In Cambridge aber mußte McLuhan buchstäblich alles
verlernen - oder neutralisieren - was er an der University of
Manitoba in sich aufgenommen hatte. 1962 erklärte er dazu in einem
Interview: "One advantage we Westerners have is that we're under
no illusion we've had an education. That's why I started at the
bottom again".(30) Hier traf er auf intellektuelle Autorität
nicht nur von großen Werken sondern auch von großen Lehrern. Hier
bewegte er sich als Hinterwäldler in einem neuen gesellschaftlichen
Universum, das ihn mit eleganter und freundlicher Herablassung als
Aussenseiter fixierte und akzeptierte. Hier wurden keine "breiten
Grundlagen" gelegt und niemand vertat seine Zeit in einem
Chemielaboratorium. Die Studenten arbeiteten mit kühlem
professionellem Engagement in ihren Spezialgebieten. Von Grund auf
neu anfangen und von außen eine fremde Welt erobern zu müssen, war
aber zugleich eine wenn auch höchst zwielichtige Auszeichnung, die
seine "firm conviction of my superiority" (31) bestätigte.
"Yokel" war später für ihn ein Schimpfwort, das er mit dem
Genuß dessen austeilte, der wußte, wie tief es verletzen konnte. Es
war seine Berufung oder "obsession at being up-to-date", wie
es ein Freund McLs nannte, Ruf und Zwang zu einer rücksichtslosen
Selbstmodernisierung. So wußte er spätestens 1935, nachdem er
genügend Vorlesungen gehört hatte, daß er die gewichtigen Urteile
aus Manitoba über Literatur einschließlich die über seine Heroen
Macauly und Meredith zu verschrotten hatte.
Der bemerkenswerteste seine Mentoren war der
damals ungekrönte König der English studies
I.A.Richards.(32) McLuhan hörte seine Vorlesungen über die
Philosophie der Rhetorik, war abgestoßen von seinem Atheismus und
seiner Erniedrigung der menschlichen Sensibilität zu so etwas wie
"stimuli" und "impulses", aber beeindruckt von
Richards entschlossener Konzentration auf die Worte eines
Gedichtes und ihre Funktion. Da gab es keine Jagd mehr nach den
Phantomen von Wahrheit und Schönheit, keine Seelenabenteuer
inmitten von Meisterwerken, kein Ausblick mehr auf Dichtung als
Ausdruck eines Zeitalters oder eines persönlichen Dichterlebens.
Für Richards war Dichtung einfach eine hochrangige Form von
menschlicher Kommunikation, und zu analysieren war, wie sie ihren
Effekt im Leser zustande brachte. Englische Literaturstudien waren
nichts anderes als Kommunikationsstudien.
Besonders beeindruckend war Richards Kampf gegen
die von ihm so genannte "proper meaning superstition", den
Glauben, ein Wort habe "a meaning of its own (ideally only one)
independent of and controlling its use and the purpose for which it
should be uttered." (zit 33) Stattdessen haben Worte vielfache
Bedeutung je nach ihrem Kontext. In einem komplizierten Kontext
jongliert der Leser mehr oder weniger unbewußt Bedeutungen in
seinem Kopf. "Words won't stay put" notierte McL in einer
Richards-Vorlesung März 1935. Alle verbalen Konstruktionen sind
highly ambiguous. (33)
Ein Schüler Richards, William Empson, entfaltete
diesen Ansatz in Seven Types of Ambiguity von 1930. Hier
lernte McL, wie Poesie zu lesen sei und konnte sich
klarmachen, daß seine früheren Befürchtungen hinsichtlich seiner
schwankenden Fähigkeit, Dichtung richtig zu begreifen, auf Shelleys
bodenlose Vorstellung von Dichtung als rhapsodische Erhebung und
als Nahrung für Geister erster Wahl zurückzuführen sei.
