und Sinnlichkeit zu feiern. Das ihm eingeräumte Medium Buchdruck machte es möglich, Zeichen auf Sinn, dieses »Jenseits« der Sinne hin zu überspringen. Erst unterm Gegenbefehl »Hört die heiligen Schwingungen!« verliert die symbolische Fixierung von Symbolischen ihr Monopol. Schwingungen, auch in Gottes Stimme, sind Frequenzen weit unter der Wahrnehmungs- und Notationsschwelle von Einzelbewegungen. Weder Bibel noch Fibel können sie aufschreiben.(236)
Und an Salomon Friedländers Goethe spricht in den Phonographen wird erwiesen, daß "Ton und Gehalt einer Stimme, die Leserinnen im Imaginären schon lange beglückt hat", es nun auch "im Realen" tun soll.(237)
Die neuen Medien aber setzen "nicht anders als psychophysische Experimente [...] an der Stelle physiologischer Defizite an". "Edinson ist fast taub, während unter den Schreibmaschinenerbauern die Blinden dominieren". Das Kinderlied, das Edinson am 6. Dezember 1877 einer Stanniolwalze aufprägt ist für Kittler Anlaß, festzustellen: "Erst wenn Diskursen die Handgreiflichkeit angetan werden kann, ihr Reales zu speichern, gibt es eine Kindersprache". Der Phonograph Edinsons "fixiert reale Laute, statt sie wie das Alphabet in Phonem-Äquivalente zu übersetzen."(238) Der Phonograph zieht nicht nur in die Labors ein, sondern auch in die Schulen.(58)(239) Dort rehabilitieren Medien "Dialekte überhaupt", denn "entweder gibt es Charaktere, Individuen und die eine Norm [ i.e. Hochsprache] oder aber Grammophonie erhebt alle unsteten, launischen Wendungen der Münder zu Standards".(241) Und man kann es nicht genug wiederholen: "Daß auf einmal rein empirische Phonetik (in sauberer Trennung von Phonologie) möglich wird, lädt eher dazu ein, Reales nach technischen Standards zu speichern als nach Bildungsmaßstäben zu normieren."(239) So wird die Buchsprache zu einem "überhaupt nicht gesprochenen Sonderfall", der "faktisches Reden nur verhindert".
An einem phonographisch gespeicherten Gedicht Ernst Wildenbruchs (zit 241) zeigt sich so eine "Unentrinnbarkeit [...], die mit poetischen Freiheiten aufräumt. Wildenbruch muß in einen schwarzen Schalltrichter sprechen, der statt seiner Wörter und Vorstellungen pure Klänge speichert."(242)
Damit hört die Stimme zwar nicht auf, im Hauch zu entstehen; sie behält ihre für klassisch-romatische Lyrik grundlegende Vibration; aber - und das ist ein Faktum zu empirisch oder trivial für Foucaults großangelegte Diskurshistorie - die Stimme kann nicht mehr reiner poetischer Hauch heißen, der ohne Spur und im Hören schon aufhört. Entrinnendes wird unentrinnbar, Körperloses material.(242)
"Leute" können dort spurensichernd erfaßt werden, wo sie es für undenkbar halten, da der Phonograph Verborgenes zu reden zwingt und Sprechern eine Falle stellt.
Sie sind identifiziert, nicht im Symbolischen, wie durch den Namen, nicht im Imaginären wie durch romantische Held-Leser-Wiedererkennungen, sondern im Realen. Und das ist kein Kinderspiel.(242)
Was aufgezeichnet wird, ist der sprechende Körper. Sein "sound ist ein Komplex physiologischer Daten, die unmöglich zu verschriften und unmöglich zu fälschen sind".
Im Aufschreibesystem von 1900 tun Psychophysik und Medien alles, um das imaginäre Körperbild, das Individuen von ihnen selber haben, auf eine untrügliche Positivität hin zu unterlaufen.(242)
Vor einer Maschine vergehen "den Leuten" die Listen, sich unkenntlich zu machen genauso wie das Lachen. Und diese Maschine bewirkt nicht nur den "Tod des Autors" (243), indem sie "statt ewiger Gedanken und Wortprägungen eine sterbliche Stimme" speichert, sondern allgemeiner den "Tod des Menschen", der mit "Spurensicherung der Körper" eins ist. "Edinsons Stanniolwalzen oder Galtons Fingerabdruckarchive sind planvoll ausgelegte Aufschreibeflächen für Daten, die ohne Maschinen weder zu speichern noch auszuwerten wären". So ist, was der Phonograph des Psychiaters Stransky in einer bestimmten Versuchsanordnung (244 ff) speichert, "blanker Hohn auf alle politischen und pädagogischen Normen, die anders denn in normierter Sprache keinen Tag Bestand hätten"(245). "Kraut und Rüben", der gespeicherte Wortsalat eines Katatonikers, haben somit die Wirkung, "schlechthin effektiv die Mächte, auf denen Bildung seit 1800 beruht" zu zersetzen, und das heißt, daß, "was technische Medien speichern, [...] ihre eigene Opposition gegenüber Staat und Schule" ist.
Leute, die schneller reden sollen, als Denken und d.h. Kontrolle läuft, sagen mit Notwendigkeit der Disziplinarmacht einen Kleinkrieg an. Wer nicht nur vergißt, sondern gut nietzscheanisch auch noch sein Vergessen vergißt, liefert wie Kafkas Betrunkener immer schon die Beschreibung eines Kampfes.(59)(246)
Der Arzt Gottfried Benn beweist nun mit dem Drama Der Vermessungsdirigent, daß eine Transposition des von den Apparaten bewirkten Effekts Gedankenflucht in Literatur zwingend ist. Hier wird vom Sprechen statt vom Handeln gehandelt, und Identität - "dieser erkenntnistheoretische Felsen" - mit bloßer Gleichheit verwechselt(60). Das zeigt, wie "ohne extrakiskursiven Kontext [...] Selbigkeit zum Simulakrum" zergeht und nur noch leere Reden ohne Adresse und Referenz zirkulieren, "bestimmt und gesteuert nur vom Imperativ, Assoziationen überhaupt zu sein".(247) "Das Drama, vormals die Gattung freier Subjekte, wird pathologisch resp. experimentell", "und das alles, weil freie Subjekte nur in Philosophielehrbüchern, Versuchspersonen dagegen im Feld der Psychophysik vorkommen".(248)
Auch das gedankenflüchtige Assoziieren des ersten Novellenhelden Benns, des Dr. med Werff Rönne, ist "lediglich eine weitere Transposition psychophysischer Techniken in Literatur". Dessen Reden wären eher den psychophysisch untersuchten Schülern des Psychiaters Ziehen(61) vertraut als einer Interpretation zugänglich. Sie sind "verbale Vermittlung als Neurose, ohne Grund in einem transzendentalen oder schöpferischen Dichterich; mediale Selektion ohne Referenz auf Reales, diesen unfaßlichen Hintergrund aller Medien."(249) Gedankenflüchtige Assoziationen sind "Sache einer unmöglichen Exhaustion" und Rönne "assoziiert [...] noch die materiale Basis seiner Assoziationen, das Hirn selber herbei".
So hört Sprache auf, Bastion der Innerlichkeit zu sein; dieselbe Geste, die das Umstülpen des eigenen Hirns simuliert, verkehrt auch Sprache in Zufall und Äußerlichkeit. [...] Das Wort, das Menschen als solche erreichte, hat ja auf einer psychischen Ansprechschwelle operiert, die zugleich Diskurs der Natur und Natur des Diskurses hieß. Mit beiden räumt die Psychophysik auf.(250)
Konsequent geht es mit Rönne und blitzhaft erhellendem Zitat ins Kino. Die Novelle mache deutlich, daß hier "Bewegung" gespeichert werden kann "im technisch Realen und nicht mehr nur im Imaginären". Rönnes Ansprechschwelle vor einem Stummfilm fungiert "physiologisch statt psychisch" und der Arzt verfällt einer Asymbolie, die "vor aller Psychiatrie [und mit Guattari, KM] die Struktur von Kino" ist. Das heißt: zwei literarische Filmbeschreibungen - die zweite ist von Sartre (Les Mots) - feiern "das Ende des Buchmonopols"(251).
