"Materialitäten der Kommunikation sind ein
modernes Rätsel, womöglich sogar das moderne."(342)(81) Nun
waren, was die Post bis zur "Parallelentwicklung von Eisenbahn und
Telegraphie" transportierte, "unzweifelhafte Materialitäten",
nämlich "erstens Personen, zweitens Briefe oder Drucksachen und
drittens Güter"(343). Deswegen brauchte dieses Transportsystem
"Adressen(82) oder Personen,
Befehle oder Nachrichten und Daten oder Güter der Kommunikation
auch nicht weiter zu unterscheiden. Auf seiner wahrhaft materielle
Basis konnten dann Philosophen vom Geist des Menschen oder vom Sinn
der Dinge schreiben."(343)
"Die Moderne dagegen begann mit einer
Ausdifferenzierung, die Güter und Personen der Post abnahm und auf
Schienen oder Nationalstraßen relativ mobil machte, [...] alles
aber nur, um die reinen Befehlsflüsse von ihnen abzutrennen und als
Immaterialitäten auf die absolute Geschwindigkeit von Licht oder
Elektrizität zu bringen." So hat Derridas Postkarte "die
Bahnen von Literatur und Philosophie, also des Buchstabens mit
seinen beschränkten Kombinationsmöglichkeiten verlassen, um
mathematischer Algorithmus zu werden." Nach Shannons berühmter
Formel
n
H = - å pi log pi
i=1
H = - å pi log pi
i=1
"mißt die Information H, wieviel Wahlfreiheit,
d.h. wieviel Ungewißheit über den Output herrscht, wenn ein
Nachrichtensystem aus einer Menge von möglichen Ereignissen mit
jeweils bekannten Wahrscheinlichkeiten ein bestimmtes Ereignis
auswählt." Zeichen können eben nach Lacan prinzipiell ersetzt
werden, wohingegen ebenfalls nach Lacan "alles Reale an seinem
Platz klebt". "Selbst die Messung seiner Wege durch Raum und Zeit
eines Nachrichtenkanals ergäbe nur physikalische Daten über Energie
oder Geschwindigkeit, aber keine Information relativ auf einen
Code."(344)
"Daß das Maximum an Information nichts anderes
besagt als höchste Unwahrscheinlichkeit, macht es aber vom Maximum
an Störung kaum mehr unterscheidbar". Mit anderen Worten: "Signale
üben tunlichst Mimikry an Störungen", womit "Information ohne
Materie und Materie ohne Information verkoppelt [sind] wie die zwei
Lesarten eines Vexierbildes"(345).
"Diese »Wiederkehr des alten Chaos im Inneren der
Körper und jenseits ihrer Realität« ist es, mit der Valérys
technischer Faust einen Teufel erschreckt, dessen »ganz elementare
Wissenschaft« bekanntlich nur Rede war. Die experimentelle
Verschaltung von Information und Rauschen macht »den Diskurs zur
Nebensache«. Ordnungen der Schriftkultur, ob literarisch oder
philosophisch, konnten Sinn ja immer nur aus Elementen kontruieren,
die selber Sinn hatten. Aus Worten wurden Sätze, nicht aber Wörter
aus Buchstaben."
Shannon erzeugte 1964 rein statistisch aus 26
Buchstaben samt - wie bei Schreibmaschinen - einem Spatium unter
Berücksichtung von Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen
Buchstaben, Buchstabenpaaren, Buchstabentripeln oder gar Wörtern
verschiedene Grade von Annäherungen oder Simulationen an das
Englische. Diese "Logik diachroner Verkettung des Chaos" war eine
"frontale Attacke auf englische Schriftsteller" und führte Rauschen
in die Schriftkultur ein. "Fortan erfahren Lettern keine bessere
Behandlung als Zahlen mit ihrer schrankenlosen Manipulierbarkeit,
fortan sind Signale und Geräusche nur mehr numerisch
definiert."(347) Werden nun von "praktische[n] Ingenieure[n]"(345)
über "sogenannte Idealisierungen" Störungen als separate
Rauschquellen isolierbar und in Signal-Rausch-Abständen
formulierbar, verliert die "gesprochene Sprache, einst in
Philosophenohren die Selbstaffektion von Bewußtsein selber, alle
Innerlichkeit [...] und [wird] genauso durchmeßbar [...] wie sonst
nur noch Übertragungsqualität von Radio oder
Fernsehsystemen"(347).