In Empsons Buch fand statt rhapsodischer Erhebung
eine erbarmungslose Analyse von Gedichten mit Blickpunkt auf die
wimmelnden Ambiguitäten schon einer einzigen Zeile statt. "I am
treating the act of communication as something very extraordinary,
so that the next step would be to lose faith in it altogether",
schrieb Empson in dem Buch. [KM-»] Kommunikation war also ein
Ausnahmefall und bestand in der Ausbalancierung oder in einem
Arrangement - oder einer Neutralisierung - von komplexer
Vieldeutigkeit im Kopf des Lesers oder Zuhörers.[«-KM]
Richards und Empson waren die Gottväter dessen,
was unter dem Namen New Criticism bekannt werden sollte. In
einem Brief an Rene Wellek von 1973 meinte McLuhan, er sei der
einzige Student gewesen, der damals schon die Bedeutung des New
Criticism für das Verständnis der Neuen Medien erkannt habe.
Wenn, so erklärt Marchand, Wörter erfolgversprechender nicht nach
ihrer Bedeutung sondern auf ihre unbewußten Effekte hin untersucht
würden, so könnte dasgleiche auch von anderen menschlichen
Artefakten -dem Rad, der Druckerpresse usw. gelten.(34)
All diese Artefakte waren ebenso ambiguous.
Eine simple Feststellung ihrer Auswirkungen führte kaum zur
Erhellung ihrer Effekte auf menschliche Wesen, vor allem, da diese
Effekte meistens unbewußt wirkten. Die Festellung von Empson
hingegen, daß der Prozess des Verstehens eines Dichters genau darin
bestehe, daß der Leser dessen Gedichte in seinem eigenen Geist
konstruiere, konnte McLuhan später dahingehend verschärfen, daß der
Inhalt eines Gedichtes eben dieser Prozeß, also der Leser sei. Das
ließ sich dahingehend erweitern, daß er 'Inhalt' jedes Mediums oder
jeder Technologie ihr Benutzer sei.(34
Derjenige jedoch, der McLuhan die ersten Hinweise
darauf gab, daß New Criticism eine fruchtbare Annäherung an
das Studium des gesamten menschlichen environment
ermöglichte, war F.R.Leavis, ebenfalls ein früherer Student von
Ivor Armstrong Richards, und damals schon fast genauso einflußreich
wie dieser. Leavis sprach die Worte belles lettre aus, als
ob es sich um eine sexuelle Erkrankung handelte und schrieb in
einem flachen und banalen Stil. McL wurde zu einem ergebenen
Anhänger des Leavis-Lagers. Das von Leavis zusammen mit Denys
Thompson 1933 herausgebracht Buch Culture and Environment
zeigte, wie die analytischen Werkzeuge des Kritikers auch am
social environment (35) anzusetzen waren. "Practical
Criticism", so hieß es in Culture and Environment, "-
the analysis of prose and verse - may be extended to the
analysis of advertisement (the kind of appeal they make and their
stylistic character characteristics) followed up by comparison with
representative passage of journalese and popular fiction. (zit
35). Gleichzeitig beklagte Leavis das Schwinden dessen, was er
"organic community" nannte: in Volkstraditionen eingebundene
Gemeinschaften, die von Ackerbau und Heimindustrie lebten. Wenn
Leavis darin auch weniger von Chesterton als von D.H. Lawrence
beeinflußt war, so traf er doch damit völlig McLs Ansichten.
Ebenso eindrucksvoll war der Umsturz des
traditionellen Kanons der englischen Literatur, den Leavis
durchsetzte. In Revaluation, 1936, erklärte er, die wahren
Dichter Englands seinen nicht Milton, Shelley oder Tennysons; sein
Leben dem tieferen Verständnis von Milton zu widmen - das war McL
in Manitoba empfohlen worden - sei Zeitverschwendung, wirklich
bedeutsam seien Donne und die anderen Metaphysical Poets des
siebzehnten Jahrhunderts.(36) Schon in New Bearings on English
Poetry, 1932, hatte Leavis Pound und Eliot für das zwanzigste
Jahrhundert kanonisiert. Hier begann also die lebenslange Affaire
McLuhans mit Eliot und anderen Leavis-Favoriten, die zusammen mit
Wyndham Lewis, den französischen Symbolisten und E.A.Poe über den
New Criticism den Grundstein für seine spätere Medientheorie
bildeten.
