Friedrich Kittler. Weltatem. Über Wagners Medientechnologie. In: Diskursanalysen 1, Medien, Hgg. Friedrich A. Kittler, Manfred Schneider, Samuel Weber. Opladen 1987, S. 94-107.

Die "Antrittsvorlesung" (104) beginnt mit künstlerischen Großunternehmen des 19. Jahrhunderts und endet, "in jedem Wortsinn, mit Apocalypse now."(104) Wagners Musikdrama ist "das erste Massenmedium im modernen Wortsinn"(94). "Künste [...] unterhalten nur symbolische Beziehungen zu den Sinnesfeldern, die sie voraussetzen. Medien dagegen haben im Realen selber einen Bezug zur Materialität, mit der sie arbeiten. Photoplatten verzeichnen chemische Spuren von Licht, Schallplatten mechanische Spuren von Geräusch." Wagner war dieser Unterschied zwischen Künsten und Medien klar. Dichtung war für das "Großunternehmen" seiner Kunst eine "technologische Lücke". Die zu füllen, erfand er "den ersten Kunstapparat zur Reproduktion sinnlicher Daten als solcher". "Reflexion und Einbildungskraft, Bildung und Alphabetismus, alle jene gefeierten psychischen Fähigkeiten, die klassisch-romantische Dichtung voraussetzen mußte, um mit ihrem Papier überhaupt Leute zu erreichen, wurde auf einen Schlag obsolet. Denn in der revolutionären Finsternis des Festspielhauses, auf die alle Finsternisse unserer Kinosäle zurückgehen, begann das Medium Musikdrama sein Spiel auf und mit den Nerven des Publikums."(94)
Die einzige Macht, die in der Götterdämmerung am Ende von Der Ring der Nibelungen als "unsichtbare, aber unbesiegte Macht", nämlich als "technische" überlebt, ist der "große Ingenieur Alberich". Diese Macht aber, ob sie nun "Alberich mit seiner Peitsche oder Dirigenten mit ihrem Stab über Nibelungen, Musiker und Hörer ausüben", "bleibt als physiologische Einschreibung in Körpern und Nerven".(95)
Im Vergleich des "Mediums Musikdrama mit traditionellem Drama und traditioneller Oper" zeigen sich die "Innovationen von Alberich alias Wagner" schlagend. Das klassische Drama war "nicht mehr als ein Austausch verbaler Informationen zwischen Leuten, die ganz selbstredend sprechen und zuhören konnten". Auch bei Kommunikationsstörungen "verschwand die Bedeutung gesprochener und gehörter Wörter noch nicht im Rauschen des Realen. [...] Das akustische Feld als solches mit seinen sinnlosen Geräuschen und körperlosen Stimmen hatte im Drama keinen Raum."(95) Die Oper "verfuhr demgegenüber als akustischer Datenfluß", aber nur partiell, denn zugleich folgte sie dem Modell Drama", entsprechend der "Arbeitsteilung zwischen Libretto und Partitur".
"Wagners technisches Programm" konnte aber nicht einfach "zwei Kunstgattungen mit unterschiedlichen Sinnesfeldern" verleimen. "Das Musikdrama, um die materialgerechte Faktur moderner Massenmedien zu erlangen, mußte in die Materialität von Datenflüssen selber eingreifen."(95) Die "wechselseitige Motivierung unterschiedlicher Sinnesfelder" sicherstellen, d.h. gleichzeitig in Text und Partitur, in Drama und Musik auftauchen kann "ein und nur ein Phänomen": "Wir alle (außer den Wagnerforschern) kennen es - das Atmen."
