Seitdem Literatur Psychologie ist, ist ihre
psychologische Interpretation "nur mehr leere Verdopplung".(139)
Und seit der Epoche, da Freud die Literatur zum Bundesgenossen der
Psychoanalyse erklärte, der davon zeugt, "daß die von allen anderen
Wissenschaften exkommunizierten Reden des Wahns, des Traums des
Phantasmas lesbar sind und Gesetzen der Artikulation unterstehen",
scheint die Literatur nur Verdoppelung der Psychoanalyse zu
sein.
Eine "doppelte Dezentrierung" soll aus diesem
"Spiegelbezug zwischen Literatur und Psychologie" herausführen. "An
der Literatur wird zu zeigen sein, daß ihre Versenkung ins
Innerliche nur der Innenaspekt einer Äußerlichkeit ist, die einer
ganzen Literaturepoche vorschrieb, psychologisch zu reden. An der
Psychoanalyse wird zu zeigen sein, daß sie keine Psychologie ist,
sondern es umgekehrt möglich macht, die Seele als ein Phantom zu
bestimmen, das an Schnittstellen von Sprache und Körper
entsteht."(140)
Das Werk E.T.A. Hoffmanns "errichtet seine
Poetologie, indem es den Wahnsinnigen als den negativen
Doppelgänger des Dichters bestimmt"(142). "Der Wahnsinn produziert
zwar auch eine innere Welt, kann sie aber nicht wie Dichtung
reflektieren und damit von der Außenwelt scheiden."(142)
Darin also sind "Poetologie und Psycholgie [...]
solidarisch. "Sie bestimmen das Subjekt als eine Doppelung, die in
den Wahnsinn führt, wenn es sich nicht noch einmal reflexiv
verdoppeln und vermitteln kann."(142)
"Michel Foucault hat indessen gezeigt, daß diese
Gegenstandbestimmung nur das historische Apriori der
transzendentalen Psychologie selber ist." In Kittlers Formulierung:
"All diese Geschichtlichkeiten und Produktivitäten, wie sie
Hoffmanns Erzählung in der Kindheit und in der Phantasie namhaft
macht, unterhalten zu ihrer Erkenntnis einen zweideutigen Bezug:
Einerseits entgehen sie der Erkenntnis, weil sie die menschliche
Erkenntnis selber bedingen und ermöglichen; andererseits gibt es
sie nur aus der Perspektive einer Erkenntnis, die sie an den
eigenen Strukturen entdeckt: der menschlichen Erkenntnis. Laut
Hoffmann sind psychische Phänomene »Erkenntnisse unseres
Seins, die wir eigenlich wieder nur selber sind, da sie uns und wir
sie wechselseitig bedingen«."(143) Dieser "Zirkel" erst "führt in
die Konfigurationen des Wissens den Menschen" ein. Mit Foucault
nennt Kittler ihn den »Ort einer empirisch-transzendentalen
Reduplizierung« (zit 143).(28)
"So ist denn der Wahnsinn, wenn er um 1800 zum
Objekt der Psychologie wird, ihr notwendiger und feindlicher
Bruder, ihr Doppelgänger. Die Psychologie allein kann erkennen, daß
das menschliche Erkennen selber seine Entfremdung bewirkt [...].
Der Wahnsinn allein kann bezeugen, daß menschliches Erkennen nicht
in friedlicher Präsenz bei sich, sondern gespalten und getrübt ist,
durch die Mächtigkeiten, die es erzeugt haben."(143) Die
Psychoanalyse subvertiert die Psychologie, "weil sie das Phantasma
nicht auf ein produzierendes Ich zurückführt, sondern umgekehrt
dies Ich durch Lektüre der Phatasmen aus Strukturen der
Intersubjektivität ableitet, die es produzieren. Einer Theorie
gegenüber, die die Bedingungen des Menschen in den Menschen setzt,
statuiert sie, daß das diese Bedingungen nicht am Existieren
hindert." (143/44)
Die Psychologie also neutralisiert den Diskurs des
Wahns, indem sie an ihm wahr und falsch unterscheidet, die
Psychoanalyse hingegen hebt die Referenz des Diskurses auf und
setzt damit "das endlose Spiel seiner internen Bezüge frei"(144).
