1828 sei ein romantischer Dichter dem Geist der
Dichtung selber begegnet.(118) Adalbert von Chamisso, "Berliner
Zechkumpan der Hoffmann und Contessa, Hitzig und Fouqué, hatte mit
seinen Serapionsbrüdern wieder einmal beim Wein gesessen". Zu Hause
findet er einen Doppelgänger. Das dichtet Chamissos Gedicht
Erscheinung. Wer von beiden ist Chamisso? Der
Identitätsbeweis ist schwierig. "Denn einfach weil es 1928
Paßphotos und Fingerabdruckkarteien, anthropometrische Zahlen und
Datenbänke noch nicht gibt, müssen die zwei Duellanten im Verbalen
oder Poetischen bleiben."(119) 1914 gräbt Otto Rank, "Freuds
literaturhistorischer Sachbearbeiter oder Adjudant", neben anderen
auch Chamissos Doppelgängererlebnis aus. Die psychoanalytische
Überführung von "Dichtung in Wissenschaft" läßt aber "bestimmte
Grundannahmen" unbefragt. Ranks Doppelgänger reichen gerade 100
Jahre zurück. Warum aber bevölkern sie erst seit damals die
Papiere?
Kittler findet die Antwort in der
Doppelgängerinszenierung in Goethes Wilhelm Meisters
Lehrjahren. Warum konnten Goethe und seine Zeitgenossen an
Doppelgänger glauben? Die "technischen Bedingungen der Zeit"(122)
geben Antwort. Man konnte an Doppelgänger glauben, weil das
Individuum von 1800 nach Goethe nur ein individuelles Allgemeines
war, "und d.h. keins", und "weil Wörter keine Singularitäten
bezeichnen. Nicht einmal das Wort Doppelgänger selber. Und
andere Medien als Wörter gab es in klassisch-romantischen Tagen
nicht.(122) In den Leerstellen von Wörtern "kann Identifikation
einklinken, die neue Rezeptionsvorschrift der Zeit".
Die erste Meister-Interpretation von Daniel
Jenisch (1792) verrät schon: "Die Doppelgängerepisode im Roman
dient einfach dazu, Leser auf identifikatorisches Lesen hin zu
programmieren." "Weil um 1800 Individuen ja nicht aufgeschrieben
werden" ist es "Meisters Eigentümlichkeit [...], keine
Eigentümlichkeit zu haben und einfach der Doppelgänger seiner Leser
zu sein. Mit der logischen Folge, alle Deutschen auf Goethelektüre
zu verpflichten."(123) "Zauberspiegel aus anderen Ländern und
Zeiten zeigen Göttinnen oder Dämonen. Im klassischen Deutschland
spiegeln sie das Schafsgesicht von Bürgern, die ihr Leben und ihr
Lesen verwechseln."(123) Und das sind "Leute [...], die auf Wörter
immer schon hereingefallen sind". "Der Buchstabe wurde
übersprungen, das Buch vergessen, bis irgendwo zwischen den Zeilen
eine Halluzination erschien - das reine Signifikat der
Druckzeichen. Mit anderen Worten: klassisch-romantische
Doppelgänger entstanden auf der Schulbank, wo man rechtes Lesen ja
lernt."(123) Das aber heißt: "Seitdem neue kindgemäße
Leselehrmethoden das Alphabet versüßen und versinnlichen, seitdem
Leute die Buchstaben nicht mehr als Gewalt und Fremdkörper spüren,
seitdem können sie auch glauben, von Buchstaben gemeint zu sein.
Alphabêtise nannte es Lacan."(124)
Die Doppelgängergestalten "unserer Tage" sind
anders. Machs und Freuds autobiographisch bezeugte Doppelgänger
tauchen auf in Omnibussen oder D-Zügen. Sie sind nicht das Produkt
der allgemeinen Alphabetisierung sondern "der allgemeinen
Motorisierung Mitteleuropas".(125) Von hier aus über Mallarmé(125
f) führt K. mit geschickter Zitatmontage seine Doppelgänger ins
Kino. "Seit 1895 treten auseinander: ein bilderloser Letternkult
namens E-Literatur auf der einen Seite und auf der anderen lauter
technische Medien, die wie Eisenbahn oder Film die Bilder
motorisieren. Literatur [...] gibt ihren Zauberspiegel an Maschinen
ab."(125)
Damit ist nicht nur die Romantik hinüber, sondern
auch die Psychoanalyse rückständig geworden: "Stummfilme
implementieren in technischer Positivität, was Psychanalyse nur
denken kann: ein Unbewußtes, das keine Worte hat und von Seiner
Majestät dem Ich nicht anerkannt wird."(125) Denn die "Dummheit des
Films" kann "Körper speichern, die bekanntlich genauso dumm sind".