Für Siegfried wird "Brünnhildens Atem aus einem Zeichen für Leben und Erotik schließlich selber zum erotisch begehrten Objekt" - »dieses Atems wonnig warmes Gedüft« (zit 96). "Die Materialität musikdramatischer Datenflüsse beruht auf der Lebensintensität in Zwerchfell, Lunge, Kehle und Mund. Deshalb ist Singen die letzte und wichtigste Verwandlung des Atems. Mit demselben Atem, den Siegrieds Kuß ihr gab oder womöglich auch nahm, beginnt die wiedererwachende Brünnhilde ihre Begrüßung von Sonne, Licht und Erde, den drei Medien physiologischen Lebens." Zwar wird diese Arie nach dem Erwachen - und "Erwachen bei Wagner [...] heißt allemal Singen -immer "verbaler, bedeutender und psychologischer". "Aber weil die Arie ihren Urpsrung im Atmen selber hatte, bleibt sie doch auf jener physiologischen Ebene, deren Theorie erst Wagners Zeitgenossen aufgestellt haben. Akustik und Stimmphysiologie begannen mit Ellis in England, Helmholtz in Deutschland, Brücke in Wien." Deswegen hört Siegfried auch anderes als Verbales oder Brünnhildens "Beteuerung ihrer gleichermaßen ewigen wie keuschen Liebe": "Sound" nennt Kittler des »Atems wonnig warmes Gedüft«: "Brennende Gegenwart eines Begehrens anstelle ewiger oder platonischer Liebe; Sound (im genauen Sinn von Jimi Hendrix) anstelle verbaler Bedeutung: physiologisch erregte Sinne anstelle einer psychologischen Mutter-Imago". Die "physiologischen Wurzeln von Gesang in der Atmung" werden also aufgedeckt, und deshalb darf sich Siegfried ein unerhörtes "Finale [...] erlauben und den Liebesakt, heißt das, in seiner Physiologie auf die Bühne bringen"(97). Die "respiratorische Erotik" (nach Lacan) ist aber keine Ausnahme in Wagners Musikdramen. Immer wieder "dieselbe Urszene", "daß eine Dramenfigur aufs Atmen einer anderen lauscht" als ein "diagnostische[s] Zeichen von Leben oder Tod".
Die meisten Deuter Wagners aber haben womöglich "nur Augen für die Buchstaben, aber keine Ohren für all das Atmen, Rauschen und Stürmen, das Wagners Poesie entdeckte". "Für Deuter jedenfalls bleiben Fakten der Physiologie und Medientechnik zu dumm oder zu unbewußt." "Aber in Massenmedien wird Unbewußtes zur Sache selber. Die Nachrichtenkanäle traditioneller Künste waren mit Bewußtsein durchzuschalten und mit Bewußtsein zu unterbrechen. Die eine Rede hielten oder verstanden, konnten es auch lassen. Die Blicke sendeten oder Empfingen, konnten auch die Augen schließen. Sound dagegen durchbricht den Panzer namens Ich, denn unter allen Öffnungen der Sinnesorgane sind Ohren am schwersten zu schließen. [...] Die allesdruchdringende Macht von Sound trägt Wagners artistischen Imperialismus."(97/98)
So ist der Inhalt von Lohengrin "die allesdurchdringende Macht von Akustik selber"(98). Dort gelingt es "Elsas Flehen, Klagen und Stöhnen", ihren Lohengrin "über eine Distanz von etwa vierhunder Meilen" herbeizukommandieren. "Eine unmögliche Leistung, wenn nicht, schon bei Wagner, das Medium die Botschaft wäre." "Aber weil Elsa die Inhalte ihres Klagens, Flehens und Stöhnens übergeht, um nur das Faktum dieser Geräusche zu erwähnen, wird McLuhans Theorie Wirklichkeit. Wie bei Siegfrieds Hören auf Brünnhilde oder bei Kundrys Sprechen, das nur ein »rauher und abgebrochener« »Versuch« ist, »wieder Sprache zu gewinnen«, schrumpft der Diskurs auf seine stimmphysiologischen Modalitäten. Kaum hörbare Geräusche, losgelöst von Mund und Willen ihrer Sprecherin, schwellen an zu einem »gewaltigen« oder absoluten »Tönen«, das dann als »fernhin hallender« Sound durch Raum und Zeit reist."(98)
