Friedrich A. Kittler. Über die Sozialisation Wilhelm Meisters. In: Dichtung als Sozialisationspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Hgg. Gerhard Kaiser und Friedrich A. Kittler. Göttingen 1978. S. 13-124.

Im Gegensatz zu älteren oder sogenannten primitiven Gesellschaften scheint "unsere Kultur [...] ohne festgelegte Rituale, die die Übernahme der primären Rollen Alter und Geschlecht regeln würden".(14) Die Diskursanalyse hingegen dekonstruiert diesen Schein und zeigt, daß "auch das neuzeitliche Individuum eine Maske war", die es unter dem Schein von Bildung verbergen konnte.
Das kann eine Diskursanalyse der Texte zeigen, die die Bildung nannten und waren. Die Diskursanalyse bezieht das Was der Texte, ihre Inhalte und Bedeutungen, auf Sozialisationspraktiken und -programme, denen Bedeutung als imaginärer Effekt entspringt und umgekehrt die Sozialisationpraktiken auf das Daß, die Heraufkunft und Zirkulation von Texten.(14)
Sie geht in zwei Schritten vor.
Zunächst sind Goethes biographischer und autobiographischer Roman zu lesen auf einen Wandel der Sozialisation hin, den sie formuliert und inszeniert haben. In Frage steht die Sozialisation als ein Ritual der Literatur. Daraufhin ist der Weg in umgekehrter Richtung zu durchmessen. Die neuen Sozialisationspiele sind zu lesen auf die Medien und Diskurse hin, ohne die sie nicht hätten sein können. So führt die Analyse zurück zur Literatur: als einem Ritual der neuen Sozialisation.(14)
Für Wilhelm Meisters Lehrjahre haben lange vor der Literaturwissenschaft Zeitgenossen den Name Bildungsroman erfunden. Für Bildung aber sind Zufälle eines Schicksals keine, sondern bedeuten Entfaltung und Entwicklung unter einer vorausgesetzten Entsprechung von Wünschen und Sozialrollen. So wird eine Kontinuität erzählbar, "die alle Einschnitte zwischen Primär- und Sekundärsozialisation ausmerzt".
Deshalb erzeugen die Regeln selber des Bildungsromans eine Vorgeschichte des Helden.(14)
Die Vorgeschichte "hat zum Helden ein Kind und zum Ort eine Familie. Im Privaten kommt der Wunsch auf, den die öffentliche Sekundärsozialisation dann seiner Erfüllung (oder Übererfüllung) zuführt."(14/15) Der Wunsch, "dessen Irrsale der Roman erzählt", wird beim zehnjährigen Meister durch ein Geschenk ausgelöst: ein Puppenspiel. Es entspringt nicht Absichten einer aufklärerischen Pädagogik und dient keinem pädagogischen Effekt, sondern bewirkt "Geschack am Schauspiele".
Ein Bildung durch und zu Kunst löst die Pädagogik der Auflärung ab. Wilhelm Meisters Kindheit verläuft ohne daß ein erziehendes Wort erwähnt würde. Sie geht auf in einem Geschenk, das seinen Wunsch weckt.(16)
Der "Überführung von Pädagogik in Bildung entspricht eine Verschiebung des Familienzentrums." Die wunschweckende Gabe ist eine weibliche. In der Umschrift der ersten Fassung des Romans, Wilhelm Meisters theatralischer Sendung von 1777/85, zur zweiten, Wilhelm Meisters Lehrjahre, zeichnet Goethe in den neunziger Jahren selbst "die elementare historische Mutation, die zur modernen Familie geführt hat" (im Einzelnen 17 ff) Die zweite Fassung zentriert die Familie um die Kinder und deren Wünsche und setzt anstelle von Erziehung Sozialisation, "das Paradoxon einer Erziehung, die nicht zweckgerichtet ist"(19), sondern auf sich selbst als Bildung abzielt. "Die Sozialisation um ihrer selbst willen erhält auch einen Namen: »Mütterlichkeit«, und einen Agenten: die Mutter.
Diesen Wandel, den die zweite Fassung von Goethes Roman "in Szene" setzt, haben "neuere Historiker der europäischen Familie, in der Nachfolge von Philippe Ariès, zumal Jean-Lous Flandrin und Edward Shorter", zunächst beim gebildeten Bürgertum nachgewiesen(20): Die Randbedingung der Reorganisation der Familie ist ihre Verkleinerung.
Aus einer multifuntionalen Gruppe, die in soziale, ökonomische und juristische Netze verflochten war, wird eine auf Primärsozialisation spezialisiert. [...] Dieser Wandel verschiebt das Familienzentrum. Die konjugale Familie der Frühneuzeit, die Ehe nicht mehr auf Familiarität, sondern Familiarität auf Ehe gründete, war im »Hausvater« zentriert. Die sozialiserende Familie des späteren 18. und des 19. Jahrhunderts hat zur Mitte den Mutter-Kind-Bezug.(21)
Die Mutter löst also innerhalb der Familie den Vater und außerhalb ihrer die Ammen und Dienstmägde ab, und damit im letzteren Fall "die Figuren jener femininen epistéme, die seit alters die Technologien des Gebärens und der Kinderpflege innehatten."(21/22) Zugleich treten an deren Stelle "die approbierten Ärzte und akademischen Menschenkenner".
Deshalb geht der Ausschluß von Ammen und Mägden aus der Familie einher mit einer Flut psychologischer und medizinischer Schriften, die die Mutter zur unersetzbaren Primärsozialisationsinstanz ernennen und für ihre neue Steuerungsaufgabe mit einem gesteuerten Wissen ausstatten. So systematisch wird die Funktion errichtet, die Goethes Roman »die MÜtterlichkeit« nennt.(22)
"All diese Operationen erscheinen in den literarischen Texten". Systematisch "in Szene aber setzt den Wandel von patrilinear-konjugaler zu matrilinear-sozialisierender Familie die Umschrift [...]", der ersten zu zweiten Fassung. Das Geschenk des Puppentheaters ist in der zweiten Fassung, in der die Mutter »selbst manchmal gern ins Theater geht« (zit 32), ein Geschenk, das ihrem eigenen Wunsch entspricht.
Die Mutter, statt an Wunsch und Vergnügen des Kindes anzuknüpfen [...], schenkt, was sie selbst liebt: Ihr Bezug zum Sohn ist Identifikation."(23)
Die Identifikation mit dem Sohn in ihrem Wunsch nach Theater "ruft den Wunsch des Kindes allererst hervor"(23). Das Kind wünscht sich zum Geschenkt die Erfüllung des Wunsches der Mutter.
Der Vater gerät dabei in die Rolle, "die er seither hat; er wird randständig". "Wenn die Familie aus einer Produktionseinheit zur Primärsozialisationsinstanz wird", ist ein Vater "deviant", der, wie in der ersten Fassung, seine Frau unter den ökonomischen Aspekten der Familienproduktivität sah. So entsteht
diesseits der väterlichen und außerfamilialen Arbeit [...] ein familialer Innenraum, der die Wünsche von Mutter und Sohn umschließt.(24)
Der Vater wird "kommunikativ randständig" und gerät
im selben Maße, wie die Zweitfassung Dialoge zwischen Mutter und Sohn einfügt, [...] im Diskursnetz Familie zum Dritten. [...] An die Stelle des Dialogs und d.h. des Sagens, das im bürgerlichen Drama(30) den Vater-Kind-Bezug trug, tritt das schiere Untersagen. Der Vater wird zum Vertreter eines Gesetzes, das, armselig und monoton, in dem einen Wort Nein besteht und darum von mütterlicher Beredsamkeit unterlaufen werden kann.(25)
Darin und in der Zweitfassung findet Kittler die "klassische Kommunikationstaktik von Kernfamilienkindern: »Wunsch« und Bitte werden der Mutter gesagt, die sie dem Vater weitersagen soll".(25) In allen Einzelheiten erfüllt "die Umschrift von Wilhelm Meisters Herkunftsfamilie [...] formal alle Kriterien einer Ödipalisierung."
