Friedrich Kittler. Romantik - Psychoanalyse - Film: Eine Doppelgängergeschichte. In: Jochen Hörisch/ G.Christoph Tholen (Hgg). Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. München 1985. S. 118-135

1828 sei ein romantischer Dichter dem Geist der Dichtung selber begegnet.(118) Adalbert von Chamisso, "Berliner Zechkumpan der Hoffmann und Contessa, Hitzig und Fouqué, hatte mit seinen Serapionsbrüdern wieder einmal beim Wein gesessen". Zu Hause findet er einen Doppelgänger. Das dichtet Chamissos Gedicht Erscheinung. Wer von beiden ist Chamisso? Der Identitätsbeweis ist schwierig. "Denn einfach weil es 1928 Paßphotos und Fingerabdruckkarteien, anthropometrische Zahlen und Datenbänke noch nicht gibt, müssen die zwei Duellanten im Verbalen oder Poetischen bleiben."(119) 1914 gräbt Otto Rank, "Freuds literaturhistorischer Sachbearbeiter oder Adjudant", neben anderen auch Chamissos Doppelgängererlebnis aus. Die psychoanalytische Überführung von "Dichtung in Wissenschaft" läßt aber "bestimmte Grundannahmen" unbefragt. Ranks Doppelgänger reichen gerade 100 Jahre zurück. Warum aber bevölkern sie erst seit damals die Papiere?
Kittler findet die Antwort in der Doppelgängerinszenierung in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren. Warum konnten Goethe und seine Zeitgenossen an Doppelgänger glauben? Die "technischen Bedingungen der Zeit"(122) geben Antwort. Man konnte an Doppelgänger glauben, weil das Individuum von 1800 nach Goethe nur ein individuelles Allgemeines war, "und d.h. keins", und "weil Wörter keine Singularitäten bezeichnen. Nicht einmal das Wort Doppelgänger selber. Und andere Medien als Wörter gab es in klassisch-romantischen Tagen nicht.(122) In den Leerstellen von Wörtern "kann Identifikation einklinken, die neue Rezeptionsvorschrift der Zeit".
Die erste Meister-Interpretation von Daniel Jenisch (1792) verrät schon: "Die Doppelgängerepisode im Roman dient einfach dazu, Leser auf identifikatorisches Lesen hin zu programmieren." "Weil um 1800 Individuen ja nicht aufgeschrieben werden" ist es "Meisters Eigentümlichkeit [...], keine Eigentümlichkeit zu haben und einfach der Doppelgänger seiner Leser zu sein. Mit der logischen Folge, alle Deutschen auf Goethelektüre zu verpflichten."(123) "Zauberspiegel aus anderen Ländern und Zeiten zeigen Göttinnen oder Dämonen. Im klassischen Deutschland spiegeln sie das Schafsgesicht von Bürgern, die ihr Leben und ihr Lesen verwechseln."(123) Und das sind "Leute [...], die auf Wörter immer schon hereingefallen sind". "Der Buchstabe wurde übersprungen, das Buch vergessen, bis irgendwo zwischen den Zeilen eine Halluzination erschien - das reine Signifikat der Druckzeichen. Mit anderen Worten: klassisch-romantische Doppelgänger entstanden auf der Schulbank, wo man rechtes Lesen ja lernt."(123) Das aber heißt: "Seitdem neue kindgemäße Leselehrmethoden das Alphabet versüßen und versinnlichen, seitdem Leute die Buchstaben nicht mehr als Gewalt und Fremdkörper spüren, seitdem können sie auch glauben, von Buchstaben gemeint zu sein. Alphabêtise nannte es Lacan."(124)
Die Doppelgängergestalten "unserer Tage" sind anders. Machs und Freuds autobiographisch bezeugte Doppelgänger tauchen auf in Omnibussen oder D-Zügen. Sie sind nicht das Produkt der allgemeinen Alphabetisierung sondern "der allgemeinen Motorisierung Mitteleuropas".(125) Von hier aus über Mallarmé(125 f) führt K. mit geschickter Zitatmontage seine Doppelgänger ins Kino. "Seit 1895 treten auseinander: ein bilderloser Letternkult namens E-Literatur auf der einen Seite und auf der anderen lauter technische Medien, die wie Eisenbahn oder Film die Bilder motorisieren. Literatur [...] gibt ihren Zauberspiegel an Maschinen ab."(125)