"Die Poesie hat aber [...] Rauschen gar nicht
haben dürfen. Ihr Kommunikationssystem beruhte seit der
griechischen Stifung eines Vokalalphabets, das zugleich
Notenschrift, also Lyrik war [...] , auf einer Verschaltung von
Stimme und Schrift. Die Menge von Operationen, die mit diesen
graphisch-phonischen Elementen machbar war, definierte, begrenzte
aber auch das Maß literarischer Komplexität. Insofern bildete
Poesie ein autopoietisches System, das seine eigenen Elemente als
selbstreferentielle Elemente hervorbrachte, eben darum indessen
(wie jedes solche System) Elemente und Operationen nicht weiter
unterscheiden konnte."(348) Das so mit Luhmann entwickelte System
Poesie schloß die Möglichkeit aus, "die Eingabe- und
Ausgabeelemente jener griechischen Analyse noch einmal zu
analysieren, bis Stimmen oder Schriftzüge in die Rauschgemenge
auseinandergegangen wären, die sie physikalisch sind". Poesie
brachte eben den Signal-Rausch-Abstand auf sein Maximum.
Das heißt aber mit Bezug auf Goethe:
Exkommunikation des Schalls der nicht »zum Ton sich rundet« (zit
348) und Exkommunikation eines Wahnsinns, der eben das, nämlich
Des Carnevals-Chartag-Ostern Kreuz-Holz-Hammer-Glocken-Klang
besang(83), "im Namen
artikulierter Kommunikation". Wenn hingegen "das System
Poesie-Musik aussetzt, beginnt (mit Valéry) die mathematische
»Wiederkehr des alten Chaos«". "In eben der Goethezeit", die
"Klanggemische aus zahllosen Frequenzen" exkommunizierte,
"entwickelte ein Departementspräfekt Napoleons, der Baron Jean
Baptiste Joseph Fourier, ein Rechenverfahren, das nicht nur die
Thermodynamik, sondern auch alle Medien des technischen Klängefangs
von Edisons Phonographenwalze bis zum Musikcomputer auf den Weg
gebracht hat."(349)
"Die Fourieranalyse mit all ihren Applikationen -
von der Faltung und Korrelation gegebener Signale bis zum
fundamentalen Abtasttheorem der beiden Bell-Labs-Ingenieure Nyquist
und Shannon - hat den Signalraum nicht weniger verändert als ehedem
das griechische Vokalalphabet, diese namenlose Gründertat unserer
Kultur." Obwohl nun Luhman gesagt hat, daß Kommunikationssysteme
Kommunikation nicht durch Rückgang etwa auf den Freqenzbereich von
Nevenimpulsen unterlaufen können, gibt es doch in Thomans Pychons
Romanen "mathematisch-neurologische Helden" und "daß die Stimmen
der Leute spektralanalysiert werden [...] verändert auch das
alltägliche Kommunikationssystem im institutionellen
Rahmen"(350)
"Weshalb unter modernen, d.h.
nachrichtentechnischen Bedingungen, die jeder Phänomenologie
spotten, Medien anstelle von Künsten getreten sind." Der neue
Analphabetismus heißt Unterhaltungselektronik, und die heißt
einfach, "alle operativen Spielräume der analogen und neuerdings
digitalen Singalverarbeitung den Ohen und Augen wieder
rückzukoppeln: als Trick, Gadget, Spezialeffekt. Gründerheld
solcher Effekte war bekanntlich Wagner."(351) Als Ring des
Nibelungen verließ die Musik ihr einheimisches Reich der logoi
oder Intervalle, um alle möglichen Abstände und Übergänge zwischen
Klang und Rauschen auszumessen." Der Rhein des
Rheingold-Vorspiels ist "reiner Signalfluß" und der dritte
Akt der Götterdämmerung darf "den Signal-Rausch-Abstand [...]
liquidieren". Er ist "das absolute Ende". "Was mit dem Fading eines
Gottes in Walhalls Flammenmeer endet, ist europäische Kunst selber.
