Friedrich Kittler. Signal-Rausch-Abstand. In: Materialität der Kommunikation. Hgg. H.U. Gumbrecht, K.L. Pfeiffer. Frankfurt/M 1988. S. 342-359.

"Materialitäten der Kommunikation sind ein modernes Rätsel, womöglich sogar das moderne."(342)(81) Nun waren, was die Post bis zur "Parallelentwicklung von Eisenbahn und Telegraphie" transportierte, "unzweifelhafte Materialitäten", nämlich "erstens Personen, zweitens Briefe oder Drucksachen und drittens Güter"(343). Deswegen brauchte dieses Transportsystem "Adressen(82) oder Personen, Befehle oder Nachrichten und Daten oder Güter der Kommunikation auch nicht weiter zu unterscheiden. Auf seiner wahrhaft materielle Basis konnten dann Philosophen vom Geist des Menschen oder vom Sinn der Dinge schreiben."(343)
"Die Moderne dagegen begann mit einer Ausdifferenzierung, die Güter und Personen der Post abnahm und auf Schienen oder Nationalstraßen relativ mobil machte, [...] alles aber nur, um die reinen Befehlsflüsse von ihnen abzutrennen und als Immaterialitäten auf die absolute Geschwindigkeit von Licht oder Elektrizität zu bringen." So hat Derridas Postkarte "die Bahnen von Literatur und Philosophie, also des Buchstabens mit seinen beschränkten Kombinationsmöglichkeiten verlassen, um mathematischer Algorithmus zu werden." Nach Shannons berühmter Formel
n
H = - å pi log pi
i=1
"mißt die Information H, wieviel Wahlfreiheit, d.h. wieviel Ungewißheit über den Output herrscht, wenn ein Nachrichtensystem aus einer Menge von möglichen Ereignissen mit jeweils bekannten Wahrscheinlichkeiten ein bestimmtes Ereignis auswählt." Zeichen können eben nach Lacan prinzipiell ersetzt werden, wohingegen ebenfalls nach Lacan "alles Reale an seinem Platz klebt". "Selbst die Messung seiner Wege durch Raum und Zeit eines Nachrichtenkanals ergäbe nur physikalische Daten über Energie oder Geschwindigkeit, aber keine Information relativ auf einen Code."(344)
"Daß das Maximum an Information nichts anderes besagt als höchste Unwahrscheinlichkeit, macht es aber vom Maximum an Störung kaum mehr unterscheidbar". Mit anderen Worten: "Signale üben tunlichst Mimikry an Störungen", womit "Information ohne Materie und Materie ohne Information verkoppelt [sind] wie die zwei Lesarten eines Vexierbildes"(345).
"Diese »Wiederkehr des alten Chaos im Inneren der Körper und jenseits ihrer Realität« ist es, mit der Valérys technischer Faust einen Teufel erschreckt, dessen »ganz elementare Wissenschaft« bekanntlich nur Rede war. Die experimentelle Verschaltung von Information und Rauschen macht »den Diskurs zur Nebensache«. Ordnungen der Schriftkultur, ob literarisch oder philosophisch, konnten Sinn ja immer nur aus Elementen kontruieren, die selber Sinn hatten. Aus Worten wurden Sätze, nicht aber Wörter aus Buchstaben."
Shannon erzeugte 1964 rein statistisch aus 26 Buchstaben samt - wie bei Schreibmaschinen - einem Spatium unter Berücksichtung von Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Buchstaben, Buchstabenpaaren, Buchstabentripeln oder gar Wörtern verschiedene Grade von Annäherungen oder Simulationen an das Englische. Diese "Logik diachroner Verkettung des Chaos" war eine "frontale Attacke auf englische Schriftsteller" und führte Rauschen in die Schriftkultur ein. "Fortan erfahren Lettern keine bessere Behandlung als Zahlen mit ihrer schrankenlosen Manipulierbarkeit, fortan sind Signale und Geräusche nur mehr numerisch definiert."(347) Werden nun von "praktische[n] Ingenieure[n]"(345) über "sogenannte Idealisierungen" Störungen als separate Rauschquellen isolierbar und in Signal-Rausch-Abständen formulierbar, verliert die "gesprochene Sprache, einst in Philosophenohren die Selbstaffektion von Bewußtsein selber, alle Innerlichkeit [...] und [wird] genauso durchmeßbar [...] wie sonst nur noch Übertragungsqualität von Radio oder Fernsehsystemen"(347).