Damit ist nicht nur die Romantik hinüber, sondern auch die Psychoanalyse rückständig geworden: "Stummfilme implementieren in technischer Positivität, was Psychanalyse nur denken kann: ein Unbewußtes, das keine Worte hat und von Seiner Majestät dem Ich nicht anerkannt wird."(125) Denn die "Dummheit des Films" kann "Körper speichern, die bekanntlich genauso dumm sind". Wenn Dichtung Körperspeicherung betrieb, kamen individuell-allgemeine Umrißzeichnungen heraus. "Der Film dagegen zählt (wie Kriminalistik und Psychoanalyse auch) zu jenen modernen Spurensicherungstechniken, die nach Ginzburgs Einsicht Körperkontrolle optimieren."(126)
Doppelgänger sind hier "der Schatten des Körpers des Gefilmten". "Auf Filmen sehen alle Handlungen dümmer aus, auf Tonbändern, die ja die Knochenleitung Kehlkopf-Ohr unterschlagen, haben Stimmen keine Seele, auf Paßbildern sind nur Verbrechervisagen zu sehen - nicht weil Medien lügen würden, sondern weil sie den Narzißmus des eigenen Körperschemas zerstückeln." "Medien sind eine historische Eskalation von Gewalt, die die Betroffenen zu totaler Mobilmachung zwingt."(126)
Es folgen Hinweise auf die Entstehung der UFA unter Schirmherrschaft von Erich Ludendorff und auf den Vietnamkrieg. Generell gilt: "Seitdem Filmkameras - zum begreiflichen Leidwesen der Lebensphilosophie - mit Flügelscheibe und Malteserkreuz die Körper vorm Sucher zerhacken, um ihre 24 Bilder pro Sekunde zu schießen, ist Lacans corps morcelé eine Positivität. Er tritt anstelle jener ganzen Person, die klassisch-romatische Dichtung feierte oder produzierte."(127)
Im Kontext der Psychoanalyse verweist Kittler auf die phototechnische "Zerhackung" der Hysterikerinnen in Momentaufnahmen in der Salpêtrière unter Charcot mithilfe von Kameras mit 9 oder 12 Objektiven, die der Charco-Mechaniker und Rolleiflex-Erfinder Albert Londe baute.(127) Freud, "Zuschauer dieser Zerhackungen", ignoriert aber erst gar nicht diese "totale Mobilmachung, die die Psychoanalyse auf den Weg gebracht hat".(129) "Das Wort Kino kommt in seinen Schriften nicht vor". Otto Rank hingegen greift auf den Hanns Heinz Evers Stummfilm Student von Prag zurück, aber "eben nur, um ein banales Massenmedium auf unbewußte Symbolik hin aufzurollen".(129) "Der psychische Apparat verbaut jeden Sinn für technische" und "die Psychoanalyse des Films macht Verfilmung wieder rückgängig". "Als gäbe es keine technischen Schwellen, verifiziert sie eine Dichtung, die der Film eben abgelöst hat. Freuds Urszene - sein Salpêtrière-Jahr - ist erfolgreich verdrängt."
Das Kino und seine Drehbuchlieferanten besetzen "die von der Romantik geräumten Stellungen"(130). Was Dichtung versprochen "und nur im Imaginären von Leseerlebnissen gewährt hat, auf der Leinwand erscheint es im Realen". Die filmischen Doppelgänger - "Zelluloidgespenster der Schauspielerkörper" - sehen aber "auch und gerade Analphabeten". Dazu sind weder Bildung noch Schwipse nötig - wohl eher ein bißchen Psychose. Der "geniale Méliès" ermöglicht es, mit einer "ganze[n] Trickkiste" den Doppelgängern erster Potenz "die Filmdoppelgänger im Quadrat" hinzuzufügen. Wie die Doppelgängerszene in den Lehrjahren die literarische Intitiation abbildete, wird mit filmischen Doppelgängern im Film "Verfilmung selber verfilmt"(131) und gezeigt, "was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie technischer Medien geraten. Ihr Ebenbild wandert motorisiert in Körperdatenbänke."