Diesen akustischen Effekt konnte "weder das Mittelalter Elsas noch das 19. Jahrhundert Wagers [...] implementieren". "Erst unsere Ohren kennen ihn auswendig: Nacht für Nacht erzeugen die PA-Anlagen der Rockmusik (Verstärker und Verzögerungslinien, Equalizer und Mischpulte) solche Stimmgeräusche, Raumklänge und Halleffekte. Mit anderen Worten, den Worten von Jimi Hendrix: Wagners Elsa ist die erste Bewohnerin von Electric Ladyland. Was sie so maßlos genau als Tönen, Schwellen und Hallen beschreibt, hat mit Gebeten oder Christenglauben wenig zu tun. Es nimmt einfach die Theorie positiver Rückkopplungen und damit von Oszillatoren vorweg."(98) Implementieren konnte Wagner damals "das Feedback von Sound" damals nicht, also mußte er es komponieren. "Um Elsas kaum hörbare Klagen zum fernhin hallenden Sound verstärken zu können, muß das Orchester und zumal das Blech sie aufnehmen". Also hat "Wagners Orchester [...] die exakte Funktion eines Verstärkers. Deshalb ist die Autobiographie immer wieder so fasziniert von Echos und Rückkopplungen, von Fading-Effekten und akustischen Täuschungen. Deshalb auch ist Adorno in seiner Treue zu europäischer Kunst und musikalischer Logik an Wagner gescheitert. Verstärker setzen Philosophie außer Kraft. Sie kassieren traditionelle Werte von Musik wie thematische Arbeit oder polyphonen Satz, all diese grundsätzlich verschrifteten Daten, und ersetzen sie durch Sound. Musik bei Wagner wird zu einer Sache reiner Dynamik und reiner Akustik."(99)
"Den Beweis dafür erbringt, in Text und Partitur zugleich, der Tristan." Die Vorlage, der von Akrosticha und Anagrammen durchwobene Text Gottfried von Straßburgs, instituiert "mit Buchstabenspielen, die bloßen Ohren ja notwendig entgehen, [...] ein neues Publikum der Alphabeten oder Leser." Hingegen ist "Wagners Tristan [...] der völlige Widerruf dieses Nachrichtensystems, wie es von Gottfried über Gutenberg bis Goethe geherrscht hatte, der Widerruf also von Literatur selber."(99) Im Musikdrama erscheint "an der genauen Stelle" des "Buchstabencodes" der Initialen T(ristan) und I(solde) ein in Text und Partitur gegenseitig motivierter "Sound", der textuell zwischen Naturgeräusch (Quelle) und Orchesterinstrument (Hörnerschall) oszilliert. Im Orchester erscheint er als ein Klangeffekt, der verboten war, "solange Musik unter der Herrschaft von Partituren und Partituren unter der von Schrift standen". "Aber Wagners neues Medium Sound sprengt sechshundert Jahre Litterlität oder Literatur. Überall im Tristan, von Anfang bis Ende, lösen akustische Effekte die symbolische und d.h. schriftliche Faktur von Drama und Musik ab."(100)
Über die Skizzierung mehrerer "Schaltkreise einer akustischen Rückkopplung" und Verschaltungen textueller und akustischer Ereignisse (100 ff) gelangt Kittler zur medientechnischen Bestimmung von Isoldes Liebestod: "Er feiert unterm maßlos genauen Titel Weltaltem eine akustische Macht über und jenseits aller Menschheit."(101) In der "Rückkopplung von Orchester und Stimme" wird Isoldes anfänglich leiser Gesang zu einen "Crescendo im Wortsinn" verstärkt: "ein Wachsen". "Im Feld von Isoldes Ohren oder Halluzinationen beginnt die Leiche Tristans wieder zu leben, zu schwellen und zu atmen." Sein erloschener Atem "kehrt als Orchestermelodie wieder" und "dringt ein in Hörer und Hörerinnen". Das alles singt oder besingt Isoldes orchesterverstärkte Stimme, und "supplementiert also die vermißte ihres Liebhabers". "So unindividuell ist die Stimme bei Wagner, so ekstatisch seine Akustik, daß im Ohr einer Singenden die eigene Stimme wesentlich als Stimme des Anderen erscheint".(80) Isoldens Frage »Freunde! Seht und fühlt ihr's nicht?« (zit 102), ganz wie die Jimi Hendrix-Frage »Have you ever been to Electric Ladyland?«, beantwortet sich selbst "durch Soundeffekte, die sie auslöst". "Im Orchester erfährt der tote Tristan eine akustische Erektion. Und weil die angeredeten Freunde Isoldes schon fürs einprogrammierte Publikum des Musikdramas stehen, wird das Undenkbare doch hörbar. Isolde und ihre Zuhörer »ertrinken«, wie sie sagt oder vorsagt, in der »höchsten«, nämlich »unbewußten« »Lust« eines »wogenden Schwalls«, eines »tönenden Schalls«. Sein Name : »Weltatem«; seine Technologie: das Orchester fortissimo."(102)
Die Welturaufführung von Tristan und Isolde (1865) "war der Beginn moderner Massenmedien". "Tristans akustische Erektion als Weltatemsäule des Orchesters sprengt alle Möglichkeiten traditionller Kunst. Nur Medien können implementieren, was Isolde ebenso technisch wie erotisch wogenden Schwall oder tönenden Schall nennt."
