Friedrich A. Kittler. »Das Phantom unseres Ichs« und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann - Freud - Lacan. In: F.A. Kittler/ H.Turk (Hgg). Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a.M. 1977. S.139-166.

Seitdem Literatur Psychologie ist, ist ihre psychologische Interpretation "nur mehr leere Verdopplung".(139) Und seit der Epoche, da Freud die Literatur zum Bundesgenossen der Psychoanalyse erklärte, der davon zeugt, "daß die von allen anderen Wissenschaften exkommunizierten Reden des Wahns, des Traums des Phantasmas lesbar sind und Gesetzen der Artikulation unterstehen", scheint die Literatur nur Verdoppelung der Psychoanalyse zu sein.
Eine "doppelte Dezentrierung" soll aus diesem "Spiegelbezug zwischen Literatur und Psychologie" herausführen. "An der Literatur wird zu zeigen sein, daß ihre Versenkung ins Innerliche nur der Innenaspekt einer Äußerlichkeit ist, die einer ganzen Literaturepoche vorschrieb, psychologisch zu reden. An der Psychoanalyse wird zu zeigen sein, daß sie keine Psychologie ist, sondern es umgekehrt möglich macht, die Seele als ein Phantom zu bestimmen, das an Schnittstellen von Sprache und Körper entsteht."(140)
Das Werk E.T.A. Hoffmanns "errichtet seine Poetologie, indem es den Wahnsinnigen als den negativen Doppelgänger des Dichters bestimmt"(142). "Der Wahnsinn produziert zwar auch eine innere Welt, kann sie aber nicht wie Dichtung reflektieren und damit von der Außenwelt scheiden."(142)
Darin also sind "Poetologie und Psycholgie [...] solidarisch. "Sie bestimmen das Subjekt als eine Doppelung, die in den Wahnsinn führt, wenn es sich nicht noch einmal reflexiv verdoppeln und vermitteln kann."(142)
"Michel Foucault hat indessen gezeigt, daß diese Gegenstandbestimmung nur das historische Apriori der transzendentalen Psychologie selber ist." In Kittlers Formulierung: "All diese Geschichtlichkeiten und Produktivitäten, wie sie Hoffmanns Erzählung in der Kindheit und in der Phantasie namhaft macht, unterhalten zu ihrer Erkenntnis einen zweideutigen Bezug: Einerseits entgehen sie der Erkenntnis, weil sie die menschliche Erkenntnis selber bedingen und ermöglichen; andererseits gibt es sie nur aus der Perspektive einer Erkenntnis, die sie an den eigenen Strukturen entdeckt: der menschlichen Erkenntnis. Laut Hoffmann sind psychische Phänomene »Erkenntnisse unseres Seins, die wir eigenlich wieder nur selber sind, da sie uns und wir sie wechselseitig bedingen«."(143) Dieser "Zirkel" erst "führt in die Konfigurationen des Wissens den Menschen" ein. Mit Foucault nennt Kittler ihn den »Ort einer empirisch-transzendentalen Reduplizierung« (zit 143).(28)
"So ist denn der Wahnsinn, wenn er um 1800 zum Objekt der Psychologie wird, ihr notwendiger und feindlicher Bruder, ihr Doppelgänger. Die Psychologie allein kann erkennen, daß das menschliche Erkennen selber seine Entfremdung bewirkt [...]. Der Wahnsinn allein kann bezeugen, daß menschliches Erkennen nicht in friedlicher Präsenz bei sich, sondern gespalten und getrübt ist, durch die Mächtigkeiten, die es erzeugt haben."(143) Die Psychoanalyse subvertiert die Psychologie, "weil sie das Phantasma nicht auf ein produzierendes Ich zurückführt, sondern umgekehrt dies Ich durch Lektüre der Phatasmen aus Strukturen der Intersubjektivität ableitet, die es produzieren. Einer Theorie gegenüber, die die Bedingungen des Menschen in den Menschen setzt, statuiert sie, daß das diese Bedingungen nicht am Existieren hindert." (143/44)
Die Psychologie also neutralisiert den Diskurs des Wahns, indem sie an ihm wahr und falsch unterscheidet, die Psychoanalyse hingegen hebt die Referenz des Diskurses auf und setzt damit "das endlose Spiel seiner internen Bezüge frei"(144). An literarischen Texten interessiert sie nicht eine Psychopathographie ihrer Autoren, sondern "die Universalpragmatik einer jeden Rede"(145). Während die "psychologischen und hermeneutischen Interpetationsverfahren [...] vom Bewußtsein und seinen implizit gemeinten Bedeutungen aus das andere, das seinerseits das Bewußtsein bedingt [umkreisen]", setzt die Psychoanalyse durch die "Einklammerung der Referenz und der sozialen Sprecherrolle [...] eine Positivität am Diskurs frei, die diesseits von Meinen und Verstehen, von Bedeutsamen und Unbedeutsamen liegt"(145).