Die numerisch reduzierte Familie wird zum kernfamilialen Dreieck, die zwei einzigen Bezugspersonen des Kindes figurieren die mytischen Mächte des Wunsches und der Untersagung. Dem triangulierten Kind ist die Mutter der erste Andere und der Vater ein Dritter, der nachträglich und vergebens eingreift, wenn der Mutterbezug dem Kind schon längst eingeschrieben ist.(25)
Die Literaturwissenschaft, die in der zweiten Fassung nur stilistische Glättungen und erzähltechnische Änderungen sieht, hat die "Kulturisation" ebenso ausgespart, wie es die Psychoanalyse tut(31), die auf dem Gegensatz der Mutterimagines insistiert, "nur um alles an ihm zu verdecken, was kulturelle Codierung ist".(26) Es wird nicht "die historische Variabilität des Sprechens" und damit "die Semiotechnik literarische Texte" erfaßt. So ist der Roman auch kein autobiographisches Dokument aus dem einfachen Grund,
weil nicht nur das Was des Elternbezugs historisch variiert, sondern auch das Daß seines Erzähltwerdens. Es gibt keine Wahrheit über den Elternbezug, weil Reden regeln, ob und wie er beredet wird.(26)
"Vom Bestand solcher Regelungen in der Goethezeit zeugt die literarische Wirkungsgeschichte des Romans. Es war Novalis, der am Ende seiner Wilhelm-Meister-Rezeption aus der matriliniearen Recodierung der Familie die Konsequenzen zog, die Recodierung selber zu schreiben."(26/27)(32)
In Heinrich von Ofterdingen unterläuft eine matrinlineare Sexualisierung die patrilinieare Initiation des Romanhelden. Klingsohrs Märchen, die Spiegelung des Romans im Roman, erzählt als Geschichte eines Kindes mit dem sprechenden Namen Eros die frühe Kindheit Heinrichs, die am ungeschriebenen Romanende dessen Mutter hätte erzählen sollen. Dem Eros wiederfährt von der Wiege an eine Sexualisierung, die all die bekannten Stadien, vorab das orale und das phallisch-narzißtische, bis hin zum Ödipuskomplex durchläuft. Ihre Voraussetzung ist die Zentrierung der Familie um die Mutter-Kind-Achse.(27)
Dabei gehen "Kinderpflege und Sexualität jene Legierung ein", wie sie von der Psychoanalyse beschrieben wird.
Die Folge ist, daß auch und gerade der Schritt aus der Herkunfts- in die Zielfamilie von Mutterimagines gesteuert wird: Das erotische Begehren, dessen Synonym Eros ja ist, erlangt ein extrafamiliales Ziel einzig über Vermittlung einer inzestuös begehrenden und begehrten Mutterfigur. Es kommt zum Beischlaf zwischen Eros und seiner Amme Ginnistan, die die »Gestalt« seiner Mutter angenommen hat und zugleich seine extrafamiliale Geliebte präfiguriert. Die Inzestphantasie, weit entfernt, verboten zu sein, steuert also unter Kernfamilienbedingungen die sexuelle Initiation und Reproduktion. Ginnistan oder »die Phantasie« erregt die Phantasie des Eros geradeso wie das mütterliche Weihnachtsgeschenk die Phantasie Wilhelm Meisters.(27)
Am Märchenende "wird die Inzestphantasie nachgerade zur erotischen Norm" und die zwei Familien des Märchens, die bürgerliche und die königliche, werden "zu einer »absoluten Familie« um[geschrieben]".
Alle Figuren heißen fortan Kinder einer Mutter. So werden ihre erotischen Bezüge zugleich inzestuöse in einer universalen und matrilinearen Endogamie. Ein allen gemeinsamer Ursprung überdeckt die kulturellen Scheidungen zwischen den Paaren: den Unterschied der Generationen, den der Geschlechter und den der Stände. Alle anderen Bezüge, in denen kulturelle Reproduktion vormals stand, erlöschen [...].(27/28)
Die "Mütterlichkeit als neue Familienmitte" entspringt aber einer "Sprachregelung". "Weil Verwandschaft ohne Verwandschaftsnamen nicht ist, kann die matrilineare Recodierung der Familie einfach Umbenennung sein. Das Taufritual bei Novalis macht das manifest. Es ist also eine Diskurstaktik, die "über die Körper, die Inzestwünsche zu entdecken sagen, verfügt [...], die mit Benennungen und Umbenennungen den Spielraum selber der Wünsche auftut."(28)
Es sind nicht Erfahrungen und Erinnerungen, die die Schreiber Goethe und Novalis zur Verscheibung des Familienzentrums bewegen; es ist das anonyme Feld der Reden, in dem eine Mutation statthat. Positivität hat der Primat der Mutter denmach nur als eine textuelle Operation. Die intratextuelle Recodierung, die bei Novalis zwischen patrilinearem Roman und matrilinearer Romaneinlage spielt, beweist das auch für die intertextuelle, die bei Goethe zwischen patrilinearer Erstfassung und matrilinearer Zweitfassung eines Romans spielt.(28)
Den diskursanalytischen Prämissen entsprechend geht in strenger Gesetzmäßigkeit mit der "Mutation der Familie" als" Neuregelung kultureller Codes" eine "Mutation der Erzählstruktur" einher. An die Stelle des Erzählers der ersten Fassung tritt in der zweiten der Held selber. Dessen seine eigene Kindheit erinnernden Reden aber sind bestimmt von dem "Kommunikationsnetz, darin das Erinnern statthat, und das, wie immer, über die kommunizierten Inhalte bestimmt", d.h.
das Vermögen selber, 'sich' der Kinheit zu erinnern, entspringt der matrilinearen Codierung: Die Mutterliebe (genitivus subjectivus), die dem Sohn die Gabe der Phantasie erregt hat, kehrt wieder in der Mutterliebe (genitivus objectivus), die den Sohn seine Kinheit phantasievoll heraufbeschwören heißt.(29)
Der Sohn erinnert also phantasievoll den Wunsch der Mutter, daß er sich ihrer phantasievoll erinnere. Mit der matrilinearen Recodierung wird so das Sprechen "privatisiert".
In der Theatralischen Sendung spricht ein Erzähler, d.h. eine anonyme und öffentliche Stimme, zur Leserschaft von Wünschen eines Kindes, die aus dem Besuch öffentlicher Messen herrühren. In den Lehrjahren spricht ein Ich-Erzähler zu Mutter und Geliebter privat von Kinderwünschen, die seine Mutter, die Mitte der neuen und privaten Familie, geweckt hat. Der Diskurs, vordem schriftlicher Bericht, wird als mündliche Erinnerung Ziel und Träger einer Liebe, die den Helden selber seine Kindheit als »Lieblingsmaterie« ausbreiten heißt.(29)
Die Gleichungen Kindheitsgeschichte gleich Mutterbezug und "Gabe der theatralischen Phantasie" gleich "orale Gabe" ergeben dann die Sexualisierung des "mündliche[n] und d.h. orale[n] Erzählen[s] selber solcher Geschichten: Sie heißen fortan »Lieblingsmaterien« und »Lieblingsgeschichten« für einen sprechenden Mund".(30). Da der "Dritte des Diskursnetztes Familie" ausfällt und damit sein Wort, das "für kulturelle Unterscheidungen und d.h. zuletzt für das Wort selber einstünde"(31), "verwischt die Grenze zwischen Wort und Bild". Gemeinsame Tagträume und gemeinsames Erinnern von Mutter und Sohn, "die noch beide nur im Diskurs bestehen, werden Anschauung".
Zeit und Vergessen können der Kinheit nichts anhaben; sie ist gespeichert in Bildern, die wieder vors Auge treten. »Ich sehe es diesen Augenblick noch vor mir« wird in der Goethezeit zur rituellen Formel dieser Auferstehung.(31)
"Poesie als visuelle Halluzination - das ist ein allgemeiner Zug am klassisch-romantischen Literaturkonzept."(32)
Die Umschrift der Figur der Schauspielerin Mariane produziert eine weitere "diskursive Mutation". Sie tilgt an ihr die Züge einer "Spenderin erotischer Begabung" und eines "Führers" bei der "Entdeckung der Körperländer" auf dem "langwierigen und artifiziellen Initiationsweg zur ars amandi"(34) Das ist genau die Mutation, "die Foucault allgemein zwischen traditionale Erotik und neuzeitlicher Sexualität ansetzt:"
Die ars amandi formuliert ein esoterisches Wissen aus dem Mund des Meisters, das Bekenntnis der Sexualität formuliert eine Individualgeschichte aus dem Mund des Analysanden; die ars amandi betraf Regeln der Optimierung des Genusses, das sexuelle Bekenntnis betrifft signifikante Abweichungen von der konjugalen Norm.(35)
"Mariane büßt die symbolische Funktion des Initianten ein, um eine imaginäre im Wortsinn zu übernehmen: die Funktion der Imago."(35) Aus einer "aktiven Hetäre" - fern "dem Muttersurrogat Hure"(34) - "wird also die passive und verlorene Unschuld".(35) Individualität und ein "Paradies kindlicher Unschuld" gibt es bei Mariane usprünglich aber nicht, "bevor der Bürgersohn sie ansteckt"(37). Denn es bestehen "Unterschiede zwischen Wilhelm Meister und seiner Imago von Mariane einerseits und der Schauspielerin andererseits", denn Mariane lebt "unter fahrendem Volk" und bei Meisters Erzhählungen schläft sie ein. Das hängt damit zusammen, daß es bei aller "diskursiven Mutation" (35) einen sozialhistorischen "Stand der Familiarisierung"(36) gibt.