Sodann kann nach der "medientechnisch exakt" hergestellten "vollkommene[n] Hörwelt" deren "Kopplung mit einer »Sehwelt« ins technische Zeitalter treten": "Parallelschaltungen mit der neuen, nämlich technischen Sichtbarkeit des Films" noch vor ihrem wirklichen Auftreten.(103 f) Pläne für "Bewegte Bilder" auf der Bühne zielten auf die Ekstase der Zuschauer und "mittlerweile wird genau diese Ekstase als Hollywoodfilm mit Stereoton weltweit produziert". "Damals aber umschrieb sie nur Wagners technische Innovationen. Das Musikdrama ist eine Maschine, die auf drei Ebenen oder Datenfeldern arbeitet: erstens die verbale Information, zweitens das unsichtbare Bayreuther Orchester, drittens die szenische Visualität mit ihren Kamerfahrten und Nebelscheinwerfern avant la lettre. Der Text wird eingespeist in eine Sängerkehle, der Output dieser Kehle in einen Verstärker namens Orchester, der Output dieses Orchesters in eine Lightshow und das Ganze schließlich ins Nervensystem des Publikums. Zu guter Letzt, wenn die Leute verrückt sind, ist jede Spur von Buchstaben getilgt. Daten, statt ins Alphabet der Bücher und Partituren encodiert zu werden, werden von Medien verstärkt, gespeichert und wiedergegeben. [...] Das Musikdrama schlägt alle Literatur."(113)
"Deshalb ist Weltatem, Isoldes Schlußwort, keine Metapher." Deshalb steigt der despotisch Signifikant Alteuropas, der nostalgisch vermißte Initiationprügel der Diskursanalyse, wieder auf mit der verstärkten "Durchschlagskraft der Kommunikationsmedien" (Editorial der Herausgeber, S. 7). "Weltatem [...] ist der eigene und geeignete Name des Orchesters. Ganz wie die Division, dieser Kampfverband aus den drei Waffensystemen Infanterie, Kavallerie und Artillerie, war auch das Orchster als Drill, als Macht und als Instrumentalverband eine Erfindung des großen 19. Jahrhunderts. Wagner wußtes es und sagte es. Sein Gott Wotan, ein Gott der Heere und Ekstasen, der Initiation und des Todes, bezeichnet in der Etymologie wie in der Tetralogie die Wut einer übermenschlichen und prophetischen Stimme."(103)
Folgt das apokalyptische Ende der Antrittsvorlesung: Verschaltung von Wagners Musikdrama mit Coppolas Apocalypse Now, "diese[r] Posthistorie von Wagners reitenden Walküren" mit "Feedback zwischen Musikdrama und Kriegstechnologie"(104); Verschaltung dieser Posthistoire mit "eine[r] Vorgeschichte in zwei Weltkriegen": Major Ernst Jünger, das Glas Burgunder mit Erdbeeren in der Hand, die "»hohe Schönheit« und »dämonische Kraft« jener Multimedia-»Schauspiele«" der Nachtangriffe der Royal Air Force über Paris genießend. Aber das Zitat aus Strahlungen verweist nicht auf "den Nihilismus und Ästhetizismus des Trinkers", wie französische Kritiker meinen, auch nicht auf das Ende von Literatur, sondern schlicht und einfach, den schlecht informierten Interpreten zur Lehre, auf Literatur selbst: "Denn Jünger auf seiner Hotelterassse zitiert nur: einen anderen Weltkrieg, einen anderen Schriftsteller." Nämlich den ersten und Marcel Proust. Zitat Proust, A la recherche tu temps perdu, Hgg. Pierre Clarac und André Ferré, Paris 1954, Bd. II, S. 758., Zitat Weltkrieg, Paris 1915, S. ?