Darum liest Freud im Sandmann aus der Bedrohung der Augen "eine am Körper verschobene Kastrationsdrohung"(146). Er unterstellt aber "nicht einfach einem symbolischen Signifikanten ein auf Reales referierendes Signifikat". Vielmehr fungiert "der Phallos als ein Signifikant, der in Saussures Terminologie nicht Bedeutung, sondern Wert in einem System aus lauter »Ersatzbeziehungen« hat. Dieses System nennt Freud Kastrationskomplex."(146)
Ein Komplex aber bezeichnet psychoanalytisch nach Pontalis/Laplanche eine »grundlegende Struktur der zwischenmenschlichen Beziehung und der Art, wie die Person dort ihren Platz findet« (zit 146). Das Kind untersteht dem paradoxen Gebot, "so zu sein wie der Vater (nämlich ein Mann) und nicht so zu sein wie der Vater (nämlich der Liebhaber der Mutter)"(146/47) "Dem Gebot gleichursprünglich ist der Wunsch, die Mutter zu lieben und den Vater zu beseitigen. Der Wunsch schreibt also dem Vater das Merkmal zu, dessen sich das Subjekt beraubt und das es hinreichend glaubt, um das müttleriche Begehren zu wecken und zu erfüllen."(147) Relativiert der Vater nicht "das Begehren nach dem Phallos, das das Kind der Mutter zuschreibt" entsteht der negative Ödipuskomplex: Identifkation mit der Mutter, um vom Vater geliebt zu werden und Liebe zum Vater, die in Haß umschlägt, "sobald eine Erniedrigung des Vaters seine imaginäre Allmacht dementiert"(147). Wie Hoffmanns Erzählung zeige, wie "die Vaterfixierung heterosexuelles Begehren versperrt", zeigt Kittler an Hoffmanns Erzählung.
Freud also "löst die vage Ganzheit des psychologisch oder hermeneutisch Verstandenen auf, um die Struktur des Textes gerade aus seinen opaken und disparaten Elementen zu konstituieren. Er liest die literarische Phantasie nicht als eine autochtone und unfaßliche Einbildungskraft, sondern einfach als ein Puzzlespiel von einzelnen »Elementen«, deren »ursprüngliche Anordnung« die Psychoanalyse »wiederherstellt«."(14) Die "metaphysischen und humanistischen Fragen" an den Text setzt er außer Kraft, "wenn er Sandmann und Puppe als Signifikanten in einem unvorstellbaren Zeichensystem entziffert".(149) "Die Einschreibung dieses Zeichensystems datiert die Psychoanalyse auf die Primärsozialisation. Was formal die Auflösung des Textganzen auf nur differenziell bestimmte Elemente, leistet inhaltlich die Rückführung des vertrauten Bewußtseins auf das Unheimliche der Kindheit."(149)
Freud bestimmt die Kindheit "als Stätte einer ursprünglichen Dispersion oder eben Unheimlichkeit". Unheimlich wird es dem Bewußtsein, über Fehlleistungen und Symptome darauf zu stoßen, "daß es über einem Unbewußten und auf einer intersubjektiven Matrix entstanden ist". "Weil beim menschlichen Wesen kein eingeborener Instinkt die Übernahme der primären Rollen von Alter und Geschlecht regelt, ist es ganz auf die Situationen angewiesen, die ihm einen Platz auf den Achsen der Generationen und Geschlechter erst zuweisen."(149)
Dieses Unbewußte hat nichts gemein mit dem romantischen, "und eben darum auch kann die Psychoanalyse dieses romantische Unbewußte bestimmen". Der Romantik ist "die Kindheit die Stätte einer so verborgenen wie tragenden Identität", also einer Heimlichkeit, der Psychoanalyse umgekehrt das Heim unheimlich. Deshalb kann sie "die Entstehung des »Phantom unseres Ichs« positiv beschreiben". "Gerade was phantastisch an den Texten scheint, entziffert sie als die symbolische Wirklichkeit der Hominisation."(149)
Drei Leerstellen hat Freuds Analyse des Sandmann: (1.) Freud analysiert den Text, der von Wahnsinn redet, von der Neurosenlehre her. (2.) Er übergeht "welche Mutationen der Sozialisation die Rede eines Subjekts über seine Primärsozialsiation und damit auch dessen Psychoanalyse ermöglicht haben". (3.) Er vernachlässigt "was der Erzähler von seinem Erzählen sagt, also die literarische Autoreferenz des Textes, die sie gleichwohl analysieren müßte, weil das Verhältnis zwischen Begehren und Rede ihre Sache ist".(150)