Kernfamilien sind zuerst die intellektuellen Bürger und erst später der Adel und die unteren Schichten geworden.(36)
"Wie dem auch sei: im unbürgerlichen Diskurs gibt es kein Paradies kindlicher Unschuld und keinen Mythos kontinuierlicher Entelechie. Die Erfindung der Kindheit hat die Fahrenden nicht erreicht." Denn Erinnern ist "eine Semiotechnik, die nur deren Opfern Spontaneität ihres Mundes heißt. Wie jedes Gedächtnis hat das der Kindheit einen sozialen Rahmen" (Maurice Halbwachs), sagt Kittler, mit dem letzten Begriff überraschend. Ähnliches gilt für die Gestalt Migons, und insgesamt ragen Figuren wie Mariane und Mignon
wie geologische Verwerfungen [...] in die Romangegenwart hinein, die der Diskurs bürgerlicher Familiarität ist. Ihre erotische Faszination auf Wilhelm Meister rührt her von einer Fremdheit, die nicht psychologisch reduzibel ist.(39)
"Wie nennst du dich?" fragt Wilhelm Meister Mignon. "Sie heißen mich Mignon", sagt es, seine Jahre seien nicht gezählt und auf die Frage nach seinem Vater: "Der große Teufel ist tot".(zit 38) Hier, so Kittler, bleibe "unauslöschlich [...] die historische Kluft den Reden eingeschrieben, die Wilhelm Meister und Mignon von den Namen führen."(39)
Der Bürger, in seiner Frage, liest Mignons Namen als Autonym, das sein Träger, reflexiv, ihm selber zuspricht. Mignon, in ihrer Antwort, liest ihren Namen als Heteronym, das anonyme Andere vergeben haben. Im Diskurs, der sie trägt, gibt es die Möglichkeit nicht, an der Rede Anderer den Index der Fremdheit zu löschen.(39)
Wilhelm Meister aber versteht seinen Namen, "als seien die Wörter und die Körper eins".
So unterlegt der Bürgersohn den reinen Signifikanten, die Namen sind, eine imaginäre Bedeutung für sein Leben. Das Kind im fahrenden Volk dagegen nennt als Namen einen irreduziblen und unübersetzbaren Signifikanten, der zuletzt auf einen symbolischen Vater (den »großen Teufel«) verweist.(40)
Mignon aber gerät unter die menschenfreundliche Beobachtung Natalies und eines Seelenarztes. Damit beginnt der "Kampf der Diskurse", in dem "alle Mittel recht und alle Widerstände grundlos [sind], wenn der Diskurs vom Menschen zur Reterritorialisierung einer Nomadin schreitet. Seine Hermeneutik ergreift die Waffe, an Mignons Reden eben das zu bemerken, was sie nicht bemerkt. Worte und Lieder werden zurückgeführt auf und »erklärt« aus der Kindheit ihrer Sprecherin. Das Zuhören unterläuft den Wortlaut einer Tiefenbedeutung zuliebe, die Mignon sprechend produziert, aber nicht hört."
Genau das ist kommunikationslogisch der Entwurf einer Theorie oder besser Diskurstaktik des Unbewußten.(40)
Das Unbewußte ist also Effekt einer diskursiven Mutation. "Als zur Zeit der Aufklärer die Pädagogik der Väter und Lehrer über den Kindern stand, gab es noch kein Unbewußtes und dessen Hermeneutik. Es gab nur die bewußte Heuchelei und ihr Heilmittel, den Freimut."(40) Hingegen ist es
ein Psychiater, der in Goethes Roman die Hermeneutik des Unbewußten formuliert. Von ihm an bis zu Freud herrscht bei denen, die die Macht zuzuhören haben, die Überzeugung, daß alle Rede mehr sagt, als sie sagt, weil sie aus der Tiefe einer Seele und Geschichte kommt.(41)
In Goethes Roman kommen zur Geltung "die einander komplementären Diskurspraktiken des unbewußten Bekennens und der psychologischen Hermeneutik, die die alten Spiele der Inquisition in anderer Form fortsetzen". Zum Wissen von der infantilen Sexualität kommt es nicht ohne Macht und Gewalt. Weniger die Dokumente einer Kultur (wie Benjamin annahm) als ihre Dokumentationstechniken sind immer auch Dokumente der Barbarei."
Sicher, die hermeneutische Gewalt hat nicht die Unerbittlichkeit der Folterknechte, der dermaleinst vonnöten war, um Geheimnisse satanischer Übertretung zu entziffern; es sind ganz im Gegenteil die Menschenliebe und das Mitleid, in denen die neue Macht haust und die vonnöten sind, um die Latenz einer devianten Sexualität hervorzuloken. Die Übertretung wurde gewußt, aber Anderen nicht gesagt; die Latenz wird, gerade umgekehrt, nicht gewußt, aber vom Sprechen selber gesagt.(43)
An die Stelle der "Zumessung eines Strafmaßes" nach dem "Geständnis von Gewußtem" tritt deshalb "der Plan einer Heilung".
Die Ablösung der juridischen Macht durch psychotechnische und biotechnische Steuerungsmechanismen ist aber genau die historische Mutation, die Foucault an der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschreibt.(43)
Wo also Mutter und Sohn mit dem "irreduzible und unübersetzbaren Signifikanten" sozusagen Tischtennis spielen, ist ein Fest nach alter Art im Gewand eines neueren angebracht. Bei dem Weihnachsfest, das Mathalie veranstaltet, spielt Mignon "einen der mythischen weihnachtlichen Gnadenbringer, die die Neuzeit erfunden hat"(44): einen Engel. Diese Feier steht in einer "Geschichte von Weihnachten", die die "einer Entdeckung und einer Segregation [ist]".(46)
Aus gemeinschaftlichen Ritualen von Erwachsenen, den Umzügen und wechselseitigen Beschenkungen werden einseitig ausgerichtete Sozialisationsspiele. Die von der Öffentlichkeit gesonderte Familie veranstaltet sie für ihre Kinder, die in der Familie noch einmal von den Erwachsenen gesondert werden. Denn die Geschenke, die sie empfangen, ohne Gegengeschenke zu machen, definieren die Kinder als eine eigene Gattung. Deshalb entspricht der Erfindung der Kindheit die eines mythischen Kindes, das Geschenke macht, ohne Geschenke zu empfangen.(46)
Daß Nathalie zur Gestaltung des Festes mit Mignon als Engel "eine Gestalt reiner Belohnung" einführt, zeigt, "welche unter den Elterninstanzen die reformierte Weihnachtsfeier regiert. Den Engel kann erstens ein Kind und zweitens eine weibliche Maske spielen."