An literarischen Texten interessiert sie nicht eine
Psychopathographie ihrer Autoren, sondern "die Universalpragmatik
einer jeden Rede"(145). Während die "psychologischen und
hermeneutischen Interpetationsverfahren [...] vom Bewußtsein und
seinen implizit gemeinten Bedeutungen aus das andere, das
seinerseits das Bewußtsein bedingt [umkreisen]", setzt die
Psychoanalyse durch die "Einklammerung der Referenz und der
sozialen Sprecherrolle [...] eine Positivität am Diskurs frei, die
diesseits von Meinen und Verstehen, von Bedeutsamen und
Unbedeutsamen liegt"(145).
Darum liest Freud im Sandmann aus der
Bedrohung der Augen "eine am Körper verschobene
Kastrationsdrohung"(146). Er unterstellt aber "nicht einfach einem
symbolischen Signifikanten ein auf Reales referierendes
Signifikat". Vielmehr fungiert "der Phallos als ein Signifikant,
der in Saussures Terminologie nicht Bedeutung, sondern Wert in
einem System aus lauter »Ersatzbeziehungen« hat. Dieses System
nennt Freud Kastrationskomplex."(146)
Ein Komplex aber bezeichnet psychoanalytisch nach
Pontalis/Laplanche eine »grundlegende Struktur der
zwischenmenschlichen Beziehung und der Art, wie die Person dort
ihren Platz findet« (zit 146). Das Kind untersteht dem paradoxen
Gebot, "so zu sein wie der Vater (nämlich ein Mann) und nicht so zu
sein wie der Vater (nämlich der Liebhaber der Mutter)"(146/47) "Dem
Gebot gleichursprünglich ist der Wunsch, die Mutter zu lieben und
den Vater zu beseitigen. Der Wunsch schreibt also dem Vater das
Merkmal zu, dessen sich das Subjekt beraubt und das es hinreichend
glaubt, um das müttleriche Begehren zu wecken und zu
erfüllen."(147) Relativiert der Vater nicht "das Begehren nach dem
Phallos, das das Kind der Mutter zuschreibt" entsteht der negative
Ödipuskomplex: Identifkation mit der Mutter, um vom Vater geliebt
zu werden und Liebe zum Vater, die in Haß umschlägt, "sobald eine
Erniedrigung des Vaters seine imaginäre Allmacht dementiert"(147).
Wie Hoffmanns Erzählung zeige, wie "die Vaterfixierung
heterosexuelles Begehren versperrt", zeigt Kittler an Hoffmanns
Erzählung.