"An diesen drei Komplexen arbeitet die strukture Psychoanalyse". Schon 1932 hat Lacan "psychotische Texte nicht im Unterschied, sondern im Bezug zu kulturellen, zu literarischen Texten analysiert und psychotische Reden mit den Reden der elementaren Kulturisationsinstanzen korreliert. Das ändert das Feld der Psychoanalyse. Den endopsychischen Konflikt zwischem bewußtem Ich und unbewußtem Wunsch, den Freud entdeckt hat, ersetzt die Strukturbeziehung zwischen den unbewußten Wünschen der Eltern und denen des Kindes."(150) "Intersubjektivität und Sprache sind methodisch nicht zu trennen." "Das Unbewußte entsteht bei der Einführung in die Sprache, deren Effekte alles übertreffen, was die Sprecher von ihr wissen können. Psychoanalyse wird bei Lacan Sprachtheorie."(151)
Er trennt zwischen "leeren Spiegelbeziehungen und dem von Sprache konstituierten Verhältnis." Die rein methodische Unterscheidung zwischen Realem, Imaginärem und Symbolischen ergibt drei Register, in denen "das Reale den unfaßbaren Körper bezeichnet, das Imaginäre die Verstrickung des Infans in die Sprache der Anderen und das Symbolische die Sprachbeziehung als Grund jeder Intersubjektivität."(151)
In der Spiegelbeziehung tilgt das Ich "auf imaginäre und spiegelverkehrende Weise eine reale Zerissenheit."(152) Als Objekt einer narzißtischen Liebe ist es also "mit und gegen Hoffmann gesagt, »das Phantom unseres Ichs«." Verkennung ist die Spiegelbeziehung, weil sie "das Eingreifen des Anderen ausblendet, das sie notwendig voraussetzt. Der Blick auf den Anblick im Spiegel sieht nicht, daß er schon gesehen, d.h. »Objekt eines Blicks« ist. Die »trügerische Selbstidentifikation« mit dem Ideal-Ich ersetzt das Subjekt durch denjenigen Anblick, den das Begehren des Anderen zum Objekt hat. [...] Den Platz dieses Anderen (mit großem A) nimmt zum Anbeginn eine Mutter ein."(152) "Das Kind wünscht, daß die Mutter wünscht und was sie wünscht", so übersetzt Kittler Lacan. "In dieser Verstrickung entsteht das Subjekt des unbewußten Begehrens". Dadurch bestimmt "erotische Agressivität, die in ihrem Transitivismus und ihrer Instabilität jeder Regelung spottet"(153), die Beziehung zwischen Ich und Seinesgleichen. "An Hoffmanns Erzählung sind diese Strukturen zu verifizieren." Die Struktur jeder Zweierbeziehung ist eine, die "als solche allen Entfremdungen offensteht und d.h. Psychosen auslöst". "Das heißt umgekehrt, daß Hominisation eine Dreierbeziehung voraussetzt. [...] Der Ödipuskomplex in Lacans Lesart ist eben diese Öffnung der Dyade auf einen dritten hin [...]."(154)
Tritt auf die Vaterschaft als purer Signifikant. "Der Name des Vaters absolviert das Kind davon, Wunsch aus und nach dem Wunsch der Mutter zu sein, weil die Mutter mit seinem Nennen ein anderes Begehren als nach dem Kind einbekennt. [...] Also ist die Dreierbeziehung Übergang des Infans zum Sprachwesen. [...] Die Sprache stellt eine symbolische Ordnung im Wortsinn her: Verbindungen und Allianzen, die, wie bei der tessera hospitalis, auf dem Geben und Nehmen von Zeichen beruhen."(155) Statt den Mangel der Mutter imaginär durch ein Bild auszufüllen und sich mit ihm zu identifizieren, wird der Mangel symbolisiert und der Phallos als Symbol oder auch Blick und Auge als Symbole des Phallos "zirkulieren [...] im ödipalen Dreieck zwischen den Figuren wie ein sprachliches Symbol, das keinem gehört und den Mangel aller bezeichnet. Wie im chinesischen Brettspiel gibt ein leerer (vierter) Platz den realen (drei Figuren Spielraum. Das Unbewußte ist, weil es diesen Bezug des Subjekts zum Ort des Anderen niederschreibt, der Diskurs des Anderen. So beseitig die strukturale Lesung des Ödipuskomplexes seine biologistischen und empiristischen Momente. Sie nimmt nicht, wie Freud eine unvermittelte pädagogische Drohung an, sondern leitet die Kastration, d.i. die Smybolisierung des Mangels aus den Aporien der Zweierbeziehung Mutter-Kind ab. Sie nimmt die Familie nicht als biologische Gegebenheit, sondern als ein System gezählter Positionen, die von den empirischen Mitgliedern nur vertreten werden."(155/56)