So symbolisiert der Bezug zwischen maskierter Mignon und maskierender Natalie den Mutter-Kind-Bezug.(47)
Der Abschaffung der männlichen Gabenbringer, so des Knecht Ruprechts, entspricht die "Abschaffung des Erziehungsmittels Strafe" in der bürgerlichen Kernfamlilie. Die Gaben kommen von "der gattenlosen und jungfräulich-idealen Mutter"(47). Natalie hat "eine matrilineare Recodierung der Weihnacht" und ihre Familiarisierung vollbracht. Das führt wieder zu dem Geschenk der Mutter an Wilhem Meister und der darin praktizierten "Sozialisation durch Wunschwerweckung", die hier "dem neuesten Theoriestand zur Goethezeit" entspreche. Der wird kurz referiert.(48 ff) Innerhalb dieser Sozialisation wirkt der Mangel einer Äquivalenz von Gabe und Gegengabe in der Weise, daß "der Gabe, die keine Regel limintiert hat, eine individuelle Begabung [antwortet], die keiner Regel untersteht. Der Sprachbezug zwischen Gabe und Begabung gilt buchstäblich".(49)
Mignon in Engelsgestalt aber teilt nicht nur wunderwirkende Gaben aus, sondern ist "selber der höchste Reiz und das unerwartetste Wunder". "In Mignons Engelsmaske fallen weihnachtlicher Gabenbringer und weihnachtliche Gabe zusammen. Die Paradoxie, daß Natalie, um den Volksglauben an mythische Gabenbringer zu emendieren, einen mythischen Gabenbringer auftreten läßt, ist ihr Geschenk über all die »kleinen Geschenke« hinaus. So triumphiert das neue Sozialisationspiel über die Absichten seiner Regisseurin", und sie mystifiziert sich selbst mir ihrer Inszenierung.(49/50) Damit wird "die Pädagogik ins Mysterienspiel [überführt]". Die Transfiguration Mignons entspricht einem "unbewußten Wunsch Natalies".
Sie führt den mythischen Diskurs ein, den zu beenden sie das »Schauspiel« inszeniert hat. Was der Mythos transportiert, liegt zutage. Nach der matrilinearen Recodierung der alten Bräuche zirkuliert in Natalies Ritual der Signifikant des Mutter-Kind-Bezugs selber: der imaginäre mütterliche Phallus.(50)
Die Mignon angelegten Flügel bezeugen das. Das vorher androgyne Kind gerät, in Frauenkleider gehüllt, in die "Parität Mädchen = Phallus". "Über dieser Transformation steht der unbewußte Wunsch einer Mutter"(51). Nach Lacan bestehe »die ganze Frage der Perversion« darin,
»zu begreifen, wie das Kind in seiner Beziehung zu der Mutter - eine Beziehung, die [...] nicht gebildet wird durch seine vitale Abhängigkeit, sondern durch seine Abhängigkeit von ihrer Liebe, d.h. durch das Begehren nach ihrem Begehren - sich mit dem imaginären Objekt dieses Begehrens identifiziert, sofern die Mutter selber es im Phallus symbolisiert.«(zit 51)
Mignon fungiert also "als Signifikant in einem Diskursnetz, das zwischen Natalie und Wilhelm Meister gespannt ist und ihren maskierten Körper gleich einer Puppe steuert".(51) "Im Schatten des mütterlichen Phallos kann keine binäre Geschlechterdifferenz erscheinen". Deshalb muß "die todgeweihte Mignon" den imaginären Phallos der androgynen Natalie erst übernehmen "und sterbend ins Smybolische" entrücken, damit diese "Wilhelm Meisters mögliche Braut erst heißen kann".(52) Ob aber Natalie Wilhelm Meister "auf dem Feld des Todes" ihren Überrock reicht, oder "beim Fest der Geburt" einen Engel verschenkt: "Sie gibt, was sie nicht hat", denn an den Engel glaubt sie nicht und der Überrock gehört ihrem Onkel. So bezeugt sie mit Kittler das Wort Lacans, "daß »Liebe die Gabe dessen ist, was man nicht hat«". Denn der mütterliche Phallus ist "in den Registern Lacans gesprochen, nicht real und nicht smybolisch, sondern imaginär".(52)
Mignon wie auch die Kinder, die dem Weihnachtsfest beiwohnen, folgen in ihrer Auslegung des Erlebten keinen Vorgaben der Erwachsenen, sondern betreiben Selbsthermeneutik. Das Weihnachtsfest als Mysterienspiel ermöglicht "die Heraufkunft eines ganz anderen Diskurses. Kein didaktische Wort gebietet dem Kinderglauben Einhalt; keines überführt Vorstellungen und Bilder in die bildlose Transparenz des Wissens."(53)
Weil die matrilineare Familie den leeren Platz des Dritten umgeht, auf den Sprechakte referieren, steht Mignon ein Diskursraum offen, in dem Wahrheit weder Adäquation des Geäußerten an Sachverhalte noch auch Verbindlichkeiten des Äußerns heißt; der neuen Psychologie für Kinder zählt einzig die psychologische Wahrheit der fühlenden und sprechenden Kinderseele. Es ist kindgemäß, was und wie zwischen Mignon und den Mädchen geredet wird.(54)
Kinderrede als neuer Diskursraum aber hat "einen blinden Fleck". Die "Autarkie der Kinder" und daß sie kindgemäß sprechen, steht "im Ermessen eines Diskurses, der Kinderreden als eigene Redesorte statuiert". Was an den Reden Mignons, des "»wundersamen« und bewunderten Kind[es]", mit Goethes Wort »bedeutend« ist, verfügt "Goethes Grundwort, der Signifikant »bedeutend«".
Mignons poetisches Sprechen ist eine Erfindung ästhetischer Psychologie.(55)
Die Diskursanalyse kann so, "weil im Reich mütterlicher Kinderanbetung die Grenze zwischen Rede und Bild zergeht", auch "das Rätselhaftestes an Mignons Maskerade entziffern: ihr Symbolwerden". "Im Symbol der Anschauung, dem Eckstein von Goethes Phänomenologie, scheint Kunst die Macht des Diskures zu begrenzen - der Kreatur zuliebe, die spricht und besprochen wird."(55) So wird Mignon mit der Bitte »So laß mich scheinen, bis ich werde« (zit 55) "in ein unvergängliches und unnegierbares Symbol" überführt. "Die Kreatur und ihre psychologische Bedeutung, der Körper und seine angelische Maske werden eins, eins nicht auf dem Feld der Sprache, die »Schein« und 'Sein' trennt, aber auf dem Feld naturaler Entelechie, die »Werden« und 'Sein' verknüpft. Und darauf gerade zielt Goethes Definition des Smybols, das »die Sache ist, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache«.(zit 55)
"Niemand wird aus eigenem Symbol. Es gibt keine ästhetische creatio e natura, weil Symbole Tauschwerte in Diskursnetzen sind. Auch das Symbol der Anschauung, das dem Sprachsymbol opponiert, entsteht und besteht im Rahmen von Ritualen."(56) Hier aber sind in den Ritualen die Rollen von Erwachsenen und Kindern vertauscht.
Keine andere Bewandtnis hat die Erfindung der Kindheit. Wenn die Goethezeit die Kinder, mit Natalie zu sprechen, zu Wesen eigenen »Wesens« macht, hört Initiation im hergebrachten Sinn auf. Wo Initiationsrituale eine Glauben aus dem Register der Bilder in das der Worte hinübertragen, errichtet die Bildung aus Worten unvergängliche und unnegierbare Symbole.(57)
Ihr Bilderkult verwirklicht wie Humboldts Universitätsreform ein neues Erziehungsideal: Bildung als kulturelle Kontrollinstanz, der gegenüber keine Agressionsregung mehr möglich ist.
Von der Weihnachtsfeier zum Schauspiel. "Anschauungssymbol und Illusionstheater [haben] dieselbe Logik". Es kommt es im Roman "zu der endlosen Autoreferenz, daß ein Weihnachtstheater das Geschenk eines Theaters und mit ihm einen Schauspieler macht."(57) Bleibt nur die Frage, wer oder was "die theatralische Illudierung bewirkt"(58).