Freud also "löst die vage Ganzheit des
psychologisch oder hermeneutisch Verstandenen auf, um die Struktur
des Textes gerade aus seinen opaken und disparaten Elementen zu
konstituieren. Er liest die literarische Phantasie nicht als eine
autochtone und unfaßliche Einbildungskraft, sondern einfach als ein
Puzzlespiel von einzelnen »Elementen«, deren »ursprüngliche
Anordnung« die Psychoanalyse »wiederherstellt«."(14) Die
"metaphysischen und humanistischen Fragen" an den Text setzt er
außer Kraft, "wenn er Sandmann und Puppe als Signifikanten in einem
unvorstellbaren Zeichensystem entziffert".(149) "Die Einschreibung
dieses Zeichensystems datiert die Psychoanalyse auf die
Primärsozialisation. Was formal die Auflösung des Textganzen auf
nur differenziell bestimmte Elemente, leistet inhaltlich die
Rückführung des vertrauten Bewußtseins auf das Unheimliche der
Kindheit."(149)
Freud bestimmt die Kindheit "als Stätte einer
ursprünglichen Dispersion oder eben Unheimlichkeit". Unheimlich
wird es dem Bewußtsein, über Fehlleistungen und Symptome darauf zu
stoßen, "daß es über einem Unbewußten und auf einer
intersubjektiven Matrix entstanden ist". "Weil beim menschlichen
Wesen kein eingeborener Instinkt die Übernahme der primären Rollen
von Alter und Geschlecht regelt, ist es ganz auf die Situationen
angewiesen, die ihm einen Platz auf den Achsen der Generationen und
Geschlechter erst zuweisen."(149)
Dieses Unbewußte hat nichts gemein mit dem
romantischen, "und eben darum auch kann die Psychoanalyse dieses
romantische Unbewußte bestimmen". Der Romantik ist "die Kindheit
die Stätte einer so verborgenen wie tragenden Identität", also
einer Heimlichkeit, der Psychoanalyse umgekehrt das Heim
unheimlich. Deshalb kann sie "die Entstehung des »Phantom unseres
Ichs« positiv beschreiben". "Gerade was phantastisch an den Texten
scheint, entziffert sie als die symbolische Wirklichkeit der
Hominisation."(149)
Drei Leerstellen hat Freuds Analyse des
Sandmann: (1.) Freud analysiert den Text, der von Wahnsinn
redet, von der Neurosenlehre her. (2.) Er übergeht "welche
Mutationen der Sozialisation die Rede eines Subjekts über seine
Primärsozialsiation und damit auch dessen Psychoanalyse ermöglicht
haben". (3.) Er vernachlässigt "was der Erzähler von seinem
Erzählen sagt, also die literarische Autoreferenz des Textes, die
sie gleichwohl analysieren müßte, weil das Verhältnis zwischen
Begehren und Rede ihre Sache ist".(150)
"An diesen drei Komplexen arbeitet die strukture
Psychoanalyse". Schon 1932 hat Lacan "psychotische Texte nicht im
Unterschied, sondern im Bezug zu kulturellen, zu literarischen
Texten analysiert und psychotische Reden mit den Reden der
elementaren Kulturisationsinstanzen korreliert. Das ändert das Feld
der Psychoanalyse. Den endopsychischen Konflikt zwischem bewußtem
Ich und unbewußtem Wunsch, den Freud entdeckt hat, ersetzt die
Strukturbeziehung zwischen den unbewußten Wünschen der Eltern und
denen des Kindes."(150) "Intersubjektivität und Sprache sind
methodisch nicht zu trennen." "Das Unbewußte entsteht bei der
Einführung in die Sprache, deren Effekte alles übertreffen, was die
Sprecher von ihr wissen können. Psychoanalyse wird bei Lacan
Sprachtheorie."(151)
Er trennt zwischen "leeren Spiegelbeziehungen und
dem von Sprache konstituierten Verhältnis." Die rein methodische
Unterscheidung zwischen Realem, Imaginärem und Symbolischen ergibt
drei Register, in denen "das Reale den unfaßbaren Körper
bezeichnet, das Imaginäre die Verstrickung des Infans in die
Sprache der Anderen und das Symbolische die Sprachbeziehung als
Grund jeder Intersubjektivität."(151)
In der Spiegelbeziehung tilgt das Ich "auf
imaginäre und spiegelverkehrende Weise eine reale
Zerissenheit."(152) Als Objekt einer narzißtischen Liebe ist es
also "mit und gegen Hoffmann gesagt, »das Phantom unseres Ichs«."
Verkennung ist die Spiegelbeziehung, weil sie "das Eingreifen des
Anderen ausblendet, das sie notwendig voraussetzt. Der Blick auf
den Anblick im Spiegel sieht nicht, daß er schon gesehen, d.h.
