Die "Antrittsvorlesung" (104) beginnt mit
künstlerischen Großunternehmen des 19. Jahrhunderts und endet, "in
jedem Wortsinn, mit Apocalypse now."(104) Wagners Musikdrama
ist "das erste Massenmedium im modernen Wortsinn"(94). "Künste
[...] unterhalten nur symbolische Beziehungen zu den Sinnesfeldern,
die sie voraussetzen. Medien dagegen haben im Realen selber einen
Bezug zur Materialität, mit der sie arbeiten. Photoplatten
verzeichnen chemische Spuren von Licht, Schallplatten mechanische
Spuren von Geräusch." Wagner war dieser Unterschied zwischen
Künsten und Medien klar. Dichtung war für das "Großunternehmen"
seiner Kunst eine "technologische Lücke". Die zu füllen, erfand er
"den ersten Kunstapparat zur Reproduktion sinnlicher Daten als
solcher". "Reflexion und Einbildungskraft, Bildung und
Alphabetismus, alle jene gefeierten psychischen Fähigkeiten, die
klassisch-romantische Dichtung voraussetzen mußte, um mit ihrem
Papier überhaupt Leute zu erreichen, wurde auf einen Schlag
obsolet. Denn in der revolutionären Finsternis des Festspielhauses,
auf die alle Finsternisse unserer Kinosäle zurückgehen, begann das
Medium Musikdrama sein Spiel auf und mit den Nerven des
Publikums."(94)
Die einzige Macht, die in der Götterdämmerung am
Ende von Der Ring der Nibelungen als "unsichtbare, aber
unbesiegte Macht", nämlich als "technische" überlebt, ist der
"große Ingenieur Alberich". Diese Macht aber, ob sie nun "Alberich
mit seiner Peitsche oder Dirigenten mit ihrem Stab über Nibelungen,
Musiker und Hörer ausüben", "bleibt als physiologische
Einschreibung in Körpern und Nerven".(95)
Im Vergleich des "Mediums Musikdrama mit
traditionellem Drama und traditioneller Oper" zeigen sich die
"Innovationen von Alberich alias Wagner" schlagend. Das klassische
Drama war "nicht mehr als ein Austausch verbaler Informationen
zwischen Leuten, die ganz selbstredend sprechen und zuhören
konnten". Auch bei Kommunikationsstörungen "verschwand die
Bedeutung gesprochener und gehörter Wörter noch nicht im Rauschen
des Realen. [...] Das akustische Feld als solches mit seinen
sinnlosen Geräuschen und körperlosen Stimmen hatte im Drama keinen
Raum."(95) Die Oper "verfuhr demgegenüber als akustischer
Datenfluß", aber nur partiell, denn zugleich folgte sie dem Modell
Drama", entsprechend der "Arbeitsteilung zwischen Libretto und
Partitur".
"Wagners technisches Programm" konnte aber nicht
einfach "zwei Kunstgattungen mit unterschiedlichen Sinnesfeldern"
verleimen. "Das Musikdrama, um die materialgerechte Faktur moderner
Massenmedien zu erlangen, mußte in die Materialität von
Datenflüssen selber eingreifen."(95) Die "wechselseitige
Motivierung unterschiedlicher Sinnesfelder" sicherstellen, d.h.
gleichzeitig in Text und Partitur, in Drama und Musik auftauchen
kann "ein und nur ein Phänomen": "Wir alle (außer den
Wagnerforschern) kennen es - das Atmen."
Für Siegfried wird "Brünnhildens Atem aus einem
Zeichen für Leben und Erotik schließlich selber zum erotisch
begehrten Objekt" - »dieses Atems wonnig warmes Gedüft« (zit 96).
"Die Materialität musikdramatischer Datenflüsse beruht auf der
Lebensintensität in Zwerchfell, Lunge, Kehle und Mund. Deshalb ist
Singen die letzte und wichtigste Verwandlung des Atems. Mit
demselben Atem, den Siegrieds Kuß ihr gab oder womöglich auch nahm,
beginnt die wiedererwachende Brünnhilde ihre Begrüßung von Sonne,
Licht und Erde, den drei Medien physiologischen Lebens." Zwar wird
diese Arie nach dem Erwachen - und "Erwachen bei Wagner [...] heißt
allemal Singen -immer "verbaler, bedeutender und psychologischer".