Wenn der halbdurchsichtige Schleier bei Goethe Symbol des Symbols selber ist, gibt das Gedicht Zueignung die Antwort. Der »Schleier«, den die programmatische Dichtung der »Dichtung« selber gleichsetzt, ist die Gabe eines »göttlichen Weibes«, nach dem der Sprecher sich »als Knabe schon gesehnt« hat.(58),
Die Antwort lautet mithin:
'Die' Frau und »die Wahrheit« können ohne Verhüllung nicht sein. Was nur besagt, daß sie die Verhüllung brauchen weil sie nichts zu verhüllen haben. Genau das ist die Logik des Fetischisten, der einen Ersatz des mütterlichen Phallus errichtet, um nicht zu sehen, daß nichts zu sehen ist (Die Kastration ist symbolisch, d.h. Funktion einer Rede.) Und es ist die Logik »der Wahrheit«, deren Glanz verhüllt, daß es »die« Wahrheit nicht gibt.(58)
Wahrheit und Frau sind nicht identisch oder die Frau ist die Nichtwahrheit der Wahrheit, oder mit Derrida:
»Es gibt kein Wesen des Weibes, denn das Weib spreizt sich. Es verschlingt und schickt in den Abgrund/envoie par le fond jede Identität, jede Eigenart. Hier scheitert geblendet der philosophische Diskurs und läßt sich in seinen Untergang stürzen. Es gibt keine Wahrheit des Weibes, dies aber, weil dieser abgründige Abstand der Wahrheit, diese Nicht-Wahrheit die "Wahrheit" ist. Weib ist der Name dieser Nicht-Wahrheit der Wahrheit.« (zit 59, übersetzt KM)
In Kittlers Kommentar: "Die weiblichen Gaben der »Dichtung« im philosophischen Gedicht und des Theaters im Bildungsroman sind demnach »Schleier« oder »mystische Vorhänge«, weil sie eine Geschlechterbeziehung verhüllen oder, was dasselbe heißt, einen Diskurs vom unenthüllbaren Geheimnis hervorrufen. Es ist das Geheimnis der Frau und näherhin, im klassischen Diskurs, das Geheimnis der Mutter. Was die Mutter tut, begehrt und gibt, bleibt schleierhaft, macht also sprechen. [...] Und weil nach der Trennung von Erwachsenen und Kindern keine Gegengabe die mütterliche Gabe ausschöpfen kann, hören Sprechen und Verschleiern nicht auf. Diese Asymmetrie unterscheidet das Symbol der Anschauung vom Sprachsymbol, das als tessera hostpitalis Bezüge von Tausch und Äquivalenz verbürgt. »Die Wahrheit« ist der Schleier eines mütterlichen Begehrens, das im Maß seiner Unartikuliertheit das Geschick des »Dichters« artikuliert."(59)
Die Diskursanalyse aber blickt hinter den Schleier. "Wenn das Symbol der Anschauung eine Theaterlogik von Offenbaren und Verbergen hat, ist des der Effekt einer Inszenierung". Diese sehr schön als Nachrichtenkette zwischen Kind, Großmutter und Mutter im Einzelnen 59 ff. Das "Theater der Illudierung" aber, so Kittler im Ganzen mit Octave Mannoni, beruht "auf der realen oder imaginären Präsenz eines Kindes", dem der desillusionierte Zuschauer die Illudierung zuschiebt. So die Mutter Wilhelm Meisters: im öffentlichen Theater ist sie Kind, im "Privattheater der Familie" hat sie es. "Auf seine Illudierung ist es berechnet, daß sie das Theater im Rahmen eines Theaters schenkt.(63)
"Das war nicht immer so". Wilhelm Meister und der Schauspieler Serlo stehen "gegeneinander wie Exponenten zweier historisch unterschiedener Laufbahnen. [...] Wie Mariane und Mignon ragt auch Serlo gleich einem Fossil in den Diskurs der Bildung hinein".(63/64) Der Schauspielerberuf entspricht nicht einer Begabung aus Bildung sondern einer Zurichtung durch Prügel. Die Prügel dient dem Memorieren der Rollen. Nietzsche zitierend - »Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört wehzutun bleibt im Gedächtnis« (zit 65) - identifiziert Kittler eine "archaische Mnemotechnik". Diese sei
zuletzt nicht eine Sache der Strafjustiz sondern der symbolischen Ordnung. Sie verbürgt elementare Diskurspraktiken wie Einweihung, Inititation, Zeugenschaft.(66)
Dasgleiche gilt für die noch unfamiliarisierte Mignon. Auch sie ist zunächst das Produkt einer "alten Körpertechnik", die auf "die technische Reproduktion von Hergebrachtem" zielte. "Serlo und Migon sind Meister im Auswendiglernen" und Mignons "Tanz vor Wilhelm Meister ist »wie ein aufgezogenes Räderwerk«, ihr Gesang »feierlich und prächtig«".
Der Automat Mignon läuft ohne Seele. Und weil die Seele, aller Psychologie zum Trotz, ein Effekt der matrilinearen Primärsozialisation ist, muß Mignon vom Vater Meister erst der Mutter Natalie überstellt werden, um am Lebensende als Weihnachtsengel Reden zu lernen, die statt mechanischer Rezitation »bedeutende« Selbstaussprache eines »Herzens« sind.(68)
Das gilt auch für einen "alten Phantasiebegriff", der "einzig kombinatorische Virtuosität, Bastelei im Sinn von Claude Lévi-Strauss [ist]". Ihn überschreitet die Goethezeit auf etwas hin,
was der Roman »eigentliche Erfindungskraft« und die zeitgenössische Philosophie Einbildungskraft nennen. Um kraft Einbildung Neues zu »erfinden«, bedarf es einer »Tiefe« des »Gefühls«, die keine Körpertechnik graben kann. Es muß, mit anderen Worten, eine Psychologie die Macht ergriffen haben, die an der Schnittfläche von Körpern und Wörtern Seelen hervorruft.(69)
Die weitere Analyse der drei Kernfamilieninstanzen des Romans bringt dann die Wahrheit hinter der Illudierung zutage: "poetische Begabung [ist] eine Gabe und keine psychische Eigenschaft, eine Schreibmaschine und kein Selbstbezug. Der neue Beruf, den Wilhelm Meister "auf die Bühne der Geschichte [stellt]: den Schauspieler-kraft-Einbildungskraft", heißt sich selbst, und nur sich selbst spielen können. "Nur daß er das kann, liegt nicht an ihm selbst."(73)
Der Schauspdieler, der überlieferten Puppenschauspielen seine eigene Familiensituation unterlegt, setzt ein Archiv und eine Mnemotechnik voraus. Erinnerungsrituale [...] und Speicheranlagen [...] machen die infantile Situation unvergeßlich. Solche Maschinen sind rekursiv: Im Diskurs kann vergangenens Erinnern selber noch einmal erinnert werden. Die Körper-Mnemotechniken dagegen sind [...] ihrem Namen zum Trotz, den Körpern selber an Vergeßlichkeit gleich [...].(73/74)
Das Individuum Kind ensteht erst, "wenn positive Diskurstechniken seiner Familie die Wünsche bemerken, sammeln, auslegen und rückkoppeln. Die Rekursivität dieser Diskurse ist der Spielraum, in dem der neue Schauspieler Identifkation lernt."(74) So entsteht das Individuum Schüler erst, "wenn die Schule die Lateinfehleranzeige in Prügeln durch die Fehleranzeige in Zensuren ersetzt, die archiviert, gemittelt und dank kontinuierlicher Vergabe als Indikatoren einer koninuierlichen Entwicklung ausgewertet werden können".(74) So entsteht auch das von Wilhelm Meister angestrebte »Nationaltheater«" "erst wenn der Geist auf dem Theater sich »Vater« nennt". Dazu müssen aber "die endlose Mannigfaltigkeit der Rollen, die Geschichte und Literaturen den Körpern anbieten, zu lauter Kernfamiliendreiecken gefaltet"(79) sein und die Zuschauer "ein »Mitgefühl alles Menschlichen«, d.h. Familialen" erleben können. Dann aber heißt es Nationaltheater nicht als Theater der Nation. "Denn das neue Konzept der Nation war in Deutschland nicht primär staatlich oder politisch gemünzt; es beruhte auf der Gleichung Nation = Natur, Natur = Familie, Nation = Familie".(80)
Die "Dramaturgie der Identifikation und Illudierung" muß so "die Dramaturgie des Schreckens" ablösen.
Die Dramaturgie des Schreckens läßt familiale Identifikation nicht zu. Zerissen stehen die Zuschauer zwischen den zwei Fronten eines Kampfes, den fürstliche Übergewalt und rebellsche Übertretung ausfechten. Die Übergewalt, die nach Foucaults Worten das Leben ließ und das Sterben machte, übergeht den Agenten von Identifikation, das Individuum. Die Lebenden werden als Körper abgeschreckt, die Sterbenden von Schwert und Folter zuerstückelt wie Serlo von der Rute. Vor allem aber sind alle, Zuschauer und Opfer, selber Schauspieler für einen verborgenen Zuschauer: Ihr Schrecken und Blut regalieren den fürstlichen Blick.(81)
Das bezeugt Nietzsche mit dem Satz »ohne Grausamkeit kein Fest«. So nicht mehr in der Neuzeit. "Neue Justiz und neues Theater lassen das Töten und machen das Leben"(82) und die geschlossene Illusion des Theaters sprengt kein fürstlicher Blick mehr.