"Wenn der Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache ganz davon abhängt, was am Ort des Anderen geschieht, sind familiale Mystifikationen imstande, ihn zu versperren. Die Mystifikationen betreffen die gegenseitige Anerkennung des Begehrens zwischen den Zwei, deren Anerkennung das Infans hominisieren würde."(156) "Pathogen nennt die Psychoanalyse demnach [...] den Dissens zwischen Eltern hinsichtlich der elementaren Funktion von Elternschaft. Sie verbergen, daß sie verbergen, daß zwischen und mit ihnen etwas geschieht, während die Kinder schlafen. Die elterlichen Mystifikationen hypostasieren und entwerten zugleich den Vater [...]."(158) Er ist dann zugleich allmächtiger Schöpfer und erniedrigter Erzeuger. Dem infans bleibt seine eigene (doppelte) Kontingenz verstellt wie die des Anderen, "der entweder als Automat an den Fäden eines stummen Schöpfers oder als Schöpfer ohne Mangel noch Sprache erscheint. So ist dem Subjekt jede Spielstrategie genommen, wenn anders Subjektsein besagt, die Rede auf den Anderen als einen Sprecher beziehen können, der seine Rede schon aufs Subjekt bezieht."(158)
Den Effekt paradoxer Kommunikation kann die strukturale Psychoanalyse auch historisch situieren. "Daß die bürgerliche Familie [...] den Namen des Vaters des Kindes und den leiblichen Erzeuger identifiziert, ist keine Notwendigkeit, sondern ein historisches Ereignis, das zu spezifischen Paradoxien der Sozialisation führt. Einerseits entsteht die bürgerliche Familie, in dem der »Vater zum Vertretr einer symbolischen Funktion wird, die versammelt, was in anderen kulturellen Strukturen entfalteter, komplexer und essentieller ist« [zit Lacan]. Andererseits bleibt solche »Deckung des Symbolischen und des Realen absolut unfaßbar«.[ebenso] Darum kehrt die Differenz beider im Imaginären wieder: Der leibliche Vater gerät unter der Last des Signifikanten beständig in die Positionen des abweichenden, fehlenden, erniedrigten. [...] Die Spaltung in einen schwachen und guten Vater, der nicht mehr als ein homosexualisierender Bruder ist, und einen allmächtigen und bösen Vater, der nicht nur die Mutter, sondern jedes Begehren untersagt, kommt auf gerade dann, wenn Symbolisches und Realisch konfundiert werden." (159/60)
Die "imaginären Verstrickungen", die sich daraus ergeben, "sind die Folge einer Desymbolisierung, die mit der Reduktion der Lebensform Ganzes Haus auf die Lebensform konjugale Kernfamilie einhergeht." In einer Art geologischer Verwerfung können aber ins 18. Jahrhundert Figuren im Status von "Revenants, und d.h. des Verdrängten" hineinragen: von der Kleinfamilie verzerrte "Instanzen einer Kultur, die in juridisch geregelten weitverzweigten Allianzen zwischen Familienverbänden bestanden hat. Denn weil auch die Kleinfamilie ihrer Selbstbezogenheit zuwider Allianzen voraussetzt und fortsetzt, sucht ein Gespenst sie heim, das den Platz des symbolischen Vaters vertritt."(160) Der reale Bürgervater aber "untersteht den Normen einer Familie, die ihre Mitglieder zusammenruft, um ihren Kindern nicht das Gesetz der Lust und des Todes, sondern die Norm des Lebens und Besserlebens einzufleischen, die sie Liebe nennt."(160)