"Aber weil die Arie ihren Urpsrung im Atmen selber hatte, bleibt
sie doch auf jener physiologischen Ebene, deren Theorie erst
Wagners Zeitgenossen aufgestellt haben. Akustik und
Stimmphysiologie begannen mit Ellis in England, Helmholtz in
Deutschland, Brücke in Wien." Deswegen hört Siegfried auch anderes
als Verbales oder Brünnhildens "Beteuerung ihrer gleichermaßen
ewigen wie keuschen Liebe": "Sound" nennt Kittler des »Atems wonnig
warmes Gedüft«: "Brennende Gegenwart eines Begehrens anstelle
ewiger oder platonischer Liebe; Sound (im genauen Sinn von Jimi
Hendrix) anstelle verbaler Bedeutung: physiologisch erregte Sinne
anstelle einer psychologischen Mutter-Imago". Die "physiologischen
Wurzeln von Gesang in der Atmung" werden also aufgedeckt, und
deshalb darf sich Siegfried ein unerhörtes "Finale [...]
erlauben und den Liebesakt, heißt das, in seiner Physiologie auf
die Bühne bringen"(97). Die "respiratorische Erotik" (nach Lacan)
ist aber keine Ausnahme in Wagners Musikdramen. Immer wieder
"dieselbe Urszene", "daß eine Dramenfigur aufs Atmen einer anderen
lauscht" als ein "diagnostische[s] Zeichen von Leben oder
Tod".
Die meisten Deuter Wagners aber haben womöglich
"nur Augen für die Buchstaben, aber keine Ohren für all das Atmen,
Rauschen und Stürmen, das Wagners Poesie entdeckte". "Für Deuter
jedenfalls bleiben Fakten der Physiologie und Medientechnik zu dumm
oder zu unbewußt." "Aber in Massenmedien wird Unbewußtes zur Sache
selber. Die Nachrichtenkanäle traditioneller Künste waren mit
Bewußtsein durchzuschalten und mit Bewußtsein zu unterbrechen. Die
eine Rede hielten oder verstanden, konnten es auch lassen. Die
Blicke sendeten oder Empfingen, konnten auch die Augen schließen.
Sound dagegen durchbricht den Panzer namens Ich, denn unter allen
Öffnungen der Sinnesorgane sind Ohren am schwersten zu schließen.
[...] Die allesdruchdringende Macht von Sound trägt Wagners
artistischen Imperialismus."(97/98)
So ist der Inhalt von Lohengrin "die
allesdurchdringende Macht von Akustik selber"(98). Dort gelingt es
"Elsas Flehen, Klagen und Stöhnen", ihren Lohengrin "über eine
Distanz von etwa vierhunder Meilen" herbeizukommandieren. "Eine
unmögliche Leistung, wenn nicht, schon bei Wagner, das Medium die
Botschaft wäre." "Aber weil Elsa die Inhalte ihres Klagens, Flehens
und Stöhnens übergeht, um nur das Faktum dieser Geräusche zu
erwähnen, wird McLuhans Theorie Wirklichkeit. Wie bei Siegfrieds
Hören auf Brünnhilde oder bei Kundrys Sprechen, das nur ein »rauher
und abgebrochener« »Versuch« ist, »wieder Sprache zu gewinnen«,
schrumpft der Diskurs auf seine stimmphysiologischen Modalitäten.
Kaum hörbare Geräusche, losgelöst von Mund und Willen ihrer
Sprecherin, schwellen an zu einem »gewaltigen« oder absoluten
»Tönen«, das dann als »fernhin hallender« Sound durch Raum und Zeit
reist."(98)
Diesen akustischen Effekt konnte "weder das
Mittelalter Elsas noch das 19. Jahrhundert Wagers [...]