»Objekt eines Blicks« ist. Die »trügerische Selbstidentifikation«
mit dem Ideal-Ich ersetzt das Subjekt durch denjenigen Anblick, den
das Begehren des Anderen zum Objekt hat. [...] Den Platz dieses
Anderen (mit großem A) nimmt zum Anbeginn eine Mutter ein."(152)
"Das Kind wünscht, daß die Mutter wünscht und was sie wünscht", so
übersetzt Kittler Lacan. "In dieser Verstrickung entsteht das
Subjekt des unbewußten Begehrens". Dadurch bestimmt "erotische
Agressivität, die in ihrem Transitivismus und ihrer Instabilität
jeder Regelung spottet"(153), die Beziehung zwischen Ich und
Seinesgleichen. "An Hoffmanns Erzählung sind diese Strukturen zu
verifizieren." Die Struktur jeder Zweierbeziehung ist eine, die
"als solche allen Entfremdungen offensteht und d.h. Psychosen
auslöst". "Das heißt umgekehrt, daß Hominisation eine
Dreierbeziehung voraussetzt. [...] Der Ödipuskomplex in Lacans
Lesart ist eben diese Öffnung der Dyade auf einen dritten hin
[...]."(154)
Tritt auf die Vaterschaft als purer Signifikant.
"Der Name des Vaters absolviert das Kind davon, Wunsch aus und nach
dem Wunsch der Mutter zu sein, weil die Mutter mit seinem Nennen
ein anderes Begehren als nach dem Kind einbekennt. [...] Also ist
die Dreierbeziehung Übergang des Infans zum Sprachwesen. [...] Die
Sprache stellt eine symbolische Ordnung im Wortsinn her:
Verbindungen und Allianzen, die, wie bei der tessera hospitalis,
auf dem Geben und Nehmen von Zeichen beruhen."(155) Statt den
Mangel der Mutter imaginär durch ein Bild auszufüllen und sich mit
ihm zu identifizieren, wird der Mangel symbolisiert und der Phallos
als Symbol oder auch Blick und Auge als Symbole des Phallos
"zirkulieren [...] im ödipalen Dreieck zwischen den Figuren wie ein
sprachliches Symbol, das keinem gehört und den Mangel aller
bezeichnet. Wie im chinesischen Brettspiel gibt ein leerer
(vierter) Platz den realen (drei Figuren Spielraum. Das Unbewußte
ist, weil es diesen Bezug des Subjekts zum Ort des Anderen
niederschreibt, der Diskurs des Anderen. So beseitig die
strukturale Lesung des Ödipuskomplexes seine biologistischen und
empiristischen Momente. Sie nimmt nicht, wie Freud eine
unvermittelte pädagogische Drohung an, sondern leitet die
Kastration, d.i. die Smybolisierung des Mangels aus den Aporien der
Zweierbeziehung Mutter-Kind ab. Sie nimmt die Familie nicht als
biologische Gegebenheit, sondern als ein System gezählter
Positionen, die von den empirischen Mitgliedern nur vertreten
werden."(155/56)
"Wenn der Eintritt in die symbolische Ordnung der
Sprache ganz davon abhängt, was am Ort des Anderen geschieht, sind
familiale Mystifikationen imstande, ihn zu versperren. Die
Mystifikationen betreffen die gegenseitige Anerkennung des
Begehrens zwischen den Zwei, deren Anerkennung das Infans
hominisieren würde."(156) "Pathogen nennt die Psychoanalyse demnach
[...] den Dissens zwischen Eltern hinsichtlich der elementaren
Funktion von Elternschaft. Sie verbergen, daß sie verbergen, daß
zwischen und mit ihnen etwas geschieht, während die Kinder
schlafen. Die elterlichen Mystifikationen hypostasieren und
entwerten zugleich den Vater [...]."(158) Er ist dann zugleich
allmächtiger Schöpfer und erniedrigter Erzeuger. Dem infans bleibt
seine eigene (doppelte) Kontingenz verstellt wie die des Anderen,
"der entweder als Automat an den Fäden eines stummen Schöpfers oder
als Schöpfer ohne Mangel noch Sprache erscheint. So ist dem Subjekt
jede Spielstrategie genommen, wenn anders Subjektsein besagt, die
Rede auf den Anderen als einen Sprecher beziehen können, der seine
Rede schon aufs Subjekt bezieht."(158)
Den Effekt paradoxer Kommunikation kann die
strukturale Psychoanalyse auch historisch situieren. "Daß die