Das aber ist dann die Funktion des Mediums Film im neuen Aufschreibesystem:
Was Dichtung im Zeitalter der Alphabetisierung versprochen und durch Bibliotheksphantastik auch gewährt hat, der Film transponiert es ins technologisch Reale. [...] Habend sua fata libelli. Es hat Zeiten gegeben, da das Absolute als Bildergalerie des Geistes und d.h. poetisch-philosophischer Schriften bei den Leuten war. Es gibt andere Zeiten, in denen es die Papierstöße verläßt. Kohärenz, Identifikation, Allgemeinheit - alle Ehrentitel, die die allgemeine Alphabetisierung dem Buch eingebracht hat, fallen an Medien bei den Leuten. Denn wie um 1800 die neue und von Gelehrten verschmähte Bibiliotheksphantastik zur Lust von Frauen, Kindern, Ungebildeten geworden ist, so ein Jahrhundert später die von den Bibliotheksphantasten verschmähte Apparatur.(251)
Ingenieure attakieren das Monopol, "das die allgemeine Alphabetisierung, aber auch erst sie dem Buch zugespielt hat: das Monopol auf Speicherung serieller Daten."(252)
Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch Techniken. Das Grammophon entleert die Wörter, indem es ihr Imaginäres (Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) hin unterläuft. [...] Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt.(252)
Dann aber sind im Hinblick auf "Lacans methodische Unterscheidung symbolisch/real/imaginär [...] zwei von drei Funktionen, die Informationssysteme ausmachen, vom Medium Schrift ablösbar geworden".
Was am Sprechen das Reale ist, fällt dem Grammophon zu; was das im Sprechen oder Schreiben produzierte Imaginäre ist, dem Spielfilm. [...] Während also die Plattenrillen Körper und ihre scheußlichen Abfälle speichern, übernehmen die Spielfilme all das Phantastische oder Imaginäre, das ein Jahrhundert lang Dichtung geheißen hat.(252)
Und "kein geringerer als Münsterberg, der Erfinder von Wort und Sache Psychotechnik, liefert 1916 die historisch erste Spielfilmtheorie oder den Nachweis, daß Kinotechniken wie Projektion und Schnitt, Rückblende und Großaufnahme psychische Prozesse wie Halluzination und Assoziation, Erinnerung und Aufmerksamkeit jeweils technisch implementieren, statt diese Prozesse lediglich mit Wörtern (also Theaterstücken oder Romanen) beschreibend anzuregen.(252)
Bleibt das Symbolische. Wenn in dem Schwenk von "Beamtentum zu Technik, von Schrift zu Medien" eine Unterhaltungsliteratur entsteht, die schon auf ihre Medientransposition oder Verfilmung hin geschrieben wurde (254 f), muß ab 1900 "eine E-Literatur" aufkommen, die sich im technisch noch nicht okkupierten Symbolischen einnistet und so "ihre Unverfilmbarkeit" verficht.
Wörter als buchstäbliche Antiphysis, Literatur als Wortkunstwerk, das Verhältnis zwischen beiden als Materialgerechtigkeit - so die Konstellation im keuschesten l'art pour l'art wie in den provokantesten Spielen der Avangarde. [...] Dichtung durfte [um 1800] als Universalmedium Einbildungskraft schalten. Genau dieser Sonderstatus vergeht um 1900 einer durchgängigen Materialgerechtigkeit zuliebe. Literatur wird Wortkunst von Worte-Machen. Wie um Lacans Liebeslehre zu beweisen, ist Schwitters in seine Anna ja nur verliebt, weil ihr »Name von hinten wie von vorne : 'a-n-n-a'« lautet.(255)
Ähnliches formuliert "bündig" auch Hofmannsthal (zit 255) und Mallarmé wie Kafka (256) beweisen, daß Literatur "genau die Marge besetzt [...], die andere Medien ihr lassen":
zurückbleibt ein Symbolisches, autonom und bilderlos wie vorzeiten nur der Gott.(256)(62)
Die psychophysischen Experimente zur 'character recognition' ihrerseits untersuchen "nur noch Buchstabenmaterialität"(258) und eine der Schreibmaschine angeglichene Hirnmechanik mit kortikalen Lauttasten. Diese Versuche mittels Tachistokop fungieren als "Zwilling des Filmprojektors exakt spiegelverkehrt". Bei den Zuschauern im Kino,
im Unbewußten des Parterres, ein Kontinuum des Imaginären, generiert durch Einzelbildfolgen, die Flügelscheibe und Malteserkreuz aber so ausgeklügelt zerhacken, daß gerade die entgegengesetzte Illusion aufkommen kann.(259)
Im "abgedunkelten Labor der alphabetischen Elite" der Psychophysiker andererseits "eine Bilderzerhakung, die als Zerhackung attackiert, um ein für allemal aus den Qualen und Fehllesungen ihrer Opfer zu eruieren, welche Letternformen und Schriftarten physiologisch optimal sind (259)."
Das Tachistoskop aber weist nach, "daß elementarstes Lesen nicht Buchstaben, sondern nur die Unterschiede zwischen ihnen wahrnimmt und Worterkennung an diskontinuierlich einzelnen, buchstäblich herausragenden Lettern einhakt". Und das führt zu der Folgerung, daß hier "Saussures Lehre vom kombinatorischen System Sprache [...] geboren" wird.(259 u.ff)
Aber wie erst Derrida wieder entdeckt hat, sind die bescheidenen Buchstabenforscher oder Grammatologen konsequenter als der linguistische Gründerheros. Ihr Tachistoskop lokalisiert die reine Differenzialität nicht in »Tönen« und .h. ungreifbaren Wortklangbildern, sondern in materialen Zeichen vom Letterntyp. (260)
So entwickelt sich ein "Wissen von Differenzialitäten" an Buchstaben, das dann bei der Analyse von Antiqualettern zwangsweise zu "jene[r] Opposition [führt], die in Theorie und Praxis das laufende Jahrhundert bestimmt: die Binäropposition." (im Einzelnen 261 f) Wenn aber die Analyse von Antiqualettern zuletzt auf "elementaren Binarismus stößt", dann bedeutet Blockschrift schreiben umgekehrt nicht mehr, "Zeichen mit anderen Zeichen verbinden, sondern diskrete Elemente bastelnd kombinieren".
Im Zeitalter der Ingenieure ersetzt ein Ankerbaukasten das Wachstum von Pflanzen und Urschriften.(262)
Doch der "Choc der Binäropposition", der um 1800 durch Verbindungslinien oder Milderungen des Schwarz/Weiß-Kontrastes gedämpft wurde, führt noch weiter:
Getrennte Buchstaben aus ihrerseits getrennten Elementen beruhen in strikter Umkehr klassischer Schreibvorschriften auf jener Opposition, der auch Saussures abgründigster Gedanke gild: der Opposition zwischen Zeichen und Leere, Medium und Hintergrund.(262)
Die Literaturwissenschaft hingegen braucht "eben das Aufgebot seiner ganzen Schaukraft, um an Texten ihre übersehene Sichtbarkeit zu sehen".(263) Und so wird übersehen, "daß Lesbarkeit von Zeichen eine Funktion ihrer Verräumlichung ist".(263) Umgekehrt verschwinden
wenn der Mangel mangelt und die Leerstellen leerbleiben, [...] Medien [...] im Chaos, dessen Selektion sie sind.(263)
Wie nun aber Schriftsteller eigene Alphabete erfinden, "um ihre Texte dem hermeneutischen Verzehr zu entrücken"(265) und Esoterik physiologisch zu verbürgen(267), legt Kittler an der "St-G-Schrift" Stefan Georges zum genüßlichen Nachlesen(63) dar, nicht ohne ihre Konkurrenz zu Schrifttechniken zu übersehen, die durch Rundschrift jeder individualisierenden Schrifterkennung zu entgehen suchen.
Gleichzeitig mit dem Aufkommen graphologischer Spurensicherung zerfallen Alphabetisierte in zwei Klassen: da die Leute, deren Handschrift unmittelbar Effekt ihres Unbewußten und somit psychologisch oder kriminalistisch auszuwerten ist; dort die professionellen Schriftsteller als Schreibmaschinen ohne Handschrift. [...] Professionell intransitivies Schreiben in Blockbuchstaben sperrt mit den unbewußten Abgründen auch moderne Spurensicherungstechniken aus.(269)(64)
Versichert kann man aber zum Schluß des Kapitels sein, daß sich solche Faktizität von Signifikantenlogik im "Elementarfeld Schreiben" nur dem offenbart, der schon immer "scheinbare Konventionen als Regelkreise und Programme auseinandergenommen"(267) haben wird.