Wenn Dichtung Körperspeicherung betrieb, kamen
individuell-allgemeine Umrißzeichnungen heraus. "Der Film dagegen
zählt (wie Kriminalistik und Psychoanalyse auch) zu jenen modernen
Spurensicherungstechniken, die nach Ginzburgs Einsicht
Körperkontrolle optimieren."(126)
Doppelgänger sind hier "der Schatten des Körpers
des Gefilmten". "Auf Filmen sehen alle Handlungen dümmer aus, auf
Tonbändern, die ja die Knochenleitung Kehlkopf-Ohr unterschlagen,
haben Stimmen keine Seele, auf Paßbildern sind nur
Verbrechervisagen zu sehen - nicht weil Medien lügen würden,
sondern weil sie den Narzißmus des eigenen Körperschemas
zerstückeln." "Medien sind eine historische Eskalation von Gewalt,
die die Betroffenen zu totaler Mobilmachung zwingt."(126)
Es folgen Hinweise auf die Entstehung der UFA
unter Schirmherrschaft von Erich Ludendorff und auf den
Vietnamkrieg. Generell gilt: "Seitdem Filmkameras - zum
begreiflichen Leidwesen der Lebensphilosophie - mit Flügelscheibe
und Malteserkreuz die Körper vorm Sucher zerhacken, um ihre 24
Bilder pro Sekunde zu schießen, ist Lacans corps morcelé eine
Positivität. Er tritt anstelle jener ganzen Person, die
klassisch-romatische Dichtung feierte oder produzierte."(127)
Im Kontext der Psychoanalyse verweist Kittler auf
die phototechnische "Zerhackung" der Hysterikerinnen in
Momentaufnahmen in der Salpêtrière unter Charcot mithilfe von
Kameras mit 9 oder 12 Objektiven, die der Charco-Mechaniker und
Rolleiflex-Erfinder Albert Londe baute.(127) Freud, "Zuschauer
dieser Zerhackungen", ignoriert aber erst gar nicht diese "totale
Mobilmachung, die die Psychoanalyse auf den Weg gebracht hat".(129)
"Das Wort Kino kommt in seinen Schriften nicht vor". Otto Rank
hingegen greift auf den Hanns Heinz Evers Stummfilm Student von
Prag zurück, aber "eben nur, um ein banales Massenmedium auf
unbewußte Symbolik hin aufzurollen".(129) "Der psychische Apparat
verbaut jeden Sinn für technische" und "die Psychoanalyse des Films
macht Verfilmung wieder rückgängig". "Als gäbe es keine technischen
Schwellen, verifiziert sie eine Dichtung, die der Film eben
abgelöst hat. Freuds Urszene - sein Salpêtrière-Jahr - ist
erfolgreich verdrängt."
Das Kino und seine Drehbuchlieferanten besetzen
"die von der Romantik geräumten Stellungen"(130). Was Dichtung
versprochen "und nur im Imaginären von Leseerlebnissen gewährt hat,
auf der Leinwand erscheint es im Realen". Die filmischen
Doppelgänger - "Zelluloidgespenster der Schauspielerkörper" - sehen
aber "auch und gerade Analphabeten". Dazu sind weder Bildung noch
Schwipse nötig - wohl eher ein bißchen Psychose. Der "geniale
Méliès" ermöglicht es, mit einer "ganze[n] Trickkiste" den
Doppelgängern erster Potenz "die Filmdoppelgänger im Quadrat"
hinzuzufügen. Wie die Doppelgängerszene in den Lehrjahren
die literarische Intitiation abbildete, wird mit filmischen
Doppelgängern im Film "Verfilmung selber verfilmt"(131) und
gezeigt, "was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie
technischer Medien geraten. Ihr Ebenbild wandert motorisiert in
Körperdatenbänke."