implementieren". "Erst unsere Ohren kennen ihn auswendig: Nacht für
Nacht erzeugen die PA-Anlagen der Rockmusik (Verstärker und
Verzögerungslinien, Equalizer und Mischpulte) solche
Stimmgeräusche, Raumklänge und Halleffekte. Mit anderen Worten, den
Worten von Jimi Hendrix: Wagners Elsa ist die erste Bewohnerin von
Electric Ladyland. Was sie so maßlos genau als Tönen, Schwellen und
Hallen beschreibt, hat mit Gebeten oder Christenglauben wenig zu
tun. Es nimmt einfach die Theorie positiver Rückkopplungen und
damit von Oszillatoren vorweg."(98) Implementieren konnte Wagner
damals "das Feedback von Sound" damals nicht, also mußte er es
komponieren. "Um Elsas kaum hörbare Klagen zum fernhin hallenden
Sound verstärken zu können, muß das Orchester und zumal das Blech
sie aufnehmen". Also hat "Wagners Orchester [...] die exakte
Funktion eines Verstärkers. Deshalb ist die Autobiographie immer
wieder so fasziniert von Echos und Rückkopplungen, von
Fading-Effekten und akustischen Täuschungen. Deshalb auch ist
Adorno in seiner Treue zu europäischer Kunst und musikalischer
Logik an Wagner gescheitert. Verstärker setzen Philosophie außer
Kraft. Sie kassieren traditionelle Werte von Musik wie thematische
Arbeit oder polyphonen Satz, all diese grundsätzlich verschrifteten
Daten, und ersetzen sie durch Sound. Musik bei Wagner wird zu einer
Sache reiner Dynamik und reiner Akustik."(99)
"Den Beweis dafür erbringt, in Text und Partitur
zugleich, der Tristan." Die Vorlage, der von Akrosticha und
Anagrammen durchwobene Text Gottfried von Straßburgs, instituiert
"mit Buchstabenspielen, die bloßen Ohren ja notwendig entgehen,
[...] ein neues Publikum der Alphabeten oder Leser." Hingegen ist
"Wagners Tristan [...] der völlige Widerruf dieses
Nachrichtensystems, wie es von Gottfried über Gutenberg bis Goethe
geherrscht hatte, der Widerruf also von Literatur selber."(99) Im
Musikdrama erscheint "an der genauen Stelle" des "Buchstabencodes"
der Initialen T(ristan) und I(solde) ein in Text und
Partitur gegenseitig motivierter "Sound", der textuell zwischen
Naturgeräusch (Quelle) und Orchesterinstrument (Hörnerschall)
oszilliert. Im Orchester erscheint er als ein Klangeffekt, der
verboten war, "solange Musik unter der Herrschaft von Partituren
und Partituren unter der von Schrift standen". "Aber Wagners neues
Medium Sound sprengt sechshundert Jahre Litterlität oder Literatur.
Überall im Tristan, von Anfang bis Ende, lösen akustische
Effekte die symbolische und d.h. schriftliche Faktur von Drama und
Musik ab."(100)
Über die Skizzierung mehrerer "Schaltkreise einer
akustischen Rückkopplung" und Verschaltungen textueller und
akustischer Ereignisse (100 ff) gelangt Kittler zur
medientechnischen Bestimmung von Isoldes Liebestod: "Er feiert
unterm maßlos genauen Titel Weltaltem eine akustische Macht über
und jenseits aller Menschheit."(101) In der "Rückkopplung von
Orchester und Stimme" wird Isoldes anfänglich leiser Gesang zu
einen "Crescendo im Wortsinn" verstärkt: "ein Wachsen". "Im Feld
von Isoldes Ohren oder Halluzinationen beginnt die Leiche Tristans
wieder zu leben, zu schwellen und zu atmen." Sein erloschener Atem
"kehrt als Orchestermelodie wieder" und "dringt ein in Hörer und
Hörerinnen". Das alles singt oder besingt Isoldes
orchesterverstärkte Stimme, und "supplementiert also die vermißte
ihres Liebhabers". "So unindividuell ist die Stimme bei Wagner, so
ekstatisch seine Akustik, daß im Ohr einer Singenden die eigene
Stimme wesentlich als Stimme des Anderen erscheint".(80)
Isoldens Frage »Freunde! Seht und fühlt ihr's nicht?« (zit 102),
ganz wie die Jimi Hendrix-Frage »Have you ever been to Electric
Ladyland?«, beantwortet sich selbst "durch Soundeffekte, die sie
auslöst". "Im Orchester erfährt der tote Tristan eine akustische
Erektion. Und weil die angeredeten Freunde Isoldes schon fürs
einprogrammierte Publikum des Musikdramas stehen, wird das
Undenkbare doch hörbar. Isolde und ihre Zuhörer »ertrinken«, wie
sie sagt oder vorsagt, in der »höchsten«, nämlich »unbewußten«
»Lust« eines »wogenden Schwalls«, eines »tönenden Schalls«. Sein
Name : »Weltatem«; seine Technologie: das Orchester
fortissimo."(102)
Die Welturaufführung von Tristan und Isolde
(1865) "war der Beginn moderner Massenmedien". "Tristans akustische
Erektion als Weltatemsäule des Orchesters sprengt alle
Möglichkeiten traditionller Kunst. Nur Medien können
implementieren, was Isolde ebenso technisch wie erotisch wogenden
Schwall oder tönenden Schall nennt."