2. Rebus (271 ff).
"Rebus" soll anzeigen, daß es im neuen Aufschreibesystem keine "Übersetzbarkeit aller Diskurse in poetische Signifikate" mehr gibt, sondern Unübersetzbarkeit und Medientransposition (271ff) bestimmend sind. Was eine Transposition ist, wird mengen- und informationstheoretisch erläutert(271 f)(65), denn "Medienlogik - in Mengenlehren oder Informationstheorien eine Binsenwahrheit", ist "für Dichter [...] die Überraschung des Jahrhunderts". Im Jahr 1919 - das Jahr der Erstveröffentlichung von Stefan Georges Gedicht DAS WORT - bricht ein "Tauschhandel" zusammen, den die Einbildungskraft als "Äquivalent aller Sinne" ermöglichte.(66) Mit der Sprache wird nicht mehr verfahren "als wäre sie bloßer Kanal", sondern "Sprache selber, unters Abtasttheorem gestellt, ist eine endliche Menge".(272) "Eine Ökonomie der Zeichenknappheit löst um 1900 den allgemeinen Tausch ab." Dichtersprache wird zur "Berufssprache" mit begrenztem, erschöpfbaren oder "exhaurierbarem" Vokabular, Poesie zum "Exhaurieren" einer Signifikantenmenge, den Kittler Tresor oder mit George "Nornenborn" nennt. Und das heißt: "um 1900 [...] steht die künstliche Hervorbringung ganzer künstlicher Sprachen auf dem Plan". Das wird an George demonstriert (274 ff) und zwingt die Interpretation zur "Umstellung ihrer Techniken."
Der klassische Weg zu Ursprüngen in Seele und Kindheit des Autors scheidet aus; einer »littérature à rebus« gegenüber tritt [...] eine objektive Interpretation, deren Vorbild einzig kryptographische Decodierungstechniken sind.(275)
Mit Simmel kann bewiesen werden, daß "Interpretation [...] also nur ein Sonderfall der allgemeinen Technik Medientransposition [ist]. Zwischen codierendem Autor und decodierenden Interpreten besteht keine psychologische Brücke, sondern sachliche Konkurrenz. Jeder von ihnen verfügt über einen Nornenborn, so daß im Glücksfall, den nichts und niemand garantiert, Elemente und Verknüfungsregeln eines Mediums A auf Elemente und Verknüfpungsregeln eines Mediums B abbildbar werden."(275) Hingegen war es einer Bettina Brentano in einem anderen Aufschreibesystem nicht vergönnt, "den Herzlieb-Code knacken zu können". Hätte "die Arme" doch "wie so viele Studentinnen um 1900 Simmels Straßburger Seminar besuchen können, vieles wäre einfacher gelaufen".
Unter den Beispielen von Medientranspositionen (276 ff) nimmt nun eine eine zentrale Stelle ein unter dem Titel Die Psychoanalyse und ihre Rückseiten. (278 ff). "Freud Traumdeutung, auf deren Titelblatt stolz und voreilig die Zahl Null eines neuen Jahrhunderts prangt, inauguriert Medientranspositionen als Wissenschaft."(276) Dort heißt es : »Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind.« (zit 279) Für Kittler heißt das: "Deutungstechniken, die Texte als Scharaden oder Träume als Bilderrätsel behandeln, sind keine Hermeneutik. Sie sind es nicht, weil sie nicht übersetzen. Die Übersetzung eines Rebus scheitert daran, daß Buchstaben in freier Natur, der Referenz allen Übersetzens, nicht vorkommen. Im Gedicht Georges sind poetische Imagination und Sprachtresor nicht koextensiv, im Vergleich Freuds gezeichnete Landschaft und alphabetische Zeichensystem. Eben diese Fehlanzeige erzwingt eine neue Wissenschaft. Um manifeste Trauminhalte in latente Traumgedanken zu transponieren, muß zunächst und zuerste jedes der zwei Medien als definierte Elementenmenge mit definierten Verknüpfungsregeln (Fügungsgesetzen) angeschrieben werden."(279/80)
So ist Die Traumdeutung
eine Zeichenanalyse einzig nach Stellenwerten diskreter Elemente. Sie statuiert nicht ein Symbol im klassischen Sinn, kein Transzendentalsignifikat also, wie es vormals alle Wörter und vorab das Wort Wort einsaugte. An seine Statt treten lauter unterschiedene Subsysteme von Signifikanten, in deren jedes die Rebus-»Einzelheiten« probeweise eingesetzt werden müssen, bis sie in je einem Subsystem einklinken.(280)
Als »wahre Silbenchemie« (Freud) ist "der Traum selber schon ein Stück Technik fernab von Natur und Kunstnatur". Die Traumdeutung setzt voraus, "kontinuierliche Bilderserien, bevor sie durch Silben oder Wörter ersetzt werden, erst einmal zu zerhacken", genauso wie "im Film Flügelscheibe und Malteserkreuz die kontinuierlichen Bewegungen vorm Sucher" zerlegen.
Das aber praktizierte Freud an seinen Hysterikerinnen. "Bilderfluchten" werden an ihnen "Element um Element, ganz buchstäblich also exhauriert", bis alle Bilder durch ihre Schilderung in Worte umgesetzt und aufgelöst sind.(281)(67) So kommt zielsicher die Frage: "sollte der Geist, den Freud austreibt, nicht einfach die klassische Funktion Leserin sein?"(282)
Hysterisierung der Frauen um 1800 hat ja besagt, ihnen eine Lektüre beizugringen, die poetische Gehalte halluzinierend in Signifikate übersetzte. So käme auf der Couch nur eine historische Sedimentierung wieder zutage, aber genau zu dem Zeitpunkt, da sie dysfunktional wird, und genau zu dem Zweck, eine andere, nämlich buchstäbliche Lektüre noch des Alltäglichsten einzüben.(282)
So stehe die Psychoanalyse an einer Gabelung, "die am 1900 [...] E-Kultur und U-Kultur scheidet".(282)
Frauen, Kinder und Irre, statt weiter Lektürebilder zu träumen, endecken das Unbewußte des Parterres [d.h. sie gehen ins Kino, KM], während die Wissenschaft Psychonalyse gerade umgekehrt an Frauen, Kindern und Irren, um es ihnen einzuschreiben, das elitäre Unbewußte skripturaler Geheimcodes endeckt.(282)
So Kittler mit Verweis auf Félix Guattari. Daß die Psychoanalyse "angesichts der Option Kinotraum/Tachistoskop das Symbolische wählt, indiziert aber nur ihren Ort im Wissenschaftssystem von 1900". Psychoanalyse, Ethnologie und Strukturlinguistik habe Foucault, so Kittler, einer "Wiederkehr der Sprache um 1900" zugeordnet, ohne dabei Technologien zu berücksichtigen.
Aber nur seine informationstechnischen Neuerungen verschaffen dem Aufschreibesystem von 1900 eine Autarkie, die es vom transzendentalen Wissen und damit auch die Psychoanalyse von allen Geisteswissenschaften trennt.(284)
Vielmehr habe die Psychoanalyse in einem "methodische[n] Schwenk, dessen Prämissen beste Psychophysik sind"(285), den von Medizinern und Spachforschern ermittelten Schatz an sprachlichen Fehlleistungen - "ein immenser Tresor an Unsinn" - nicht mehr auf Lokalisierung von Sprachfunktionen im Gehirn hin untersucht, sondern auf die Dechriffrierung der Rede von Einzfällen umgestellt. Mit diesem "Schwenk von Sprachsystem zu Rede" durchquert die Psychoanalyse "am selben Material und nach denselben Prämissen das Feld Psychophysik"(286), um den für anatomische und linguistische Systeme schon erbrachten Beweis der Regelhaftigkeit von Sprachschnitzern "auch noch für jenes singuläre System Ubw" nachzuholen.
Im Kreuzfeuer von Psychophysik und Psychoanalyse fällt das Individuum; an seine Statt tritt ein leerer Schnittpunkt statistischer Allgemeinheit und unbewußter Singularität.(286)
Singularitäten sind aber keine Individuen mehr, sondern ergeben Abnutzungsspuren von Sprachmaterialien.
Während Individuen aus gewachsener Sprache-und-Schrift bestanden, sind Einzelfälle durch den Abfall spezifiziert, den ihr Sprachumgang auswirft. Unverwechselbarkeit im Aufschreibesystem von 1900 ist allemal ein Zersetzungsprodukt anonymer Massenware.(286)(68)
So wird die Psychoanalyse zu einer Art Recyclingindustrie für psychophysikalisch nicht verwertbare Abfälle.
Deshalb gibt es Psychoanalyse. Der Abfall, den die Psychophysik übrig läßt, wird durch Umsortieren decodierbar. Freuds Diskurs anwortet nicht auf individuelle Nöte; er referiert auf ein Aufschreibesystem exhaustiver Unsinnserfassung, um dessen Signifikantenlogik den Leuten einzuschreiben.(288)
Vor dem Hintergrund der strukturalen Freudlektüre Lacans(69) bezeugen Freuds Fallgeschichten, "daß die Romantik der Seele einem Materialismus der Schriftzeichen gewichen ist. [...] Gerade weil sie in freier Natur nicht vorkommen, sind Buchstaben Schlüssel zum Unbewußten. Sie durchstreichen bewußtes Meinen und hermeneutisches Verstehen, um Leute ihrer Unterworfenheit unter die Sprache auszusetzen."(288/89) So wird Freud zum "Korrekturleser", und zwar zu einem, der hörend Druckfehler findet. Die Patienten sprechen nur und der Arzt meidet Stenogramme und Nachschriften. "Die Psychoanalyse liefert mithin den singulären Fall eines Aufschreibesystems, das die Schrift zur Sache und ihr ganzes Gegenteil zur Methode hat."