Das Sprechen und Spielen des von der Mutter begabte Kindes ist der Effekt familialer Archivierungstätigkeiten; diese wiederum werden von umfassenderen Aufschreibesystemen kontrolliert. "Meister tritt einer jener Geheimgesellschaften bei, die 18. Jahrhundert, obwohl und weil sie auch Adlige aufnahmen, Speerspitzen der bürgerlichen Hypokrisie und Machtergreifung waren."(84) Zwischen der Programmschrift des Illuminatengründers, Adam Weishaupts Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt- und Regierungskunst, und den Initiationsritualen der Turmgesellschaft "bestehen genaue Entsprechungen". Weishaupts Schrift kritisiert Mängel der Arbeit von Kirche und absolutistischem Staat in der Sekundärsozialisation. "Der Prototyp abendländischer Individualisierungstechniken, die Ohrenbeichte, fragt anhand abstrakter Schuldkompendien ab; wie der Staat kennt und erkennt auch die Kirche bloß Einzeltaten und nicht Charakterganzheiten." Wohingegen Weishaupt Geheimgesellschaften "als Agenturen des Lebens und der diesseitigen Tugend" fordert, nämlich »die Kunst, den Menschen ohne äusserlichen Zwang durch sich selbst zu leiten, indem er bey solchen die nöthigen Vorstellungen sammt einem innern, subjectiven, fortdauernden, ungleich wirksameren Zwang erweckt«. (zit 84/85).
Nicht theoretische Neugier also hat die Erfindungen von Kindheit und Jugend gemacht. Schnell und genau registrierten die alten Mächte, daß die Innovationen der Literatur und Wissenschaft Praktiken einer neuen Macht waren [...]. Dieselbe Kultur, die zum erstenmal in der Geschichte mittels Familienrecodierung und Psychagogik die kulturelle Beschriftung der Kinder ausdrücklich regelt, trägt ihr bei der Sekundärsozialisation ausdrücklich Rechnung. Sie decodiert an dem, den sie codierte, kindliche und individuelle Neigungen, die Weishaupts Traumorden und der Turm nur noch zu emendieren und zu steigern brachen. [...] Daß die Primärsozialisation des Helden zu seiner Erinnerung und seine Sekundärsozialisation zur Arbeit einer Geheimgesellschaft wird, produziert das eine Konzept des unauslöschlichen Ursprung. Ihn erinnern und ihn benutzen können sind zwei Seiten eines Selben.(86)
Aufgrund dieses "Unauslöschlichkeitstheorem[s]" können die Vorsteher des Turms Bildung statt Aufklärung betreiben: "sie meißeln nicht, sie beschriften nicht und produzieren doch".
Ohne Beschriftung und Zwang gebildet zu werden, erfüllt den Wunsch derer, die ohne Zwang zu Wünschenden gebildet worden sind. [...] Die zweimal zwei Alternativen des Endes - Schafott oder Ahnengalerie der Macht, Hölle oder Himmel des Glaubens - haben ausgespielt. Die »bürgerliche Gesellschaft« verabschiedet ihre Atavismen. Das Planen des Lebens, dem lebensgeschichtliche Mnemotechniken die Kontinuität eines »Weges« verschaffen, löst das Vollstrecken ab. Der Weg aber ist ein Integral von Irrwegen, die eine produktive Einbildungskraft bahnt [...].(86/87)
Reines Zuschauen also auf seiten des Turms "garantiert oder produziert die Selbstwegung seines Gegenstandes"(87). Das Individuum wird geführt über an ihm installierte Ansprechstellen.
Nur an Körpern, denen in der Frühe eine Neigung und Individualität zugesprochen wurde, kann die Pädagogik des Turms Stellen der Ansprechbarkeit finden. Genau diese Stellen am Körper sind es, die der Abbé »auszubildende Organe« nennt. Um nicht Bruch mit der Primärsozialisation zu sein, verfährt die Sekundärsozialisation nach dem Modell der neuen Psychiatrie; sie überführt Abweichungen in die ihnen inhärente Norm. Mehr ist auch nicht vonnöten, weil die Individuen gewordenen Körper nicht straffällig werden.(88)
Und deviante Wünsche können durch ihre Erfüllung geheilt werden.
Die Initiation in den Turm ist ein Schauspiel. "Ein Theater heilt Wilhelm Meisters Theaterleidenschaft". Die Initianten sind die Emissäre, die seinen Irrweg beobachtet und kritisert haben. "Statt einer dem Einweihungsziel internen Logik, wie das in anderen Ethnien die Regel ist, bestimmt die Lebensgeschichte des Initianden übers Auftreten der Initianten. Die Aufnahmezeremonie, statt Zäsur und Neugeburt zu sein, vergegenwärtigt und wiederholt." Und wenn zum Schluß der Geist aus der Hamletaufführung auftritt, reproduziert er als »Geist deines Vaters« (zit 89) "die Urszene des Kindes, zwischen Glauben und Wissen, Schein und Sein, Erinnerung und Gegenwart zu oszillieren". "Die unauslöschlichen Imagines der Kernfamilie produzieren Individuen im Wortsinn: Seelen, deren Lebensganzheit keine Zäsuren und Zufälle zerteilen können." Wo aber "neue und geistige Väter den realen verkörpern, entsteht beim Neophyten eine Identität, die Maskenspiele selber unmöglich macht."
So wird der Theaterwunsch Wilhelm Meisters "aporetisch", wenn "nach dem gemeinsamen Apriori der Primär- und Sekundärsozialisation alle Talente einem unauslöschlichen Unsprung entspringen". An die Stelle des Theaterwunsches tritt der nach Identität, entsprechend der historischen Mutation, die Rollenspiele unmöglich macht. So wird "unter Ausklammerung jeder Berufswahl eine Identität, die aus der Herkunftsfamilie stammt, in eine Zielfamilie überführt"(90). Das Initiationsziel ist deshalb erreicht, wenn Wilhelm Meister die von ihm erwartete Frage ausspricht, ob das Kind Felix sein Sohn sei. Bejaht wird die Frage durch "das Wort eines geistigen Vaters", des Abbés. Die Aporie, daß der "geistig-geistliche Vater"(91) entweder an der Vaterschaft zweifeln müßte, würde er sich in Sachen von Felix' Mutter auskennen, oder, würde er es nicht, die Vaterschaft nicht bestätigen könnte, wird durch eine semiotechnische "Sprachregeleung" gelöst. "Die Zeugung und ihre Bezeugung treten zusammen in einem Konstrukt ohne Vorbild. Meister und der Abbé erfinden die natürliche Vaterschaft. Meister »fühlt's« (zit 91), daß Felix sein sei. Der Abbé hält weitere Fragen für überflüssig: »die Natur hat dich losgesprochen«.(zit 91)
Wilhelm Meister übersetzt ein Wort in Gefühl und Natur, die der Beweis ihrer selber sind und Worte überflüssig machen. Das tut er nicht aus eigenem. Das unmögliche Gefühl, Vaterschaft zu fühlen, ist der Effekt einer Rede, die vom Reden selber »losspricht«. Der Betritt zur Turgesellschaft endet mit der exakten Umkehr aller Initiationsrituale [...].
Das unerhörte Ereignis ist,
daß ein symbolischer Vater [der Abbé, KM] im Augenblick selber seiner Parousie zugunsten der »Natur« zurücktritt. Sein Sprechen, statt wie jedes Sprechen grundloses Ereignis zu sein ('ich spreche dich los') heißt ihm nur Übersetzung: »die Natur hat dich losgesprochen«. Am Scheitelpunkt des Initiationsrituals also beruft der Turm wieder als unauslöschlich einen Ursprung, den auszulöschen Initiation bezweckt.(91)
In dieser Umkehrung des Initiationsrituals entsteht "jenes Verhältnis zwischen Geist und Natur, das Goethes Schreiben kennzeichnet".