Denn die zwei Raben, dunkle Boten oder Engel der Medientechnologie,
sprechen nicht und singen nicht; bei ihrem Flug fallen Transmission
und Emission der Nachricht, ja sogar »Botschaft« und »Rauschen«
zusammen. Götterdämmerung heißt Materialität der Kommunikation und
Kommunkation der Materie."(352)
Dahinein wird auch der den schottische Botaniker
Robert Brown verwickelt. Sein Entdeckung der Brownschen Bewegung,
"eine spotane Irregularität, ein Rauschen der Materie zersetze den
goethezeitlichen Grundbegriff Leben, ganz wie Fourier den
artikulierten Sprachton zersetzt hatte." Erst Norbert Wiener aber
konnte auf Maxwell und Boltzmann aufbauend dazu übergehen
"Irregularität selber zu formalisieren". "Nach dieser
Mathematisierung des alten Chaos war es nicht mehr schwer, auch die
Materialität von Musik und Sprache anzugehen. Wieners Linear
Prediction Code (LPC) ist zu einem der grundlegenden Verfahren
geworden, die es Computern erlauben, die Zufallsgeneratoren in
unseren Kehlköpfen zu simulieren." Das von Wiener positivierte
Chaos aber macht "Diskurse buchstäblich »zur
Nebensache«"(354).
Genau deshalb kehren Shannons Mathematik der
Singale und Wieners Mathematik des Rauschens in der strukturalen
Psychoanalyse wieder, "die ja Diskurse analysiert (oder beseitigt),
wie Freud nur Seelen analysierte (oder in »psychosche Apparate«
überführte)." Einmal "referiert Lacans Konzept vom Realen auf
nichts außer weißem Rauschen. Es zelebriert den Jam, dieses
Schlüsselwort von Nachrichtentechnikern, als Modernität selber
[...]". "Auf der anderen Seite und nur folgerecht ist Lacans
symbolische Ordnung, von ihren philosophischen Interpretationen
weit entfernt, ein probabilistisches Gesetz, das auf dem Rauschen
des Realen aufbaut, mit anderen Worten eine Markoff-Kette. [...]
Dieser nachrichtentechnische Zugang zum Unbewußten lidquidiert
drittens das Imaginäre, das als eine Funktion vorab optischer
Gestalterkennung (pattern recognition) den Erkenntnisbegriff
der Philosophie auf Verkennung festlegte.Deshalb können erst durch
Psychoanalyse die strategischen Chancen eines Subjekts
spieltheoretisch exhauriert, d.h. berechnet werden."
Folgt dem Subjekt als strategischem die
strategische Waffe als Subjekt, "durch computerisierte Mathematik
berechnet": "die selbstgesteuerte Waffe". Wieners Vorarbeiten dazu
an automatisisierten Flak-Systemen S 345 ff.
"Keine zwei Jahrhunderte mathematischer
Nachrichtentechnik haben den Signal-Rausch-Abstand zur durchgängig
manipulierbaren Variablen gemacht. Mit den Operationsgrenzen des
Systems Alltagssprache sind auch die von Poesie und Hermeneutik
überschritten und Medien etabliert, deren Adresse (aller
Konsumentenwerbung zum Trotz) nicht mehr mit Sicherheit Mensch
hießt. Seit ihrer griechischen Stiftung hatte Poesie die Funktion,
ein Schallchaos auf anschreibbare und damit artikulierte Töne zu
reduzieren, während Hermeneutik seit ihrer romantischen Gründung,
diese Komplexitätsreduktion noch einmal geisteswissenschaftlich
absicherte: durch Zuschreibung an die Adresse eines poetischen
Subjekts namens Autor. Diese Interpretation reinigte einen
Innenraum von allem Rauschen, das dagegen im Jenseits der
Ereignisse, in Delirien und Kriegen nicht aufhörte, nicht
aufzuhören."(355)
Seitdem Rauschen durch Interzeption feindlicher
Signale, nicht mehr durch Interpretation artikulierter Reden oder
Töne, angegangen wird, ist das Joch der Subjektivität von unseren
Schultern genommen. Denn automatische Waffensysteme sind selber
Subjekte. Ein Freiraum entsteht, in dem es machbar wäre,
Rezeptionstheorie mit Interzeptionspraxis, Hermeneutik mit Polemik
und Hermenautik zu vertauschen - mit einer Steuermannskenntnis der
Botschaften, ob sie nun Göttern, Maschinen oder Rauschquellen
entstammen.(355/56)