Da muß doch ein technisches Medium im Spiel sein? In der Tat soll der Analytiker, so Freud, "dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver eines Telephons zum Teller eingestellt ist."
Das Paradox, ohne Schrift zu schreiben, lösen nur technische Medien. Freud, auch er zum Opfer seine Erkenntnissubjekts enschlossen, macht eine Medientransposition an ihm selber: einen Telephonhörer aus Ohren. Denn wie geschrieben steht, haben Menschen ihre Ohren ja nur, um nicht zu hören (und alles in Sinn zu verwandeln). Erst die Zwischenschaltung elektroakustischer Wandler sichert unselektierten Empfang eines Rauschspektrums, das um so informativer ist, je weißer es rauscht.(289)
Zwei 'kommunizieren' also bewußt, aber zählen tut nur des einen Unbewußten "verschlüsselte Rebus-Nachricht" ans andere. Der manifeste Sinn ist Unsinn.
Der Telephonreceiver Freud sondert gerade ihn als Abfall von den Abfällen, die unterm Sinnpostulat Versprechungen, Verlesungen, Verschreibungen wären.(290)
Um aber verräterische Signifikanten, also "gesprochene Druckfehler" aus der Rede zu fischen, müssen diese vorher gespeichert sein. Also wird ein Tonspeicher angeschlossen werden. So arbeitet die Psychoanalyse eher "als Phonograph, der in seiner entwickelten Form ja elektroakustischen Wandler und Speicher koppelt". Das hat nicht einmal Benjamin erkannt, als er Psychoanalyse in Film "synchronisiert" hatte.(290) Denn der "Fischzug [geht] auf diskrete Elemente. Nicht allein die imaginäre Bedeutung, auch das Reale am Diskurs fällt aus".(70) So bleiben
Kino und Grammophon [...] das Unbewußte des Unbewußten. Die mit ihnen geborene Wissenschaft Psychonalyse begegnet Bildersequenzen mit einer Urverdrängung. Geräuschsequenzen mit ihrer Entstellung zu Signifikantenketten. Erst jener Tag, der nach Freuds Traum und anderer Alptraum Psychoanalyse in Psychochemie überführen wird, mag auch diese Verdrängung verdrängen.(291)
Auch das ist Spurensicherung, und zwar "von Buchstäblichkeiten" und
jedes Medium, das Verborgenes zutage bringt und Vergangnes zu reden zwingt, wirkt durch Spurensicherung am Tod des Menschen mit.(292)
Die Buchstaben werden aber von Freud in Bücher überführt: seine Fallgeschichten. "Freud greift zur Feder"(291) und gehört schon zum modernen deutschen Schrifttum, denn "Schreiben um 1900 heißt ohne Stimme und bei den Buchstaben sein." Das Verhältnis von Hysterikerinnen und dem Literaten Freud ist nicht das von Anselmus und Serpentina.
Die Psychoanalyse ist nicht übersetzende Universalisierung, die aus Reden vieler Frauen die Ursprache der Einen macht. In Praxis wie Theorie, im Zuhören wie im Aufschreiben bleibt sie Rückkopplung von Daten, die jeweils einen Einzelfall einkreisen.(291)
So aber besetzt die Psychoanalyse "den Systemplatz, den im Aufschreibesystem von 1800 die Dichtung innegehabt hat".(294)(71)
Bleibt der Fall, daß die Seele bei Dichtern oder Psychotikern selbst schon "Aufgeschriebenheit erlangt"(296) hat.(72) "Der Text als verkörperte Psychoanalyse", das ist im Falle der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken des Dr. jur. Daniel Paul Schreber (1903 als Privatdruck erschienen) ein Text, der "die Gesetze des Unbewußten verkörpert" enhält. "Freuds libidotheoretische Grundannahmen stehen bei Schreber selbst". So muss Freud in Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia Prioritätsfragen ansprechen. Denn Schreber hat in seinem Wahn "jene Libiotheorie [archiviert], zu der Psychanalyse nur auf den langen Umwegen der Deutung gelangt, als Körper und Text. Er steht zu ihr im Verhältnis von Schriftstellern überhaupt."(297)
Die Denkwürdigkeiten schildern einen nervenkranken Körper als Schauplatz ganzer Theomachien, wo göttliche Nervenstrahlen Besetzungen und Rückzüge durchführen, Organe zerstören und Hirnfasern extrahieren, Leitungen legen und Nachrichten durchschalten -: ein psychisches Informationssystem, das Freud nicht als Wahn, sondern beim Wort nimmt.(298)
Mit diesem aufgeschriebenen "Informationssystem Seele" wird der Psychoanalyse ihr Kernstück als Beweisstück zugespielt, nämlich der von ihr angenommenen "psychische Apparat", den sie als »das Reale« (Freud, zit 298) nur erschließen kann: "Schrebers endopsychische Wahrnehmungen, die ja ohne Zweifel einen Körper, den seinen, als räumlich ausgedehnten Nervenapparat beschreiben".
Das Korpus des psychotischen Textes liefert der Psychoanalyse ihre unversichtbare, aber unauffindbare Grundlage: einen Körper. Einen Körper als jenes Beweisstück, ohne das sie nach allen zeitgenössischen Standards leere Spekulation bliebe.(298)
So entsteht zwischen zwei Systemen eine Nachrichtenverbindung.
Nicht nur ist der psychische Apparat, wie psychotisches und psychoanalytisches Korpus ihn beschreiben, ein einziges hochkomplexes Nachrichtensystem, auch die zwei Korpora bilden dieses selbe System noch einmal. Kunde vom unmöglichen Realen gelangt medientransponiert ins Symbolische. Freud empfängt, was Schreber sendet; Schreber sendet, was Freud empfängt.(299)
Nur wie das funktionieren kann, wird nicht gesagt. "Freud ist viel zu sehr auf den Zeugniswert des Empfangenen aus, um auch noch die Logik der Kanäle zu untersuchen".(299)
Im Wettlauf um das Körperwissen fällt also die Frage aus, welche Wissenskanäle den Körper selber bilden. Das Aufschreibesystem von 1900 bleibt seinen Eigennamen schuldig.
Der Senatspräsident aber steht vor der Alternative "Schreber als Schreiber oder Schreber als Anatomiepräparat". Die führt ihn dazu "an der Stelle seiner Obduktion einen Abfall, Körperersatz, Text" anzubieten. Er vermacht also seine Aufzeichnungen als seinen aufgezeichneten Körper, nämlich seine auf "Nerven und deren Sprache" reduzierte "Seele" der Wissenschaft, genauer: dem Psychiatrieordinarius der Leipziger Universität Paul Flechsig, in dessen Behandlung er sich befand. Dieser sah sich durch die Schwierigkeiten einer Gehirnerforschung in vivo auf den der »Erhebung des Leichenbefundes« (zit 301) verwiesen. Wenn Schreber in den Denkwürdigkeiten nun darauf verweist, daß »nach dem Tode die Nerven der Menschen mit allen Eindrücken, die sie während des Lebens empfangen hatten, offen vor Gottes Augen dalagen« (zit Schreber 301), so identifiziert er schlicht Gott mit dem Leipziger Professor.(302)
Die Seele besteht aus Nerven, die in vivo unmöglich zu untersuchen sind, aber perfekte Datenspeicher abgeben und deshalb im Augenblick der Leichenöffnung ihre Geheimnisse sämtlich dem klinischen Auge offenbaren.(301)
Und deshalb kommt Schreber seinem Psychiater zuvor, "wenn er seine Nerven schriftlich seziert".
Er tut es und fabriziert damit zur Freude Freuds, des vormaligen Neurologen, das unmögliche Beweisstück der Psychoanalyse: endopsychische Wahrnehmung von Hirnfunktionen.(302)
Damit ist aber neuerdings eine "Verschaltung" von "Nachrichtenkanälen" aufgedeckt.