So gibt denn auch Wegeners Golem den Aufhänger für eine weitere Belehrung der Alphabetisierten ab: "Golems [sind] eine Gefahr: blöde Doppelgänger eines Menschen, den es nicht mehr gibt, seitdem Medien -nach McLuhan ja Prothesen des Körpers - auch Zentralnervensysteme ersetzen können". Wenn dann in dieser Schußlinie "im luftkriegsmäßig verdunkelten Vorführräumen (dessen Vorbild in der Kunstgeschichte einzig Wagner Festspielhaus gewesen sein kann) der Film anfängt, greift die Ersetzung von Zentralnervensystemen aufs Publikum selber über".(132) "Ob herrschende Klasse wie Rudolf oder Wilhelm oder von Papen, ob beherrschte Klasse wie der Rest - alle haben sie an der Leinwand ihre Netzhaut. »Der Zuschauer«, schreibt Edgar Morin, »reagiert auf die Filmleinwand wie auf eine externe Netzhaut, die mit seinem Hirn in Fernverbindung steht.«"(34) Das heißt: "Film ist totale Macht". Und nur solange Verdoppelungen literarisch bleiben "konnten sie als Reflexion gelesen werden - als Einladung zu sogenannter Kritik. Technische Medien und Abschreckungsstrategien siegen dagegen gerade durch Selbstausstellung. Wie sollte eine Prothese des Zentralnervensystems - und das hieß ja einmal: der Seele - noch hinterfragbar sein?"
Dem kann Literatur nur konkurrieren, wenn "ein paar Schriftsteller des laufenden Jahrhunderts [...] es begriffen [haben]". "Von Meyrinks Golem bis zu Gravity's Rainbow reicht die Kette der Phantastik, die nichts mit Hoffmann oder Chamisso und alles mit Filmen zu tun hat. "Literatur des Zentralnervensystems in direkter Medienkonkurrenz und deshalb womöglich auch immer schon der Verfilmung bestimmt. Präsentifizieren, statt erzählen, simulieren, statt beglaubigen - so die Devise."(133) An Meyrinks Roman wird gezeigt, wie "an die Stelle relexiver Hinterfragungen ein neurologisch reiner Datenfluß, der immer schon zugleich auch Netzhautfilm ist" tritt.(im Einzelnen 133f) "Mit Meyrink präsentifiziert Literatur zum erstenmal hirnphysiologische Entsprechungen von Filmabläufen" und die verschrieene Mystik des Romans "ist also nur medientechnische Präzision". "Real ist nicht die Seele, sondern das Zelluloid."(35)
Für Hirnreales ist also nicht die Psychoanalyse zuständig, sondern genau jene Wissenschaft, "deren Vorarbeiten den Film überhaupt erst möglich gemacht haben". "Ohne die experimentelle Psychologie der Helmholz und Wundt kein Edison und keine Lumières, ohne die physiologischen Messungen von Netzhaut und Sehnervensystem kein Kinopublikum. Deshalb stammt die erste kompetente Theorie des Films vom Chef des Harvard Psychlogical Laboratory. Münsterberg denkt 1916, was Meyrink 1915 beschreibt. Und das einfach darum, weil der große Experimentalpsychologe - in Wort und Sache -eine neue Wissenschaft begründet hat: die Psychotechnik."(134)(36) Münsterberg kann mühelos nachweisen, "daß Spielfilme zum erstenmal in der Kunstweltgeschichte imstande sind, den neurologischen Datenfluß selber zu implementieren". "Während traditionelle Künste Ordnungen des Symbolischen oder Ordnungen der Dinge verarbeiten, sendet der Film seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozeß - und das mit einer Präzision, die sonst nur dem Experiment zugänglich ist, also weder dem Bewußtsein noch der Sprache. Jeder einzelnen Kameratechnik ordnet Münsterberg einen unbewußten psychischen Mechanismus zu: der Großaufnahme die Aufmersamkeitsselektion, der Rückblende das souvenir involontaire, dem Filmtrick das Tagträumen usw."(134)(37)
Die "Wahrheit über Medientechniken" aber wird gründlich verdrängt.(38) Daß Münsterberg "einen allerletzten Schritt tat", nämlich seine "Selbstautorisierung zum Weltkriegsstrategen im Jahr 1916", brachte die Wissenschaftliche Exkommunikation. "Ohne Verdrängung der Gründerfiguren keine generalstabsmäßige Filmkonzerngründung", deutet Kittler an, und damit den Ort der Einzigkeit seiner Theorie im Feld allgemeiner Theorielosigkeit: "Im laufenden Jahrhundert, das alle Theorien implementiert, gibt es keine mehr. Das ist das Unheimliche an seiner Realität."(135)