"Die Poesie hat aber [...] Rauschen gar nicht haben dürfen. Ihr Kommunikationssystem beruhte seit der griechischen Stifung eines Vokalalphabets, das zugleich Notenschrift, also Lyrik war [...] , auf einer Verschaltung von Stimme und Schrift. Die Menge von Operationen, die mit diesen graphisch-phonischen Elementen machbar war, definierte, begrenzte aber auch das Maß literarischer Komplexität. Insofern bildete Poesie ein autopoietisches System, das seine eigenen Elemente als selbstreferentielle Elemente hervorbrachte, eben darum indessen (wie jedes solche System) Elemente und Operationen nicht weiter unterscheiden konnte."(348) Das so mit Luhmann entwickelte System Poesie schloß die Möglichkeit aus, "die Eingabe- und Ausgabeelemente jener griechischen Analyse noch einmal zu analysieren, bis Stimmen oder Schriftzüge in die Rauschgemenge auseinandergegangen wären, die sie physikalisch sind". Poesie brachte eben den Signal-Rausch-Abstand auf sein Maximum.
Das heißt aber mit Bezug auf Goethe: Exkommunikation des Schalls der nicht »zum Ton sich rundet« (zit 348) und Exkommunikation eines Wahnsinns, der eben das, nämlich Des Carnevals-Chartag-Ostern Kreuz-Holz-Hammer-Glocken-Klang besang(83), "im Namen artikulierter Kommunikation". Wenn hingegen "das System Poesie-Musik aussetzt, beginnt (mit Valéry) die mathematische »Wiederkehr des alten Chaos«". "In eben der Goethezeit", die "Klanggemische aus zahllosen Frequenzen" exkommunizierte, "entwickelte ein Departementspräfekt Napoleons, der Baron Jean Baptiste Joseph Fourier, ein Rechenverfahren, das nicht nur die Thermodynamik, sondern auch alle Medien des technischen Klängefangs von Edisons Phonographenwalze bis zum Musikcomputer auf den Weg gebracht hat."(349)
"Die Fourieranalyse mit all ihren Applikationen - von der Faltung und Korrelation gegebener Signale bis zum fundamentalen Abtasttheorem der beiden Bell-Labs-Ingenieure Nyquist und Shannon - hat den Signalraum nicht weniger verändert als ehedem das griechische Vokalalphabet, diese namenlose Gründertat unserer Kultur." Obwohl nun Luhman gesagt hat, daß Kommunikationssysteme Kommunikation nicht durch Rückgang etwa auf den Freqenzbereich von Nevenimpulsen unterlaufen können, gibt es doch in Thomans Pychons Romanen "mathematisch-neurologische Helden" und "daß die Stimmen der Leute spektralanalysiert werden [...] verändert auch das alltägliche Kommunikationssystem im institutionellen Rahmen"(350)
"Weshalb unter modernen, d.h. nachrichtentechnischen Bedingungen, die jeder Phänomenologie spotten, Medien anstelle von Künsten getreten sind." Der neue Analphabetismus heißt Unterhaltungselektronik, und die heißt einfach, "alle operativen Spielräume der analogen und neuerdings digitalen Singalverarbeitung den Ohen und Augen wieder rückzukoppeln: als Trick, Gadget, Spezialeffekt. Gründerheld solcher Effekte war bekanntlich Wagner."(351) Als Ring des Nibelungen verließ die Musik ihr einheimisches Reich der logoi oder Intervalle, um alle möglichen Abstände und Übergänge zwischen Klang und Rauschen auszumessen." Der Rhein des Rheingold-Vorspiels ist "reiner Signalfluß" und der dritte Akt der Götterdämmerung darf "den Signal-Rausch-Abstand [...] liquidieren". Er ist "das absolute Ende". "Was mit dem Fading eines Gottes in Walhalls Flammenmeer endet, ist europäische Kunst selber. Denn die zwei Raben, dunkle Boten oder Engel der Medientechnologie, sprechen nicht und singen nicht; bei ihrem Flug fallen Transmission und Emission der Nachricht, ja sogar »Botschaft« und »Rauschen« zusammen. Götterdämmerung heißt Materialität der Kommunikation und Kommunkation der Materie."(352)
Dahinein wird auch der den schottische Botaniker Robert Brown verwickelt. Sein Entdeckung der Brownschen Bewegung, "eine spotane Irregularität, ein Rauschen der Materie zersetze den goethezeitlichen Grundbegriff Leben, ganz wie Fourier den artikulierten Sprachton zersetzt hatte." Erst Norbert Wiener aber konnte auf Maxwell und Boltzmann aufbauend dazu übergehen "Irregularität selber zu formalisieren". "Nach dieser Mathematisierung des alten Chaos war es nicht mehr schwer, auch die Materialität von Musik und Sprache anzugehen. Wieners Linear Prediction Code (LPC) ist zu einem der grundlegenden Verfahren geworden, die es Computern erlauben, die Zufallsgeneratoren in unseren Kehlköpfen zu simulieren." Das von Wiener positivierte Chaos aber macht "Diskurse buchstäblich »zur Nebensache«"(354).