So verschaltet sind Nachrichtenkanäle. Der Fall Schreber, statt unabhängiger und unverdächtiger Beweis einer Libidotheorie zu sein, belegt nur den Nexus zwischen Psychophysik und Psychoanalyse. Freud als Leser und Schreiber geht blind ins Diskursnetz, dem er selber zuzählt. Entwurf eine Psychologie und Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken sind zwei Fortschreibungen ein und desselben Diskurses.(302)
Die Versuche hingegen, Schrebers Gott mit dessen Vater - Erfinder des Schrebergartens und Betreiber einer Art orthopädischer Pädagogig - zu identifizieren, verfehlen diese Art von zweiter industrieller Revolution:
Flechsigs Botschaft vom Tod des Menschen, versteckter als diejenige Nietzsches, hat Exegeten also nicht erreicht. Immer wieder wird versucht, die zweite industrielle Revolution mit der ersten zu erklären: das Informationssystem Schrebers mit orthopädischer Mechanik [des Vaters von Schreber, KM], die Schreibmaschine in Kafkas Strafkolonie mit Freisköpfen und Planhobel. Aber Nervensprachen bleiben Nervensprachen, Schreibmaschinen mit eigens konstruierter Schrift-Sichtbarkeit bleiben Underwoodmodelle. Das System von 1900 kann sich die Ersparnis von Muskelenergie längst sparen, weil es Substitutionen des Zentralnervensystems selber in Angriff nimmt.(302)
Wenn also der Arzt Flechsig Schrebers endophysische Nervenwahrnehmungen selbst als Halluzinationen abtut, also die "Psychophysik ihre eigenen Effekte aus der Welt reden kann"(303), bleibt Schreber nur, in Flechsigs eigener Sprache - der "Nervensprache am Grund des neuen Dispositivs"(303) - und auf dessen eigenem Feld "den Nachweis zu führen, daß seine vorgeblichen Halluzinationen Tatsachen und vom Diskurs des Anderen effektuiert sind". Ein kleines "Aufschreibesystem" versucht, "die dunkle Wirklichkeit eines anderen und feindlichen zu beweisen", denn mit dem, was Schreber selbst »Aufschreibesystem« (zit 304) nennt und Kittler den Titel seiner Arbeit gibt, hat er selbst die seine Daten aufzeichnende "paranoische Maschine" bezeichnet.(73) Diese Maschine aber
arbeitet wie eine Verbundschaltung aller Datenspeicher, die um 1900 das Aufschreiben revolutionieren. Und weil ihre Strategie darauf geht, nicht statistische Serien, sondern den zufälligen Fall Schreber zu exhaurieren, bezeichnet sie zugleich das methodische Projekt am Grund der Psychoanalyse.(304) [...] Das schwachsinnige Aufschreibesystem über Schreber ist also [...] das Aufschreibesystem von 1900.(305)
"Exhaustion koppelt Einzelfälle ans Aufschreibesystem von 1900 an".(305) Das nennt Kittler "Kurzschluß zwischen Maschinenspeichern und Einzelfällen". Der "liquidiert ein Grundkonzept von 1800: das Eigentum an Diskursen". Der "immense Speicheraufwand"(305), den das Aufschreibesystem treibt, unterstellt Schreber "exhaurierbare Gedankenvorräte"(307) als seine eigenen Gedanken.
Maschinenspeicher sind viel zu akkurat, um die klassischen Unterscheidungen von Meinen und Zitieren, selbsttätigem Denken und bloßem Nachsprechen zu machen. Sie registrieren diskursive Ereignisse ohne Ansehung sogenannter Personen. Weslhalb die Ausrede, zwischen geistigem Eigentum, Zitaten und Fehlleistungen zu trennen, hinfällig wird wie sonst nur in Psychoanalysen.(306)
Und so verhöhnen Schrebers Stimmen "in triumphalem Sächsisch [...] den guten hochdeutschen Glauben des Beamten a.D., wonach Dem Menschen Denken und Sprechen eignen."(306) Die "ewige Wiederkehr [...] siegt über Originalgenies, Psychophysik über absoluten Geist".(307)
Mithin produziert "jede diskursive Handgreiflichkeit [...], was sie behauptet". Wenn "Experiment und Pathologie zusammenfallen und die Versuchsleitung, heißt das, ihre Probanden verrückt macht, bleiben allein Probleme der Notwehr"(307). Um sich vor der Psychophysik zu retten, bleibt Schreber "nur Medienkonkurrenz": vor "Stimmen, die alle Diskurse auf ihre Materialität einebnen" rettet ihn nur "Mimikry". Er übernimmt vom Feind die Technik der Exhaustion, um diesen mit seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen, also seine Exhaustion mit seiner eigenen Unverschöpflichkeit an Gedanken. Gegen das Aufschreibesystem mischt er "Schiller und Zoten, Verse und Gebrüll".
"Und das ist, wenn schon nicht Wahnsinn, so doch Literatur."(308) Schreber übt nämlich, so Kittler, "genau die apotropäischen Techniken, die zwölf Jahre später im Café Voltaire der Züricher Dadaisten Ruhm und Öffentlichkeit erobern."(308)(74) Denn die unmenschlichen Aufschreibesysteme von 1900 sind unentrinnbar, "aber gerade in ihrer Unmenschlichkeit erlauben sie es, dem Imperativ des Sinns zu entrinnen"(308), und "wenn die Macht ihren klassischen Imperativ wiederruft, nur Signifikate zu statuieren, wird auch den Opfern neue Lust". Das heißt jenseits jeder "larmoyanten Theorie über Den Menschen in einer technischen Welt":
Wo Sinn aufhört, beginnt das Genießen: eine Lust in genau der Marge, die ein Aufschreibesystem purer Signifikanten seinen Opfern läßt. [...] Exhaustive Datenerfassung hat es nicht nötig, ihre Maschinenspeicher auch noch den Leuten einzufleischen, also ihnen eine Seele zu machen. [...] Brüllend, vergeßlich und gedankenflüchtig darf der Senatspräsident a.D eine Freiheit diesseits von Beamten- und Menschenwürde genißen. Eben das ist aber seit 1900 die Definition des Subjekts.(309)
Die aber ist: das Subjekt ist nicht einzigartig sondern singulär. "Es darf im genauen Gegensatz zum produktiven Individuum einfach konsumieren, was von Signifikantenketten für ihn »an sinnlichem Genusse abfällt«. Das Subjekt des Unbewußten ist buchstäblich Abfall" - so mit Deleuze und Guattari zum Fall Schreber. Eine Singularität exhauriert, was sie exhauriert.
Das eben tut "Literatur im Aufschreibesystem von 1900" und ist damit Ein Simulakrum von Wahnsinn. (311 ff). Kurz gesagt ist sie nichts anderes als "Abfallverwertung von psychoyphysisch gespeichertem Unsinn."(314)
Vom Wahnsinn geschieden durch ein Nichts namens Simulakrum, durch eine Folie namens Papier, durchläuft das Schreiben den Freiraum ewiger Wiederkehr. Gerade in seiner leeren Selbstbezogenheit ist literarisches Schreiben seine eigene Rechfertigung.(75) [...] Das Simulakrum von Wahnsinn setzt voraus, daß Wissenschaften vom Unsinn möglich und herrschend geworden sind. Erst wenn es eine Psychophysik als Zufallsgenerator und eine Psychoanalyse als Exhaustion von Unsinn gibt, bleibt am Ende eine ebenso verrückte wie unwiederlegliche Abfallverwertung.(311)
Das ergibt Texte, "die gar nicht mehr vorgeben, Sinn zu machen, sondern auf ihr reines Geschriebensein pochen". Darin finden Erwähnung und liefern Zeugenschaft Morgenstern, Ball und Kafka (312 f), Heym, Ball, van Hoddis, Huelsenbeck, Zech, Becher, Urzidil, Rilke, Adler, Breton (315 f) und der "junge Assitenzarzt Benn" (316 ff). Bei diesem macht "die Montage ihrer sinnlosen Faktenmengen [...] aus Psychophysik selber die Geistesstörung, die sie erforscht"(316). Benn entwickelt eine "doppelte Buchführung, die mit der einen Hand Statistiken weiterschreibt und mit der anderen zur Simulation eines Deliriums ausbeutet"(317), indem er, was ihm die Psychiatrieprofessoren Ziehen (auch Nietzsches Arzt) und Bonhoeffer lehren, in entlegenen Avantgardezeitschriften veröffentlicht.