Sodann kann nach der "medientechnisch exakt"
hergestellten "vollkommene[n] Hörwelt" deren "Kopplung mit einer
»Sehwelt« ins technische Zeitalter treten": "Parallelschaltungen
mit der neuen, nämlich technischen Sichtbarkeit des Films" noch vor
ihrem wirklichen Auftreten.(103 f) Pläne für "Bewegte Bilder" auf
der Bühne zielten auf die Ekstase der Zuschauer und "mittlerweile
wird genau diese Ekstase als Hollywoodfilm mit Stereoton weltweit
produziert". "Damals aber umschrieb sie nur Wagners technische
Innovationen. Das Musikdrama ist eine Maschine, die auf drei Ebenen
oder Datenfeldern arbeitet: erstens die verbale Information,
zweitens das unsichtbare Bayreuther Orchester, drittens die
szenische Visualität mit ihren Kamerfahrten und Nebelscheinwerfern
avant la lettre. Der Text wird eingespeist in eine Sängerkehle, der
Output dieser Kehle in einen Verstärker namens Orchester, der
Output dieses Orchesters in eine Lightshow und das Ganze
schließlich ins Nervensystem des Publikums. Zu guter Letzt, wenn
die Leute verrückt sind, ist jede Spur von Buchstaben getilgt.
Daten, statt ins Alphabet der Bücher und Partituren encodiert zu
werden, werden von Medien verstärkt, gespeichert und wiedergegeben.
[...] Das Musikdrama schlägt alle Literatur."(113)
"Deshalb ist Weltatem, Isoldes Schlußwort, keine
Metapher." Deshalb steigt der despotisch Signifikant Alteuropas,
der nostalgisch vermißte Initiationprügel der Diskursanalyse,
wieder auf mit der verstärkten "Durchschlagskraft der
Kommunikationsmedien" (Editorial der Herausgeber, S. 7). "Weltatem
[...] ist der eigene und geeignete Name des Orchesters. Ganz wie
die Division, dieser Kampfverband aus den drei Waffensystemen
Infanterie, Kavallerie und Artillerie, war auch das Orchster als
Drill, als Macht und als Instrumentalverband eine Erfindung des
großen 19. Jahrhunderts. Wagner wußtes es und sagte es. Sein Gott
Wotan, ein Gott der Heere und Ekstasen, der Initiation und des
Todes, bezeichnet in der Etymologie wie in der Tetralogie die Wut
einer übermenschlichen und prophetischen Stimme."(103)
Folgt das apokalyptische Ende der
Antrittsvorlesung: Verschaltung von Wagners Musikdrama mit Coppolas
Apocalypse Now, "diese[r] Posthistorie von Wagners reitenden
Walküren" mit "Feedback zwischen Musikdrama und
Kriegstechnologie"(104); Verschaltung dieser Posthistoire mit
"eine[r] Vorgeschichte in zwei Weltkriegen": Major Ernst Jünger,
das Glas Burgunder mit Erdbeeren in der Hand, die "»hohe Schönheit«
und »dämonische Kraft« jener Multimedia-»Schauspiele«" der
Nachtangriffe der Royal Air Force über Paris genießend. Aber das
Zitat aus Strahlungen verweist nicht auf "den Nihilismus und
Ästhetizismus des Trinkers", wie französische Kritiker meinen, auch
nicht auf das Ende von Literatur, sondern schlicht und einfach, den
schlecht informierten Interpreten zur Lehre, auf Literatur selbst:
"Denn Jünger auf seiner Hotelterassse zitiert nur: einen anderen
Weltkrieg, einen anderen Schriftsteller." Nämlich den ersten und
Marcel Proust. Zitat Proust, A la recherche tu temps perdu,
Hgg. Pierre Clarac und André Ferré, Paris 1954, Bd. II, S. 758.,
Zitat Weltkrieg, Paris 1915, S. ?