bürgerliche Familie [...] den Namen des Vaters des Kindes und den
leiblichen Erzeuger identifiziert, ist keine Notwendigkeit, sondern
ein historisches Ereignis, das zu spezifischen Paradoxien der
Sozialisation führt. Einerseits entsteht die bürgerliche Familie,
in dem der »Vater zum Vertretr einer symbolischen Funktion wird,
die versammelt, was in anderen kulturellen Strukturen entfalteter,
komplexer und essentieller ist« [zit Lacan]. Andererseits bleibt
solche »Deckung des Symbolischen und des Realen absolut
unfaßbar«.[ebenso] Darum kehrt die Differenz beider im Imaginären
wieder: Der leibliche Vater gerät unter der Last des Signifikanten
beständig in die Positionen des abweichenden, fehlenden,
erniedrigten. [...] Die Spaltung in einen schwachen und guten
Vater, der nicht mehr als ein homosexualisierender Bruder ist, und
einen allmächtigen und bösen Vater, der nicht nur die Mutter,
sondern jedes Begehren untersagt, kommt auf gerade dann, wenn
Symbolisches und Realisch konfundiert werden." (159/60)
Die "imaginären Verstrickungen", die sich daraus
ergeben, "sind die Folge einer Desymbolisierung, die mit der
Reduktion der Lebensform Ganzes Haus auf die Lebensform konjugale
Kernfamilie einhergeht." In einer Art geologischer Verwerfung
können aber ins 18. Jahrhundert Figuren im Status von "Revenants,
und d.h. des Verdrängten" hineinragen: von der Kleinfamilie
verzerrte "Instanzen einer Kultur, die in juridisch geregelten
weitverzweigten Allianzen zwischen Familienverbänden bestanden hat.
Denn weil auch die Kleinfamilie ihrer Selbstbezogenheit zuwider
Allianzen voraussetzt und fortsetzt, sucht ein Gespenst sie heim,
das den Platz des symbolischen Vaters vertritt."(160) Der reale
Bürgervater aber "untersteht den Normen einer Familie, die ihre
Mitglieder zusammenruft, um ihren Kindern nicht das Gesetz der Lust
und des Todes, sondern die Norm des Lebens und Besserlebens
einzufleischen, die sie Liebe nennt."(160)
Gegenüber der freudschen Psychoanalyse allerdings
erlaubt erst ihre "strukturale Erneuerung" "die allgemeinen und
d.h. sprachlichen Strukturen von Sozialsiation und deren
geschichtliche Mutationen zu sondern und damit zu bestimmen. So
aber wird auch das spezifisch literarische Ereignis zugänglich, daß
das Subjekt klassisch-romantischer Texte in einer vergeblichen
Hermeneutik seiner kleinfamilien Genealogie entsteht."(161)
Dieses Subjekt als "Privatdedektiv und Hermeneut
seiner Kindheitserlebnisse" untersteht "einfach einer kulturellen
Kommunkationsregelung, die die Familie im selben Maß zur Stätte
aller Identifikationen und »Bedeutungen« ernennt, wie deren
makrosoziale und ökonomische Funktionen schwinden. Erst die vom
symbolischen Austausch entkoppelte Kleinfamilie wird zur
Produktionsstätte so aufdringlicher wie undurchdringlicher
Bedeutungen [...]."(161) Diese fungieren "wie ein Köder" für
"vergebliche Bedeutungssuche: Der sein Unglück auf die Kindheit
zurückschreibt, bleibt Kind und Gefangener seiner Kindheit bis in
den Tod." "Denn erst die bürgerliche Familie, die als Reich der
Innerlichkeiten von der Öffentlichkeit gesondert ist, sondernt in
ihrem Binnenraum noch einmal eine Welt der Kinder und setzt damit
»das Kind, um ihm Konflikte zu ersparen, einem besonders schweren
Konflikt aus, dem Widerspruch nämlich zwischen seiner Kindheit und
seinem wirklichen Leben«(29)."(161)
"Literarisch erscheint diese Aporie als der
Diskurs der Innerlichkeit." Bevor aber überhaupt Subjekte wie die
Helden der klassischen und romantischen Epen "eine einzigartige und
geheime Bedeutung ihres Lebens in der Kindheit suchen, muß die
Kleinfamilie ein privilegiertes »Aufschreibesystem« geworden sein.