Handelt es sich dabei um "Vereinzelung psychophysischer Befunde, simuliert die Literatur aber nur, was im Aufschreibesystem von 1900 die Psychoanalyse auszeichnet". "Die Gemeinsamkeit von Gemeinsamkeit und Konkurrenz, einst das Los von Dichtern und Denkern, ist zum Los von Schriftstellern und Analytikern geworden."(318)
Selbstredend geht es nicht mehr um den Sinn und seine Interpretation. [...] Getragen wird ihrer beider Beziehung von dem Faktum, daß es am Grunde aller Kulturtechniken Körper und deren Unsinn gibt. Diese Körper aber sind nur psychophysischen Experimenten, also um den Preis von Schweigen und Tod zugänglich. [...] Die Psychoanalyse muß also [da sie nicht psychophysisch experimentiert, sondern "Worte austauscht", KM] Reden solange auf Unsinn hin abhören, bis eine Indizienkette hin zum unzugänglichen Realen geschlossen wird. Die Literatur muß Papiere solange von Lesbarkeiten reinigen, bis der Körper ihrer Wörter für den Augenblick eines Kurzschlusses mit dem anderen zusammenfällt. Damit aber stehen die zwei Diskurse in Konkurrenz. Es gibt Reales, das beiden verschlossen ist, und zwei Umwege, die einander ausschließen: die Decodierung und der Kurzschluß.(318)
Die Alternative der Schriftsteller war mithin, "ihren Körper auf eine Couch zu legen oder aber Wortkörper zu vertexten", und "fast alle [optieren] für reines Schreiben und gegen ein »(möglicherweise unproduktives) Leben«" - so Kittler mit Rilke. Schreber vermachte seinen Körper der Wissenschaft, Rilke entzieht ihn ihr, denn bei ihm löst schon die Vorstellung einer Psychoanalyse "das Phatasma einer Trepanation aus", nämlich, in Rilkes Worten, »die panische Angst, zerpflückt und ausgesogen zu werden«.(zit 319). So wird
Das Hirn des Schreibers [...] zum mythischen Fluchtpunkt aller Versuche, Diskurse neurologisch abzuleiten. Schreiben um 1900 heißt demgemäß: dieses Hirn unbeschadet seines klinischen oder simulierten Wahnsinns, vor medizinischen Sonen hüten und unmittelbar in Texte (umzusetzen. Eine Medientransposition, die notwendig über jenen anderen Fluchtpunkt, die endopsychische Wahrnehmung von Hirnfunktionen laufen muß.(319)
Das treffe auf Gehirne von Benn zu wie auf die Stadt des Hirns von Flake.(320) Und der Erzähler Marcel in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird "Nervenbahnungen [...] abschreiben müssen".(321) "Genug der Belege", sagt Kittler, aber es geht weiter mit Rilkes Ur-Geräusch von 1919 (321 ff), in der ein phonographischer Apparat phantasiert wird, der die Kronen-Naht des Schädels abspielt und die Festellung erlaubt:
Simmels objektive Interpretation [275 ff, KM], Freuds analytische Konstruktion, Rilkes Apparat - sie alle können Spuren ohne Subjekt sichern. Eine Schrift ohne Schreiber also, die denn auch nichts anderes archiviert als das unmögliche Reale am Grund aller Medien: weißes Rauschen, Ur-Geräusch.(323)
Und das, so Kittler, sei nur konsequent.
Sicher rauscht Es seit unvordenklichen Zeiten, nämlich seit es Brownsche Molekuralbewegungen gibt. Aber um Rauschen und Nachricht überhaupt zu unterscheiden, muß Reales über technische Kanäle Laufen können. Das Medium Buch kennt Druckfehler, aber kein Urgeräusch Die phonographische Wiedergabe »einer Spur, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammt« [zit Rilke, KM] spottet der Übersetzbarkeiten und Allgemeinen Äquivalente. Grammophonnadeln auf Schädelnähte anzusetzen ist nur möglich in einer Kultur, die diskursive Handgreiflichkeiten schlechthin freigibt. Extremierte Medientransposition macht aus sogenannter Natur allemal unbewußte Programme.(323)
So sieht Kittler sich - unter dem Gesetz Lacans, "daß im Realen erscheint, was nicht ans Tageslicht des Symbolischen gedrungen ist"(325) - in der Lage, Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge "zum erstenmal zu buchstabieren und nicht bloß zu verstehen"(324 ff), d.h. aufzuschreiben, wie Schreiben "die Geschwulst des Hirns zu Papier" bringt.(325) "Und da nichts und niemand in Sprache bringen kann, was das materiale Substrat von Sprache ist, tritt der Schatten vor Neurophysiologie vor Brigges Mund", ein "Reales" also "das in keiner Sprache gesagt werden kann, weil die Einweisung in Sprache überhaupt es schon ausfällt".(325)
Das Medium Schrift kehrt seine Kälte hervor; es ist Archivieren und sonst nichts. Deshalb kann es das Leben nicht ersetzen, darstellen, sein, sondern nur erinnern, wiederholen, durcharbeiten.(76) Etwas gegen die Furcht tun, heißt sie selber aufschreiben.(325)(77)
Wenn dabei Kinderangt vor dem "Großen" und Beruhigung durch die Mutter beschwört werden, dann nur, um Artikulation selbst, also "den um 1900 elementaren Bezug zwischen Einzelheit und Hintergrund, Zeichen und Urbrei, Sprache und Urgeräusch" zu erfragen. Für diese Frage gibt die Psychophysik "theoretisch und statistisch den Rahmen vor; Psychoanalyse und Literatur verschriften passende Einzelfälle, bis das System geschlossen ist".
Darum hat keiner der drei Diskurse an den zwei anderen feste Referenzen; es gibt nur ihrer aller Vernetzung.(327)
Keinen dieser drei Diskurse kümmert es, "was Mütter tun und sagen, welche Liebe oder Bildung sie Kindern einflößen".
Statt Minimalsignifikaten einer ersten Liebe gelten einzig erste Signifikanten auf dem Hintergrund von Ununterscheidbarkeit.(327/28)
So findet Kittler durch Rilke (Maltes Geschichten von den Buntstiften und dem Bleistift) ein Aufschreibesystem bezeugt, "das Kulturtechniken an ihren Defiziten und Einzelheiten an ihrem Abnutzungsgrad mißt"(328), "Schrift auf einen Code unter anderen" reduziert, nur "die analphabetischen Abenteuer mit Schreibzug und Papier" gelten läßt und so Kindern vorschreibt, "ihren Analphabetismus selber aufzuschreiben".
Literarische Texte um 1900 zeichnen also auf, "wie eine alphabetische Kultur vom analphabetischen Außen her zu definieren ist"(330). Und wenn es "keine Synthesefunktion gibt, die unabgezählte Datenmengen auf Sinn hin selektieren könnte [...], macht auch beim Lesen die transzendentale Apperzeption einer unmöglichen Exhaustion Platz"(331). "Unterm Gesetz der Exhaustion"(332) aber können »Furchen im Gehirn« (zit Rilke) nur noch in "Real Time Analysis" verarbeitet werden, also in "Echtzeitanalysen von Hirnengrammen", und "im Schreiben selber tritt anstelle von Sinnminiaturen eine Exhaustion, die nicht aufhört, nicht aufzuhören". Malte Laurids Brigge schreibt seine Aufzeichnungen "als sei er, trotz Gutenberg und Anselmus, schlichter Kopistenmönch"(333).
Aber auch Aufsatzregeln für die Schule passen sich dem System an (333 ff) und werden zu Aufschreibübungen, "diese psychophysisch so streng isolierte Subroutine"(333). Das hat Methode, denn "das Zeitalter der Ingenieure verlang technisch exakte Reproduktionen technischer Abläufe".(334) Und die sind der einzige Zugang zum Realen. Sachverhalte "entgehen jeder Hermeneutik; sie müssen angeschrieben und abgezählt werden."
Der Grund liegt auf der Hand: es gibt sie nur als konstruierte. Programme, Pläne, Zahlen sind dazu da, Reales zu verziffern. [...] Die grundsätzliche Unvorstellbarkeit von Realem erzwingt Autopsien, die seine diskreten Elemente eins nach dem andern verzeichnen. Genau das tut Brigge in Paris, wenn er (unter Umgehung des Pantheons) abgerissene Häuser, blinde Zeitungsverkäufer, Krankenhauswartezimmer und Moribunde zur Sache eines Schreibens macht, das exhaustiv wie die Medien vorgeht. Dichter, die das Ungefähre hassen, gehören allemal in eine Kultur von Ingenieuren und Ärzten. Noch abgerissene Häuser rechnen zur Technik, noch hoffnungslose Fälle zur Medizin. Der Schriftsteller [...] ist nur einer, dessen Lust Abfallverwertung heißt. Während die Ingenieure und Ärzte Einzelheiten machen, die funktionieren, »macht« Brigges Schreiben genau umgekehrt den zufälligen und singulären Zeitungsverkäufer »wie man einen Toten macht«. An der Logik des Konstruierens ändert das nichts.(334/35)
Die seitenlange Beschreibung eines epileptischen Spring-Tics durch Brigge ist eine Reproduktion körpertechnischer Abläufe, also eine "Simulation" die "auf ein Reales stößt, das der Einfühlung oder Hermeneutik verschlossen bliebe".(336)
So belegen "Écriture automatique, psychoanalytisches Assoziieren, freier Aufsatz [...] Mächte, vor denen der Schreibende zum Medium herabsinkt". Ihm wird diktiert. Und wenn der "Schreibakt in seiner Materialität aufgeht", ersetzen die "sonderbaren Leute, die ihn tun [...] einfach Schreibmaschinen". Wo um 1800 ein absoluter Geist Autoren und Werke "konsumierte", "steht 100 Jahre später die nackte Vernichtung".