Gegenüber der freudschen Psychoanalyse allerdings erlaubt erst ihre "strukturale Erneuerung" "die allgemeinen und d.h. sprachlichen Strukturen von Sozialsiation und deren geschichtliche Mutationen zu sondern und damit zu bestimmen. So aber wird auch das spezifisch literarische Ereignis zugänglich, daß das Subjekt klassisch-romantischer Texte in einer vergeblichen Hermeneutik seiner kleinfamilien Genealogie entsteht."(161)
Dieses Subjekt als "Privatdedektiv und Hermeneut seiner Kindheitserlebnisse" untersteht "einfach einer kulturellen Kommunkationsregelung, die die Familie im selben Maß zur Stätte aller Identifikationen und »Bedeutungen« ernennt, wie deren makrosoziale und ökonomische Funktionen schwinden. Erst die vom symbolischen Austausch entkoppelte Kleinfamilie wird zur Produktionsstätte so aufdringlicher wie undurchdringlicher Bedeutungen [...]."(161) Diese fungieren "wie ein Köder" für "vergebliche Bedeutungssuche: Der sein Unglück auf die Kindheit zurückschreibt, bleibt Kind und Gefangener seiner Kindheit bis in den Tod." "Denn erst die bürgerliche Familie, die als Reich der Innerlichkeiten von der Öffentlichkeit gesondert ist, sondernt in ihrem Binnenraum noch einmal eine Welt der Kinder und setzt damit »das Kind, um ihm Konflikte zu ersparen, einem besonders schweren Konflikt aus, dem Widerspruch nämlich zwischen seiner Kindheit und seinem wirklichen Leben«(29)."(161)
"Literarisch erscheint diese Aporie als der Diskurs der Innerlichkeit." Bevor aber überhaupt Subjekte wie die Helden der klassischen und romantischen Epen "eine einzigartige und geheime Bedeutung ihres Lebens in der Kindheit suchen, muß die Kleinfamilie ein privilegiertes »Aufschreibesystem« geworden sein. Daß Literatur Helden zur Sprache bringt, die Detektive und Opfer familialer Diskurse werden, ist selber eine diskursives Ereignis und in den Mutationen der Kommunikationsregeln anzusiedeln."(162)
Was für die Helden der "Epen" gilt, trifft auch auf ihre Dichter zu. "Daß es nicht sozial legitimiert ist, ist schon eine Definition romantischen Schreibens [...]. Den literarischen und d.h. öffentlichen Diskurs legitimiert einzig ein latenter und innerlicher Trieb." Von unsagbaren inneren Bildern und gehauchten Seufzern geht Literatur aus und gründet sowohl auf dem "Phantasma einer eigenen Welt", die Anderen ebenso entzogen ist wie die Kinderwelt der bürgerlichen Familie der Öffentlichkeit, als auch auf dem "Wunschtraum einer Kommunikation", die den Diskurs durch unartikulierte Seelenlaute oder "Achs" unterläuft. Die Kommunikationsstrategien des Erzählens aber laufend darauf hinaus, daß nicht der Autor im Text, sondern "der im Text Besprochene selber spricht".(163) In einem Sprechen aus einem unennbaren Ursprung spielt das "Verhältnis zwischen Sprache und Phantasma". "Die symbolische Ordnung ist [...] keine nachträgliche und unvollkommene Übersetzung eines Inneren, sondern eine bestimmte Sprachwerwendung - die Rede eines »Ich« ohne vorangegangene Referenzen - erzeugt überhaupt erst Perspektive und Individualität des erzählten Helden."(163)
Diese Individualität ist eine, die der Leser als ein »getroffenes«, also ähnliches Porträt erkennt, ohne dessen Original zu kennen, also etwas Paradoxes: "das Bild einer Individualität, das index sui ist und d.h. als Porträt auch dem Leser erscheint, der nicht weiß, daß ein und was für ein Modell dahintersteht"(163) Damit wird dem Leser diese Individualität als ein Rätsel aufgegeben oder auch als Infektion verpaßt, dessen Lösung oder deren Heilung er selbst zu sein begehrt. Die Lösung ist aber: "Das einzige Porträt, das unablässig auf ein Original verweist, das das Auge nie erblicken wird, ist einem jeden sein Spiegelbild. Die Logik des Phantasmas bestimmt also über das Erzählte hinaus auch das Erzählen selber. Das Werk als Herstellung eines Bildes, das vollständig und täuschend »ähnlich« zu sein scheint, verdeckt und tilgt die Zerissenheit, der das Begehren zu sprechen und zu schreiben entspringt. Wie der Held ist auch der Erzähler [...] Objekt und Ursache eines Begehrens, das ihm unerkennbar bleibt, gerade weil keine Bitte und Kommunikationsaufforderung es artikuliert hat."(163)