Der Geist, den der Abbé vertritt, spricht nicht aus Vollmacht und Ohnmacht der Kultur; seine Rede beruft als ihren Grund eine Natur, die er nicht ist. Aber diese Natur, statt schlicht vorzuliegen, bedarf des Geistes, der sagt, was sie sagt. Das Verhältnis zwischen Geist und Natur wiederholt also die Balance zwischen Wissen und Glauben, Rede und Bild im Goetheschen Symbol, und zwar aus dem guten Grund, weil es selber ein ästhetisches ist: Das preisende Sprechen des Abbé, der auf einmal duzt, hat den Status von Kunst. Wie die Allmutter in Klingsohrs Märchen ist auch die Natur Wilhelm Meisters das Resultat eines Stifungsaktes; es gibt sie nicht außerhalb der Zeichensysteme, die sie bezeichnen.(91/92)
Diese Balance oder Verknüpfung von Rede und Gefühl, Geist und Natur kehrt an Wilhelm Meister wieder. Er
wird nicht Vater , weil ihn eine Initiation in eine Geschlecher- und Generationenreolle einwiese, sondern weil ihn ein symbolischer Vater, der selber zugunsten der Natur zurücktritt, realen Vater nennt. Im umgekehrten Initiationsritual entsteht zwischen Namen-des-Vaters und leiblichem Erzeuge jene Gleichung, die die moderne europäische Kernfamilie von anderen kulturellen Ordnungen unterscheidet. (92)
Diese Gleichung ist eine bürgerliche. Der Held, "vordem Zielscheibe von Sozialisationtechniken, wird selber zur Sozialisationsinstanz, während an die freigewordene Stelle des »Lehrlings« sein Sohn tritt. Der Roman demonstriert, daß und wie die Produkte der neuen Sozialisationstechniken sie produktiv weitergeben"(93).
Genau die Neuerungen der Herkunftsfamilie also kehren in der Zielfamilie wieder. Ausdrücklich tritt die Konjugalität zurück vorm Kinderbezug als neuer Familienmitte: Meister sucht bei Frauen weniger die Gattin denn einer Mutter seines Sohns [...]. Das nimmt dem Generationenunterschied alles Schneidende: im Sprechen, das »Sohn« und »Bruder«, und im Handeln, das Erziehen und Miteinanderspielen gleichsetzt. [...] Das Schwanken zwischen Vaterschaft und Bruderschaft erlaubt es Wilhelm Meister, auch nach seiner Aufnahme unter die Erwachsenen auf beiden Seiten des Vorhangs zu stehen, der sie von den Kindern trennt. Wie seine Mutter kann er Kind auch und gerade dann bleiben, wenn ihn der Auftritt eines Sohnes als Nicht-Kind definiert.(93/94)
"Diese Recodierung hat systematische Relevanz. Der Abbau der Generationenschranke und die neuen Sozialisationstechniken sind solidarisch". Wenn Vater und Sohn zu Kameraden werden, "müssen alles kulturelle Wissen und seine Übermittlungstechniken revidiert werden"(94). Es tritt auf mit dem Pädagogen Salzmann die »Erziehung der Erzieher«(zit 94) durch einen angenommenen angeborenen Wissenstrieb beim Kind. Von der Goethezeit her also datiert, "daß auch wir noch [...] zu wissen sagen, daß wir nicht wissen, wenn unser Wissen nicht auf Kinderfragen eingeht und antwortet [...]".
Das Konzept Kind ist also dazu da, denn Willen zum Wissen zu schärfen und seine Felder und Überlieferungstechniken zu modernisieren. Wilhelm Meisters Vaterschaft aus Natur spricht ihn vom Lehrlingsstand nur los, auf daß er Lernen selber lerne. Von Lessings weisem Nathan, einem Vater aus Adoption und Kultur, konnte seine Tochter sagen, daß sie ihm all ihr Wissen dankt. Goethes Romanheld dankt es umgekehrt seinem Sohn. Diesem Schwenk dient die Naturalisierung der Vaterschaft.(95)
Tritt hinzu Natalie als Natur. "Die Natur Natalie garantiert die Kontinuität kernfamilialer Sexualisierung: sie koppelt Kinderpflege und Erotik."(97) Und aus gleichem entsteht gleiches. "Wilhelm Meister, seine Geliebte, sein Kind -sie bilden eine heilige Familie, deren Mitte die Mutter und deren Idol das Kind ist."(98) Alos brauchen die deutschen Bürger keine französische Revolution: sie hatten "mit der Erfindung der Sozialisation"(99) ihre eigene entdeckt. "Revolutionäre und Sozialisatoren hatten dieselben Programmschriften". Nur weiß Wilhelm Meister von all dem nichts, schon gar nicht davon, daß alles, "was ihm Liebe auf den ersten Blick heißt, [...] von langen Ohren schon registirt und von langer Hand schon vorbereitet worden [ist]"(99), um ihn zur Fortpflanzung kernfamilialer Strukturen anzuregen. Er wird durch "die ödipale Semiotechnik, die die Turmgesellschaft einsetzt"(99) gesteuert.
Für diese Semiotechniken sind Aufschreibesystem zuständig. "Die Turmgesellschaft archiviert alles mögliche: Bilder, Körper, Texte. [...] Aufgabe der Sammlung aber ist nicht das Überliefern von Überlieferten, sondern das Dokumentieren von Materialien, die vordem die Aufschreibeschwelle nicht überschritten. [...] Neue Semiotechniken ersetzen die Gerätschaften des Eingedenkens und der Informationsbewahrung, auf denen religöse Macht und gelehrtes Wissen beruhten."(100) Was hier verzeichnet wird, sind "Geschichten, Körper, Dokumente von Mitglieder und Schutzbefohlenen selber des Turms"(101). "Die Absage an kulturell vermittelte Perspektiven und die Erfindung von Individualität fallen zusammen."
Das paradoxe Tun des Turms - daß eine kulturelle Instanz die Natur als lossprechende von Kulturgesetzen losspricht - produziert eine neue Textsorte. Ihr Status ist literarisch. Nach 1770 trennte die Literatur ihre Distributionsregeln von denen der Gelehrtenrepublik [...]. Die Literatur und die Textsammlungen des Turms sind homolog, weil beide das Gefälle zwischen Schreibern und Beschriebenen einebnen. [...] Bekenntnisse und Konfessionen archivieren die Selbstbilder der einzelnen Mitglieder, Dossiers und Biographien ihre Fremdbilder. Beide Textsorten werden kollationiert, bis endlich jene Handschriften entstehen, die die Zöglinge des Turms bei ihrer Einweihung sehen und einsehen können.(101)
Die Heterobiographie aber ist "zuvorkommend". "Um ein Bekenntnis zu schreiben, das mehr ist als Selbstzerfleischung und Sündenregister, bedarf es der zuvorkommenden Heterogiographie, die an einem scheinbar vergeudeten Leben dessen Positivität »ins Gedächtnis« zurückbringt."(101/102)
Erst Spiegel und Portrait, Auto- und Heterobiogrpahie zusammen machen das Bild eines Individuums aus allen Perspektiven, die ihm gebühren. Keines der schreibenden Individuen sagt, daß es alles sagt, keines der beschriebenen, daß es unsäglich ist; den reinen Selbstbezug in seiner Leere lösen sozialisierende »Fingerzeige« ab, das reine Gesetz in seiner Härte individualisierende Distanzierungen. So entsteht zwischen Norm und Devianz, den zwei Korrelaten der neuen Machttechnik, ein endlos begehbares und beschreibbares Feld. Die Zöglinge des Turms lernen mit eigenen Augen nicht zu zu sehen, was sie sehen, sondern auch, wie Andere sie mit je eigenen Augen sehen. Die Komplexität intersubjektiver Bezüge, die gegenwärtige Theorie um den Preis des Formalismus artikuliert, hat die Geburtsstunde ihrer Erforschung in solch neuen Schreibtechniken. Erst ein Leser und Schreiber des eigenen Lebens, wie Wilhelm Meister es ist, kann zwischen seinem Bild von ihm, dem Bild Anderer von ihm und seinem Bild vom Bild Anderer von ihm trennen. Das Aufschreibesystem der Sekundärsozialsiation überführt mithin den Helden, den seine Primärsozialisation zum Individuum machte, in ein Individuum-unter-Individuen.(102)
"Literarische Positivität" erhält dieses Individuum als Autor. Autorschaft aber ist "eine reine Funktion, ein Konstrukt". Auf dreifache Weise führt Wilhelm Meister "Autorschaft und Individualität in Texte ein", in voller Solidarität darin mit der Turmgesellschaft.(im Einzelnen 103 ff)
Alle Handgreiflichkeiten, die Wilhelm Meister und der Turm an Texten vornehmen, unterlegen ihnen mithin einen Autor und eine Entwicklung zugleich. So buchstäblich gilt, daß die »kontinuierliche Geschichte das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts ist«.(33) Techniken des Textumgang und der Sozialisation sind gekoppelt. [...] Die Erfindungen von Individuum und Kindheit sind nicht einfach vorausgesetzt; sie werden auf der Ebene des Diskurses selber gemacht. Das heißt beileibe nicht, daß der Roman zu einem relexiven Bewußtsein seiner Textur käme. Es heißt, daß Sozialisation und Literatur um 1800 einem historischen Apriori unterstehen. Die eine wäre nicht ohne die andere. Nur in ihrer Sozialisation individualisierte Leser können Schreiber und Figuren von Texten als kontinuierliche Individuen, als Autoren und Charaktere deuten. Nur das Aufschreibesystem Literatur kann Individuen statuieren und den neuen Sozialisationtechniken, die ohne rechliche Fixierung auskommen, Bestand und Verbreitung verschaffen.(106)
Das aber hat zur Folge, daß anstelle des Bezugs auf sein historisches Apriori die Beziehung des Romans auf sich selbst tritt. Das Individuum Wilhelm Meister geht in die Literatur ein, "weil Literatur Individuen machen und von Individuen gemacht werden kann."(106) "Seine Lehrjahre, die der Neophyt zu lesen erhält, sind bis in den Titel hinein dem Roman selber homolog", denn "der anonyme Autor der Lehrjahre [schreibt] nicht anders als der anonyme Erzähler selber von Wilhelm Meisters Lehrjahren [...]".