Schreiber [...] kommen nicht zur Unsterblichkeit eines Autornamens, sie ersetzen nur jene anonymen und paradoxen Analphabeten, die ein ganzes Aufschreibesystem von außen her aufschreiben könnten.(343)
Da aber niemand so analphabetisiert ist, und schon gar nicht Kittler - das größte Geschrei nach Reinheit vom Sinn, könnte man ein Wort von Kafka abwandeln, ertönt in der germanistischen Hölle - bleibt ihm diese letzte Medientransposition verwehrt. So müssen weiterhin Belege "exhauriert" werden. Kafka (344 f): es gibt nur Könige oder Kuriere. Und niemand will König sein, so daß nur Kuriere sich sinnlos gewordene Meldungen zurufen. Also gibt es nur "Diskursangestellte".
Wenn es Den Menschen oder Beamten ausgemacht hat, universales Gedächtnis der Geistesprodukte zu sein, so bilden Diskursangestellte eine disperse Menge mit partikularen, aber umschriebenen Zuständigkeiten. Keiner von ihnen speichert alles, alle zusammen aber sprengen sie das Monopol von Büchern und Sinn, wie es unterm Titel Geist firmiert hat. Kuriere bei Kafka, Briefträger bei Groß, Schreibkräfte bei Schreber [...].(345)
Und "deshalb behandeln soviele Kafkatexte die Materialität von Nachrichtenkanälen:"
Die Kanäle sprechen durch (Der Nachbar), sie arbeiten mit Tot- oder Verzögerungszeiten (Eine kaiserliche Botschaft), sie sind nicht durchgängig verschaltet (Das Schloß) und was sie übermitteln, hat keinen Sinn außer dem Statement, daß es sie gibt (Vor dem Gesetz).(345)
Singulär sind die Sprecher wie ihr Gespeichertes.
Zerstreute Spezial- oder Lokalgedächtnisse rufen einander sinnlos gewordene Meldungen zu. Aber damit hört das schiere Jetzt, eben das also, was nicht aufhört aufzuhören, zum ersten gespeicherten Mal aufzuhören auf.(346)
Das gilt für jeden von Kittlers Funden und macht ihn zum diskursiven Ereignis, wie denn "Speicher, die Diesheiten speichern, [...] selber Diesheiten [werden]. Das macht jede Archivierung zum diskursiven Ereignis".
Woraus folgt, daß unverständlicher Abfall, also Literatur, nicht aufhört, nicht aufzuhören. (Davon handelt Valérys gesamte Poetologie=. Eine Literatur, die ausschließlich Diesheiten aufschreibt bzw. selber in Wörtern und Typographie als Diesheit auftritt, besetzt die Speichereinrichtungen und verdrängt damit jene Dichtung [von 1800, KM].(346)
Singuläre Sprecher und singulär Gespeichertes auf der einen Seite und auf der anderen - der "unerreichbaren Rückseite"(347) der Literatur - "stochastische Streuung, das weiße Rauschen, denen gegenüber Medien erst das sind, was sie sind". Das trifft auch ihre Rezeption: laut Kittler "das unmögliche Reale" beim unvermittelten Umschlag in "Pragmalinguistik"."Eine Literatur, die nur Einzelheiten aufschreibt, kennt auch auf seiten ihrer Leser oder Nichtleser nur Einzelne". Ob Texte die »Leut« (zit Hofmannsthal) erreichen, ist eine Frage von Statistik und empirischer Sozialforschung. Nachweisen läßt sich nur,
wie die unmögliche Adresse Leut in die Textur eingeht. Welche Maßnahmen Schriften also treffen, um das gebildete Individuum nicht zu erreichen. Als Verteilungsmodus von Texten, die Abfall eines Aufschreibesystems sind, kommt nur der von Abfall in Frage. Damit aber opponiert die Literatur Punkt für Punkt dem klassisch-romantischen Programm proliferierender Dichtung.(348)
Sie opponiert auch darin, daß Autorennamen verschwinden und Namen in Texten "als pure Signifikanten [...] imaginäre Identifikationen" ausschließen.
Der despotische Signifikant [...], der überm Aufschreibesystem von 1900 steht, befiehlt Seelenmord oder Menschheitsdämmerung. Deshalb verschwinden Autornamen, manche in der Nichtigkeit von Einzelfällen, andere im faktischen Anonymat.(349)
Davon zeugen Döblin und Rubiner. Und so setzen Künstler im "elitären Buchstabenkultraum, den das Aufschreibesystem von 1900 seinen Wortemachern läßt"(349) "auf stochastische Streuung, sie alle operieren auf strategischem Feld"(350) und machen "das Buch zum fait social" für eine Literatursoziologie, wie sie 1904 Gustave Lanson erfand. Wo es "längst nur noch Signifikanten gibt, die nicht nur nicht Autorgedanken, sondern gar nichts besagen", kommt, was "faktische Leser am Sozialfaktum Buch haben [...] ganz ohne Denken aus".(350)
Folgt über weitere "diskursive Handgreiflichkeiten", "Einschnitte" und "Medientranspositionen" die Freilegung neuer Textcorpora von "anonymen oder pseudonymen Frauen, wie sie um 1800 am Rande des Schreibens blieben"(352). Diese "rücken ins Systemtemzentrum, einfach weil die Autoren oder Männer, in deren Werk sie zugrundegingen, ihrerseits zugrundegehen." So Bettina Brentanos Korpus.
Das Korpus Bettina Brentano, auch Welt genannt, tritt an die genaue Stelle von Autorschaft und Werkherrschaft. Wo der Schöpfer namens Goethe ausfällt, wird offener Raum, von Vogel- und Frauenstimmen durchgangen. Eine Briefschreiberin, die ganz glücklich darüber war, unbedeutend zu sein, rückt nicht posthum zur Autorin auf. Aber was sie in den Wind schrieb, hört auf, mangels Autorschaft aufzuhören. Gerade weil es nur ewig eine Liebe wiederholt, ist dieses Schreiben mit einemmal an der Zeit. An einer Zeit, wo ewige Wiederkehr opaker Diesheiten Schreiben überhaupt definiert.(352)
Es ist das diskursive Ereignis der Unterbrechung einer Goethelektüre in Rilkes Aufzeichnungen..., die diese Leerstelle frei- und das "Korpus" an ihrer Stelle einsetzt. (Einzelheiten 352 ff).
Brigge, statt durch Goethelesen koninuierlich zur eigenen Autorschaft zu wachsen, setzt seine Lektüre einer Unterbrechung aus, die nicht anders fungiert als alle Malteserkreuze des Films oder Tachistoskope der Psychophysik.(353)
Eine Frau, Abelone, liest Bettinas Briefe ohne die Antworten Goethes. "Eine Frau, die im doppelten Wortsinn unerhörte Liebesbriefe einer Frau vorliest, schließt um beider Geschlecht einen Kreis und männliche Hermeneuten, heißt das, aus".