Der Erzähler überführt also "sein Erblicktsein in den Anblick eines erblickbaren Doppelgängers". Nach dieser Transformation sehen Autor und Leser sich selbst in diesem Bild. "Der erzählte Held fungiert wie das Spiegelbild, über das die imaginären Identifikationen und die Konfusion von Ich und Seinesgleichen, von Erzähler und Lesern laufen. Mit jedem seiner Signifikate verdeckt das Werk einen Mangel beider."(164) "In Weiterführung Freuds bestimmt Lacan das Kunstwerk als eine Befriedigung des Publikums, das sieht, daß einige von der Ausbeutung ihres Begehrens leben können. Das Werk erregt Lust, weil es eine Augentäuschung ist. Nicht die Mimesis-Illusion, sondern deren Potenzierung ist sein Effekt. [...] Das Werk gibt sich, als wäre es dieses unmögliche andere (die Ursache des Begehrens). Wie einst der fromme Blick auf die Ikonen den Blick sah, den Gott auf die Bilder seiner Heiligen warf [...] so sieht der Leser neuzeitlicher Literatur auf den augentäuschenden und augenaufschlagenden Figuren der Fiktion den Blick des Monstrum liegen, das Autor heißt [...]."(164) Das bezeugt Helène Cixous mit einem Zitat: »Ich, der Erzähler, will, daß du siehst - nicht die Wirklichkeit, sondern meine Weise, Wirklichkeit zu sehen. Ich will, daß du sie in meinen Augen siehst.«(zit 164)
"Das romantische Individuum [...] wird einzig von der Ich-Rede produziert, die ihm der Erzähler in den Mund legt." Damit kehrt auf der Erzählebene das Phantasma des allmächtigen Vaters wieder als erzählender "Hersteller von Individuen", der Kinder wie Automaten produziert, "ohne einer Frau zu bedürfen". "Die behauptete Genialität des romantischen Autors ist diese Wiederkehr. Der sagt, daß seinem Produzieren innerer Bilder keine Schranken gesetzt sind, wird selber produziert von einer Kultur, die mit dem Mythos des geliebten Kindes die Nachgeborenen zu ihrem Ideal-Ich ernennt. Die romantische Identität von Kind und Genie ist das Echo auf dieses Sozialisation.(165)
"Der Bezug zwischen Erzähler und Held, um den es der Psychoanalyse geht, spielt auf symbolischer Ebene und nicht im empirischen Autor."(165) Deshalb sind heimliche Synonomien zwischen Autorenname und Heldenname keine Hinweise auf autobiographische Bezüge, sondern zeigen an, "daß die Elemente des Textes keine Zeichen sind, die etwas Wißbares für jemand repräsentieren, sondern Signifikanten, die das unbewußte Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentieren. [...] Homonymien und Synonymien spielen in und mit der Sprache. Als Einstellungen der sprachlichen Nachricht auf die Nachricht selber (was Jakobson die poetische Funktion der Nachricht genannt hat), verleihen sie der Literatur den Status, den Lacan dem Mythos zuschreibt: Literatur gibt eine diskursive Fomulierung derjenigen Wahrheit, die nicht gesprochen werden kann, weil das Sprechen selber sie konstituiert und sagt. An die Stelle der unmöglichen Autoreferenz der Rede tritt ein literarischer Text, der ohne jede Garantie seiner Wahrheit das intersubjektive Spiel der Wahrheit spielt."(165/66) Vorausgesetzt wird der "Glaube der Leser an die Unglaublichkeit literarischer Rede [...], um eben diesen Glauben zu betrügen und die Wahrheit in ihrer Struktur von Fiktion zu artikulieren. Im Bereich der Rede des Unbewußten, die niemand sprechen kann, sind nach Lacan alle Revolutionen Revolutionen des Stils. Der Stil aber ist nicht der Mensch, sondern der Mensch, zu dem man spricht."(166)