Genau deshalb kehren Shannons Mathematik der Singale und Wieners Mathematik des Rauschens in der strukturalen Psychoanalyse wieder, "die ja Diskurse analysiert (oder beseitigt), wie Freud nur Seelen analysierte (oder in »psychosche Apparate« überführte)." Einmal "referiert Lacans Konzept vom Realen auf nichts außer weißem Rauschen. Es zelebriert den Jam, dieses Schlüsselwort von Nachrichtentechnikern, als Modernität selber [...]". "Auf der anderen Seite und nur folgerecht ist Lacans symbolische Ordnung, von ihren philosophischen Interpretationen weit entfernt, ein probabilistisches Gesetz, das auf dem Rauschen des Realen aufbaut, mit anderen Worten eine Markoff-Kette. [...] Dieser nachrichtentechnische Zugang zum Unbewußten lidquidiert drittens das Imaginäre, das als eine Funktion vorab optischer Gestalterkennung (pattern recognition) den Erkenntnisbegriff der Philosophie auf Verkennung festlegte.Deshalb können erst durch Psychoanalyse die strategischen Chancen eines Subjekts spieltheoretisch exhauriert, d.h. berechnet werden."
Folgt dem Subjekt als strategischem die strategische Waffe als Subjekt, "durch computerisierte Mathematik berechnet": "die selbstgesteuerte Waffe". Wieners Vorarbeiten dazu an automatisisierten Flak-Systemen S 345 ff.
"Keine zwei Jahrhunderte mathematischer Nachrichtentechnik haben den Signal-Rausch-Abstand zur durchgängig manipulierbaren Variablen gemacht. Mit den Operationsgrenzen des Systems Alltagssprache sind auch die von Poesie und Hermeneutik überschritten und Medien etabliert, deren Adresse (aller Konsumentenwerbung zum Trotz) nicht mehr mit Sicherheit Mensch hießt. Seit ihrer griechischen Stiftung hatte Poesie die Funktion, ein Schallchaos auf anschreibbare und damit artikulierte Töne zu reduzieren, während Hermeneutik seit ihrer romantischen Gründung, diese Komplexitätsreduktion noch einmal geisteswissenschaftlich absicherte: durch Zuschreibung an die Adresse eines poetischen Subjekts namens Autor. Diese Interpretation reinigte einen Innenraum von allem Rauschen, das dagegen im Jenseits der Ereignisse, in Delirien und Kriegen nicht aufhörte, nicht aufzuhören."(355)
Seitdem Rauschen durch Interzeption feindlicher Signale, nicht mehr durch Interpretation artikulierter Reden oder Töne, angegangen wird, ist das Joch der Subjektivität von unseren Schultern genommen. Denn automatische Waffensysteme sind selber Subjekte. Ein Freiraum entsteht, in dem es machbar wäre, Rezeptionstheorie mit Interzeptionspraxis, Hermeneutik mit Polemik und Hermenautik zu vertauschen - mit einer Steuermannskenntnis der Botschaften, ob sie nun Göttern, Maschinen oder Rauschquellen entstammen.(355/56)