So fungiert die Heterobiographie als Modell des Romans im Roman; sie ist der Punkt seiner Autoreferenz.(106)
In den Wanderjahren tritt dieses Schreiben in eine Diskurskette. Dort ist Wilhelm Meisters Schreiben kein Einzelfall. Der Personen, die zum Bund der Entsagenden stoßen, "figurieren zunächdt in eingelegten Novellen, die auch ihre Vorgeschichte mitteilen"(107). Diese werden verteilt und "weitergesandt in einem Diskursnetz, das dem Roman koextensiv ist". Hier tritt der Held in "ein Reich, dessen Bewohner alle aus Papier kommen". Er wird "zum Kettenglied einer Maschine, die Diskurse produziert, distribuiert und konsumiert." Der Turm ist die "literarische Bürokratie" dieser Fabrik, "und damit die Agentur selber des Bildungsromans". "Techniken der Macht und des Schreibens müssen zusammenkommen, um eine neue narrative Gattung zu erzeugen." "Die Züge des Bildungsromans weisen auf diese Konstellation von Macht und Wissen."(108)
Der Bildungsroman zählt mithin zu den Stiftungsurkunden eines Medienverbunds. Nicht alle Schreibweisen und Vertextungsmethoden, die ihn ausmachen, sind neu; neu aber sind ihre Kombination und ihre Zielscheibe. Hergebrachte Diskurse wie das religiöse Beichtritual, das literarische Porträt und die historische Heldenvita, neue Diskurse wie die psychologische Exploration des Unbewußten, der Kernfamiliencode, die auktoriale Literaturwissenschaft - sie alle treten zusammen, um als Korrelat der disziplinären Kultur das Individuum zu erzeugen. Der immense Aufwand beim Herstellen, Archivieren und Kollationieren von Texten dient nicht der Feier eines Helden und nicht dem Kult eines Gottes, er zielt auf das Unbeachtetgebliebene selber: den 'Menschen' und sein 'Leben'.(109)
Insofern "zählt Goethes Roman zu den Zeugnissen einer diskursiven Mobilmachung"(109)." "Offen formulieren die neuen Wissensformen seiner Zeit als Programmpunkte, vordem Unbeschreibenes aufzuschreiben, die verschiedenen Textsorten ihres Medienverbunds aufeinander abzubilden, Texte zu schreiben, die die wechselseitige Übersetzbarkeit avorliegender Texte herstellen, und durch Schreiben von Texten zum Schreiben von Texten zu bewegen."(109) "Die Wissenschaften vom Menschen und die Literatur der Autorschaft bilden zusammen eine Maschine, die Texte generiert und multipliziert." Das "Konzept der Multiplikatoren" ist entdeckt. Individuen produzieren Literatur, Literatur bildet zu Individuen. Zwischen Literatur und Sozialisation entsteht ein Wechselbezug. "Die Epoche, die die Primärsozialisation in die Literatur einführt, führt die Literatur in die Sekundärsozialsiation ein."(112)
Der 'Mensch' wird Grund und Sache der Diskurse. Roman und Autobiographie, »Dichtung und Wahrheit« gehen eine Legierung ein, die jedes Leben der Beschreibung und jede Beschreibung des Lebens wert macht. Die unerhörte Zunahme der Literaturproduktion am Ausgang des 18. Jahrhunderts war kein bloßes Resultat ökonomischer und technologischer Entwickung. Ein Programm griff durch, ein Kalkül ging auf, als die multiplikatorisch fungierende Literatur immer mehr Autoren und Leser schuf. An der Alphabetisierung Mitteleuropas war die Menschwerdung selber festgemacht.(112)
Es geht hier aber nicht um ein vergangenes Aufschreibesystem 1800, sondern um "unsere Kultur".
Unsere Kultur hat nicht unter der Maske Literatur alte Rituale bewahrt und fortgeschrieben; sie hat sie mit der Gewalt eines anderen, des literarischen Diskurses beseitigt. Der Gegensatz spielt nicht bloß zwischen der mehr oder weniger strikten, aber grundsätzlichen Esoterik von Initiation und der öffentlichen Proliferation von Literatur; er betrifft das Erwähnenswerte selber: Dort zählt das Gesetz, hier die individuelle Abweichung und Variante, dort die Einübung in den Tod, hier die Mehrung des Lebens, dort die Verwandlung in Masken, hier die Selbstfindung. Das Kind ist wichtiger als der Erwachsene, der familiale Wunsch bestimmender als die exogame Allianz. Rede ergeht nicht, um eine symbolische Ordnung zu artikulieren, sondern um bei Sprechern wie Hörern Produktivität zu produzieren. Die Freigabe der Natur macht Initiation überflüssig.(113/13)
An Interpretationen von Texten Goethes führt Kittler die psychoanalytische Interpretation einer Kindheitserinnerung Goethes aus Dichtung und Wahrheit durch Freud an. Die Psychoanalyse entdeckt dort "nicht mehr und nicht weniger als das matrilineare Fungieren der Literatur, die die matrilineare Recodierung vornahm. Sie sagt den Mutterbezug, den Goethes Roman impliziert und Goethes Autobiographie vergißt." Dabei entwickelt sie "eine Theorie vom »allgemeinen Vergessen der Kindheit« zu dem einzigen Zweck, sie zum Reden zu bringen."
Als ob die Kindheit mit ihrer historischen Erfindung nicht zugleich der unauslöschliche Grund, dem alle Rede entspringt, und der entzogene Abgrund, den alle Rede vergißt, geworden wäre. Als ob nicht die Rede selber vom Nichtreden nur eine der Taktiken wäre, die unser Reden provozieren und perpetuieren"(118)
"Zu diesen Taktiken gehört es bei Freud, alles auszublenden, was die Rede des Kindes Goethe dem Diskursnetz seiner Familie einschreibt." Die Psychoanalyse "sucht nach »Geheimfächern seines Seelenlebens« und nicht nach Speichereinrichtungen Anderer. So gerät der Text zu einem jener »Familienromane der Neurotiker«, denen schon ihre Name jeden Bezug aufs ergangensein von Diskursen abspricht"(118/19). Verdeckt wird die "Positivität diskursiver Ereignisse".
Ähnliche Kritik trifft auch "die hermeneutische Literaturwissenschaft um 1900". Auch die Hermeneutik läuft "auf die Okkultation diskursiver Strategien"(121) hinaus. "Darin bestehen zwischen hermeneutischer und analytischer Literaturwissenschaft um 1900 wenig Unterschiede." Von den "Wissensmächten unserer Kultur" sprechen ohne Umschweife offenbar nur ein Psychiater, der Goethes Erzählungen von Mignon zu seinen psychiatrischen Fallgeschichten stellt.(122) Gegen Georg Lukács' Theorie des Romans und Goethe und seine Zeit wird dann noch die Rehabilitation deutscher Diskursmächte gegen das "Gerücht" von Deutschlands politischer und ökonomischer Verspätung und rein kultureller Fortgeschrittenheit gesetzt. "Nicht alle Revolutionen [...] müssen den Staat betreffen, um wirksam zu sein; und bei der Erfindung der neuen Sozialisationsspiele, die die »menschliche Natur« freisetzen, war Deutschland - Madame de Staël hat es bezeugt - alles andere als verspätet."(124)