So fallen "die Funktionen produktiven Fortschreibens und reinen Konsums, wie sie im Aufschreibesystem von 1800 die zwei Geschlechter spezifiziert haben, gemeinsam aus"(353) und "an genau der Stelle, wo die Gottheit Autor verschwindet, erscheinen schreibende Frauen, so ungelesen wie irreduzibel", und "eine Literaturgeschichte [...], die nur aus unerhörten und intransitiven Liebesrufen besteht".(354) Viele Schreiberinnen nicht mehr mit der Einen Mutter "konfundieren" zu können entspricht aber "der Regel unmöglicher Exhaustion", die das Aufschreibesystem von 1900 "nirgens strenger [befolgt] als auf dem Felde des Geschlechterunterschieds". Was macht es also mit vielen Schreiberinnen statt Einer Mutter? Die Stimme Lacans - wohl eher als die von Rilke (354) - sagt es aus dem Hintergrund : es zählt sie ab, "une par une", und kommt nicht zu Ende bei einer Zahl, die das Reale abzählt oder als reelle Zahl endlos berechnet.(78)
"La femme n'existe pas. Im Aufschreibesystem von 1900 sind Frauen unzählige Einzahlen und irreduzibel aufs Singularetantum Frau oder Natur. Alle Medien und Wissenschaften, die das Aufschreibesystem von 1900 tragen konkurrieren in" 3. Damenopfer (355 ff). Das Damenopfer führt nicht nur der ungarische Schachmeister Charousek (1873-1899) ein, sondern auch der Edison, den Villiers de l`Isle-Adam in L`Eve future feiert.(355 ff)
Alle Züge, die Dichter und Denker ihrem imaginären Frauenbild zuschrieben, vervollkommnet und liquidiert der technologische Ersatz. Spalanzanis mechanische Olimpia konnte gerade den einen Urseufzer; Edisons mechanische Eva spricht 60 Stunden lang [und zwar über zwei Phonographen, die das "ihnen eigefütterte Vokabular nach Ebbinghausmethode auswerfen", KM]. Jene große Dame Natur, von der alle Welt redete und niemand etwas sah, stirbt an perfekter Simulation. L`Eve future oder der negative Beweis, daß es Mutter Natur nicht gibt. Mit der unvermeidlichen Folge, daß nach Edisons Experiment nur noch plurale Frauen übrig bleiben, zwar Experimentalabfall, aber real.(356)
"Den Technikern folgen Theoretiker."
Wenn das Phantasma Frau aus einer Verteilung von Form und Stoff, Geist und Natur, Schreiben und Lesen, Produktion und Konsumtion auf die zwei Geschlechter entstanden ist, so etabliert der Widerruf dieser Polarität ein neues Aufschreibesystem.(356)
Und auch die Psychoanalyse liefert "nur ein[en] Beweis mehr fürs Nichtsein Der Frau".(357)
Ihr eines Ach und der eine Punkt, von dem aus es einem klassischen Therapeuten namens Mephisto heilbar schien, verschwinden miteinander. An die entstandene Leerstelle treten unabzählbare Reden, die Freud registriert [...]. Was um so nötiger ist, als Hysterie, wiewohl eine ganze Sprache, an dialektalen Wendungen dem Wetterwendischen wenig nachgibt.(357)
Da Freud seine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse mit "Meine Damen und Herren!" beginnt und ihnen über Traumsymbole "erstens einen Phallos oder Griffel" zu haben und "zweitens Holz, Papier, Buch" zu sein erlaubt, sind Frauen im Plural nicht mehr vom Wissen ausgeschlossen und hindert sie "nichts mehr am Schreiben".(359)
Wenn beide Geschlechter auf beiden Seiten der Differenz stehen, sind sie endlich reif für ein Schreibzeug, das ohne Subjekt und Griffel auskommt.
Es sind aber Maschinen, die "den polaren Geschlechtsunterschied mitsamt seinen Symbolen" "liquidieren" und neben Freud eröffnet die Remington Frauen den Einzug in die Schreibstuben.
Ein Schreibzug, das in keiner Weise mehr Liebesvereinigungen zwischen Schrift und Stimme, Anselmus und Serpentina, Geist und Natur vorspielt, kommt für koedukatorische Praktiken wie gerufen. Die Schreibmaschine führt (und solche Kleinigkeiten übersieht Foucaults Ordnung der Dinge) »eine ganz neue Ordnung der Dinge herauf«.(79)
Das bezeugt ausführlicher Bram Stokers Dracula von 1897. Im einzelnen S.362 ff, im Allgemeinen:
Im Aufschreibesystem von 1900 heißt die Alternative nicht mehr Mutterschaft oder Hysterie, sondern Maschine oder Zerstörung. Mina Harker tippt, Lucy Westenras zweite Persönlichkeit ist Wille vom Willen eines despotischen Signifikanten. Da eine Desexualisierung, die Textverarbeitung noch der intimsten Tagebücher und perversesten Sexualitäten erlaubt, dort die Wahrheit.(363/64)
Dem despotischen Grafen/Signifikanten ist "ein ganzer Medienverbund von Psychoanalyse und Textverarbeitungstechniken" auf den Fersen, und "unter nachrichtentechnischen Bedingungen zergeht der Despot Alteuropas zum Grenzwert Brownscher Molekularbewegungen, die ja das Rauschen auf allen Kanälen sind" - was im Roman schlicht heißt, daß er sich in Staub auflöst. Den Absturz dieses Signifikanten feiernd schreibt Kittler: "Der große Vogel über Transsylvanien fliegt nicht mehr."(364) "Im Aufschreibesystem von 1900 - das ist sein offenbare Geheimnis - gibt es keine sexuelle Beziehung der Geschlechter". Das zeigen Henry James Diktate in die Remington von Theodora Bosanquet. Nach einem Schlaganfall raubt ein Blutgerinnsel im Hirn "James zwar nicht die klare Diktion, aber alle verabredeten Bedeutungen. Lähmung und Asymbolie kennen nur noch Reales. Und dies Reale ist eine Maschine."
Die Remington samt ihrem Medium [die Sekretärin] wird ans Sterbebett beordert, um drei Diktate eines delirierenden Hirns aufzunehmen. [...] Nichts ist undenkbarer, aber auch nichts klarer: eine Maschine registriert sich selbst.(365)
"Der Schriftsteller verlangt nicht nach Theodora Bosanquet, sondern nach ihrer Schreibmaschine" oder die Maschine verlangt nach sich selbst: "Und das Damenopfer ist vollbracht".
Das bezeugt weiterhin Richard A. Bermanns nie verfilmtes Drehbuch Leier und Schreibmaschine von 1913, aus dem Kinobuch von Kurt Pinthus.(366 ff) Verfilmt wurde das Drehbuch aber, so Kittler, im Realen, nämlich in der Liebesgeschichte des Schriftstellers Kafkas und der Schreibmaschinistin Felice Bauer von der Parlographen- und Diktiergerätfirma Carl Lindström A.G (369 ff) - eine dreieinhalb Seiten lange Analyse, die inzwischen in der Kafkaforschung nicht mehr unzitiert bleiben kann. In dieser Liebe darf, da "Schrifsteller im Aufschreibesystem von 1900 selber der Abfall sind, den sie aufschreiben", "über das Schreiben hinaus auch gar nichts laufen".(372)
Im Briefwechsel Kafka-Bauer gibt es von beiden Seiten her keine Möglichkeit, mit Wörtern Seelen zu erreichen. Auf der einen Seite verhält ein Schreiben, daß die Stelle von Irrsinn einnimmt und nicht aufhört, seine Nichtigkeit nicht aufzulösen. Auf der anderen beginnt eine Textverarbeitung, die nicht minder verschwindend und nurmehr Medium unter Medien ist.(372)
Die "Medienverbund-Amateure Rilke [372 f] und Kafka [formulieren] ihr Damenopfer noch höflich: Mit sanften Abgrenzungen und Liebesbriefen [...]. Expressionisten sind da gröber"(372) und machen damit klar, "daß die Auflösung der Funktion Autorschaft den Büchern alle Liebe austreibt [...]." Eine nachträgliche Bestätigung ihrer Programmatik kommt dann aus den Federn von Benn und Valéry. Benn sucht sich eine »Pallas, nie beirrt, immer im Helm, nie befruchtet, schmale kinderlose Göttin, vom Vater geboren ohne das Geschlecht« (zit 373). Eine Literatur kommt also aus diesen Federn, "die Frauen nur arrangiert und Die Frau oder Mutter gar verhöhnt", und eine Pallas als Schutzgöttin ist notwendig, um Abfall auf den Schreibtischen von "differenzierte[n] Junggesellen" oder "Junggesellenmaschinen" in Kunst verzaubert. So kehrt Kittler kehrt zu seinem Anfang, zu (Mon) Faust zurück, diesmal von Valéry, um an ihm die "systematische Verkehrung aller klassischen Schreibpraktiken"(375) zu zeigen. Demoiselle Lust aus dem ersten Teil des Dramenfragments, deren Ohr "in phonographischer Treue Diktat aufzunehmen" und wiederzugeben hat, bringt als "eine zweite Pallas" "Ordnung ins kombinatorische Chaos des letzten Faust" und räumt mit phonographischer Treue "die konstitutiven Verdrängungen von Diskursen weg"(376). "So zersetzt die pure Gegenwart einer Sekretärin das eine Menschengeschlecht und nur zwei getrennte Geschlechter übrig zu lassen. [...] Frauen im Plural machen Gretchenaffären (wie Faust den Teufel aufklärt) schlicht unmöglich. Und weil unter hochtechnischen Bedingungen Diskurse nebensächlich sind, muß nicht einmal mehr ausgesprochen werden, was an die Stelle von Liebe und Seufzern getreten ist. Signifikanten sind unzweideutig und dumm. Die lacht, heißt Lust."(377)