Daß Literatur Helden zur Sprache bringt, die Detektive und Opfer
familialer Diskurse werden, ist selber eine diskursives Ereignis
und in den Mutationen der Kommunikationsregeln
anzusiedeln."(162)
Was für die Helden der "Epen" gilt, trifft auch
auf ihre Dichter zu. "Daß es nicht sozial legitimiert ist, ist
schon eine Definition romantischen Schreibens [...]. Den
literarischen und d.h. öffentlichen Diskurs legitimiert einzig ein
latenter und innerlicher Trieb." Von unsagbaren inneren Bildern und
gehauchten Seufzern geht Literatur aus und gründet sowohl auf dem
"Phantasma einer eigenen Welt", die Anderen ebenso entzogen ist wie
die Kinderwelt der bürgerlichen Familie der Öffentlichkeit, als
auch auf dem "Wunschtraum einer Kommunikation", die den Diskurs
durch unartikulierte Seelenlaute oder "Achs" unterläuft. Die
Kommunikationsstrategien des Erzählens aber laufend darauf hinaus,
daß nicht der Autor im Text, sondern "der im Text Besprochene
selber spricht".(163) In einem Sprechen aus einem unennbaren
Ursprung spielt das "Verhältnis zwischen Sprache und Phantasma".
"Die symbolische Ordnung ist [...] keine nachträgliche und
unvollkommene Übersetzung eines Inneren, sondern eine bestimmte
Sprachwerwendung - die Rede eines »Ich« ohne vorangegangene
Referenzen - erzeugt überhaupt erst Perspektive und Individualität
des erzählten Helden."(163)
Diese Individualität ist eine, die der Leser als
ein »getroffenes«, also ähnliches Porträt erkennt, ohne dessen
Original zu kennen, also etwas Paradoxes: "das Bild einer
Individualität, das index sui ist und d.h. als Porträt auch dem
Leser erscheint, der nicht weiß, daß ein und was für ein Modell
dahintersteht"(163) Damit wird dem Leser diese Individualität als
ein Rätsel aufgegeben oder auch als Infektion verpaßt, dessen
Lösung oder deren Heilung er selbst zu sein begehrt. Die Lösung ist
aber: "Das einzige Porträt, das unablässig auf ein Original
verweist, das das Auge nie erblicken wird, ist einem jeden sein
Spiegelbild. Die Logik des Phantasmas bestimmt also über das
Erzählte hinaus auch das Erzählen selber. Das Werk als Herstellung
eines Bildes, das vollständig und täuschend »ähnlich« zu sein
scheint, verdeckt und tilgt die Zerissenheit, der das Begehren zu
sprechen und zu schreiben entspringt. Wie der Held ist auch der
Erzähler [...] Objekt und Ursache eines Begehrens, das ihm
unerkennbar bleibt, gerade weil keine Bitte und
Kommunikationsaufforderung es artikuliert hat."(163)
Der Erzähler überführt also "sein Erblicktsein in
den Anblick eines erblickbaren Doppelgängers". Nach dieser
Transformation sehen Autor und Leser sich selbst in diesem Bild.