So gibt denn auch Wegeners Golem den
Aufhänger für eine weitere Belehrung der Alphabetisierten ab:
"Golems [sind] eine Gefahr: blöde Doppelgänger eines Menschen, den
es nicht mehr gibt, seitdem Medien -nach McLuhan ja Prothesen des
Körpers - auch Zentralnervensysteme ersetzen können". Wenn dann in
dieser Schußlinie "im luftkriegsmäßig verdunkelten Vorführräumen
(dessen Vorbild in der Kunstgeschichte einzig Wagner Festspielhaus
gewesen sein kann) der Film anfängt, greift die Ersetzung von
Zentralnervensystemen aufs Publikum selber über".(132) "Ob
herrschende Klasse wie Rudolf oder Wilhelm oder von Papen, ob
beherrschte Klasse wie der Rest - alle haben sie an der Leinwand
ihre Netzhaut. »Der Zuschauer«, schreibt Edgar Morin, »reagiert auf
die Filmleinwand wie auf eine externe Netzhaut, die mit seinem Hirn
in Fernverbindung steht.«"(34) Das heißt: "Film ist
totale Macht". Und nur solange Verdoppelungen literarisch bleiben
"konnten sie als Reflexion gelesen werden - als Einladung zu
sogenannter Kritik. Technische Medien und Abschreckungsstrategien
siegen dagegen gerade durch Selbstausstellung. Wie sollte eine
Prothese des Zentralnervensystems - und das hieß ja einmal: der
Seele - noch hinterfragbar sein?"
Dem kann Literatur nur konkurrieren, wenn "ein
paar Schriftsteller des laufenden Jahrhunderts [...] es begriffen
[haben]". "Von Meyrinks Golem bis zu Gravity's
Rainbow reicht die Kette der Phantastik, die nichts mit
Hoffmann oder Chamisso und alles mit Filmen zu tun hat. "Literatur
des Zentralnervensystems in direkter Medienkonkurrenz und deshalb
womöglich auch immer schon der Verfilmung bestimmt.
Präsentifizieren, statt erzählen, simulieren, statt beglaubigen -
so die Devise."(133) An Meyrinks Roman wird gezeigt, wie "an die
Stelle relexiver Hinterfragungen ein neurologisch reiner Datenfluß,
der immer schon zugleich auch Netzhautfilm ist" tritt.(im Einzelnen
133f) "Mit Meyrink präsentifiziert Literatur zum erstenmal
hirnphysiologische Entsprechungen von Filmabläufen" und die
verschrieene Mystik des Romans "ist also nur medientechnische
Präzision". "Real ist nicht die Seele, sondern das
Zelluloid."(35)
Für Hirnreales ist also nicht die Psychoanalyse
zuständig, sondern genau jene Wissenschaft, "deren Vorarbeiten den
Film überhaupt erst möglich gemacht haben". "Ohne die
experimentelle Psychologie der Helmholz und Wundt kein Edison und
keine Lumières, ohne die physiologischen Messungen von Netzhaut und
Sehnervensystem kein Kinopublikum. Deshalb stammt die erste
kompetente Theorie des Films vom Chef des Harvard Psychlogical
Laboratory. Münsterberg denkt 1916, was Meyrink 1915 beschreibt.
Und das einfach darum, weil der große Experimentalpsychologe - in
Wort und Sache -eine neue Wissenschaft begründet hat: die
Psychotechnik."(134)(36) Münsterberg kann
mühelos nachweisen, "daß Spielfilme zum erstenmal in der
Kunstweltgeschichte imstande sind, den neurologischen Datenfluß
selber zu implementieren". "Während traditionelle Künste Ordnungen
des Symbolischen oder Ordnungen der Dinge verarbeiten, sendet der
Film seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozeß - und das
mit einer Präzision, die sonst nur dem Experiment zugänglich ist,
also weder dem Bewußtsein noch der Sprache. Jeder einzelnen
Kameratechnik ordnet Münsterberg einen unbewußten psychischen
Mechanismus zu: der Großaufnahme die Aufmersamkeitsselektion, der
Rückblende das souvenir involontaire, dem Filmtrick das Tagträumen
usw."(134)(37)
Die "Wahrheit über Medientechniken" aber wird
gründlich verdrängt.(38) Daß Münsterberg
"einen allerletzten Schritt tat", nämlich seine
"Selbstautorisierung zum Weltkriegsstrategen im Jahr 1916", brachte
die Wissenschaftliche Exkommunikation. "Ohne Verdrängung der
Gründerfiguren keine generalstabsmäßige Filmkonzerngründung",
deutet Kittler an, und damit den Ort der Einzigkeit seiner Theorie
im Feld allgemeiner Theorielosigkeit: "Im laufenden Jahrhundert,
das alle Theorien implementiert, gibt es keine mehr. Das ist das
Unheimliche an seiner Realität."(135)