"Der erzählte Held fungiert wie das Spiegelbild, über das die
imaginären Identifikationen und die Konfusion von Ich und
Seinesgleichen, von Erzähler und Lesern laufen. Mit jedem seiner
Signifikate verdeckt das Werk einen Mangel beider."(164) "In
Weiterführung Freuds bestimmt Lacan das Kunstwerk als eine
Befriedigung des Publikums, das sieht, daß einige von der
Ausbeutung ihres Begehrens leben können. Das Werk erregt Lust, weil
es eine Augentäuschung ist. Nicht die Mimesis-Illusion, sondern
deren Potenzierung ist sein Effekt. [...] Das Werk gibt sich, als
wäre es dieses unmögliche andere (die Ursache des Begehrens). Wie
einst der fromme Blick auf die Ikonen den Blick sah, den Gott auf
die Bilder seiner Heiligen warf [...] so sieht der Leser
neuzeitlicher Literatur auf den augentäuschenden und
augenaufschlagenden Figuren der Fiktion den Blick des Monstrum
liegen, das Autor heißt [...]."(164) Das bezeugt Helène Cixous mit
einem Zitat: »Ich, der Erzähler, will, daß du siehst - nicht die
Wirklichkeit, sondern meine Weise, Wirklichkeit zu sehen. Ich will,
daß du sie in meinen Augen siehst.«(zit 164)
"Das romantische Individuum [...] wird einzig von
der Ich-Rede produziert, die ihm der Erzähler in den Mund legt."
Damit kehrt auf der Erzählebene das Phantasma des allmächtigen
Vaters wieder als erzählender "Hersteller von Individuen", der
Kinder wie Automaten produziert, "ohne einer Frau zu bedürfen".
"Die behauptete Genialität des romantischen Autors ist diese
Wiederkehr. Der sagt, daß seinem Produzieren innerer Bilder keine
Schranken gesetzt sind, wird selber produziert von einer Kultur,
die mit dem Mythos des geliebten Kindes die Nachgeborenen zu ihrem
Ideal-Ich ernennt. Die romantische Identität von Kind und Genie ist
das Echo auf dieses Sozialisation.(165)
"Der Bezug zwischen Erzähler und Held, um den es
der Psychoanalyse geht, spielt auf symbolischer Ebene und nicht im
empirischen Autor."(165) Deshalb sind heimliche Synonomien zwischen
Autorenname und Heldenname keine Hinweise auf autobiographische
Bezüge, sondern zeigen an, "daß die Elemente des Textes keine
Zeichen sind, die etwas Wißbares für jemand repräsentieren, sondern
Signifikanten, die das unbewußte Subjekt für einen anderen
Signifikanten repräsentieren. [...] Homonymien und Synonymien
spielen in und mit der Sprache. Als Einstellungen der sprachlichen
Nachricht auf die Nachricht selber (was Jakobson die poetische
Funktion der Nachricht genannt hat), verleihen sie der Literatur
den Status, den Lacan dem Mythos zuschreibt: Literatur gibt eine
diskursive Fomulierung derjenigen Wahrheit, die nicht gesprochen
werden kann, weil das Sprechen selber sie konstituiert und sagt. An
die Stelle der unmöglichen Autoreferenz der Rede tritt ein
literarischer Text, der ohne jede Garantie seiner Wahrheit das
intersubjektive Spiel der Wahrheit spielt."(165/66) Vorausgesetzt
wird der "Glaube der Leser an die Unglaublichkeit literarischer
Rede [...], um eben diesen Glauben zu betrügen und die Wahrheit in
ihrer Struktur von Fiktion zu artikulieren. Im Bereich der Rede des
Unbewußten, die niemand sprechen kann, sind nach Lacan alle
Revolutionen Revolutionen des Stils. Der Stil aber ist nicht der
Mensch, sondern der Mensch, zu dem man spricht."(166)