Wenn Dichtung die Summe ihrer Effekte auf den
Leser war, wenn relevant war, was ein Gedicht bewirkte und nicht
was es sagte: warum sollten dann nicht ebenso Autos, Waschmaschinen
und Staubsauger einer solchen Betrachtung würdig sein. Richards
untersuchte ein Gedicht unter dem Aspekt einer umfassender
(Re)Organisation und Stabilisierung eines komplexen Bündels von
Impulsen im Gehirn des Lesers. Warum nicht ebenso einen
Photokopierer im Hinblick auf die von ihm bewirkte Umwandlung von
Schriftstellern zu Publizisten oder hinsichtlich seines Effekts der
Durchlöcherung politischer Geheimhaltung betrachten, statt zu
fragen, was er kopiere?
Zugleich arbeiteten die alten Methoden mithilfe
von "Konzepten" oder statischen mentalen Bildern, die von
dem reichen Leben der Sinne abgetrennt waren - "dissociation of
sensibility" hatte Eliot das genannt. Die neue Methode fütterte
den Geist mit "Perzepten", die ebenso beweglich wie das
Nervensystem selbst waren. Perzepte hatten mit dem Inhalt sowohl
von Dichtung oder Technologie nichts zu tun. Die Bedeutung des
Gedichtes, so Eliot in The Use of Poetry and the Use of
Criticism von 1933, hatte die Funktion, den Leser ruhig und
abgelenkt zu halten, während es seine Wirkung auf ihn ausübte, ganz
wie ein Dieb den Wachhund mit einem Fleischstück ablenkt, um das
Haus in Ruhe ausnehmen zu können. Das Gleichnis konnte McLuhan ohne
weiteres auf die Medien übertragen und ohne Verweis auf Eliot in
Understandig Media vorbringen.
Auch erhielt McL hier die ersten Hinweise auf sein
späteren Universalschlüssel für die Medienanalyse: auf die
entscheidende Beeinflussung menschlicher Wahrnehmung durch die
Gewichtung der einzelnen Sinne. Richards hatte Eliots Waste
Land als "Ideenmusik" beschrieben -
"Orchestrierung" wurde eine Zentralmetapher für McLuhan -
und Eliot hatte das Perzept "auditory imagination"
entwickelt, "the feeling for syllabe and rhythm, penetrating far
below the conscious levels of thought and feeling, invigorating
every word; sinking to the most primitve and forgotten, returnig to
the origin and bringing something back, seeking the beginning and
the end". (zit 37) Das wies darauf hin, daß der 'auditive'
Wahrnehmungsmodus völlig verschieden war von dem 'visuellen' und
unvereinbar mit einer strikt logischen, linearen und sequentiellen
Art des Denkens.
Doch bahnte sich noch etwas anderes an. Wie in
Manitoba, so führte McLuhan in Cambridge das prüde Leben seiner
baptistischen Ahnen. Erst im zweiten Jahr seines Aufenhaltes
überraschte er durch einen Anflug von Trunkenheit und hatte eine
erste Zigarette riskiert. So war sein Tutor sehr überrascht, als er
von ihm zu hören bekam, daß die Reformation das größte Desaster in
der Geschichte der Zivilisation gewesen sei.(39) Wie Chesterton,
die diese Meinung vertrat, hatte McLuhan begonnen, sich mit dem
Neuthomismus von Jacques Maritain auseinanderzusetzen . Maritains
wichtigstes Werk für McL war dessen Art et Scolastique von
1920, in dem Vorstellungen des New Criticism und solcher
Dichter wie Pound und Eliot vorweggenommen wurden. Kunst und
Literatur seien nicht die Produkte irgendeiner mystischen
Inspiration oder eines Transports von Emotionen, sondern eher von
Wahrnehmung/perception und intellektueller Tätigkeit in
höchster Intensität, "a flashing of intelligence on a matter
intelligibly arranged".(zit 39) Kunst und Schönheit als
Begriffe waren hier in die mittelalterichen Ontologie
zurückverankert: die künstlerische Kreativität war dem göttlichen
Schöpfungsakt analog. Die so geschaffene Welt ist wissenschaftlich
nicht zu erfassen, sondern nur in Kontemplation und
exploration zu eröffnen und zu beschreiten.(39)
Auf der anderen Seite war da der große Einfluß von
Kommunismus und Homosexualität in Cambridge. Letzeres bedeutete
hyperaestheticism, beides war für McLuhan in einem Atemzug
auszusprechen oder mit einer Mundbewegung auszuspeien. Marchand
geht nicht weiter darauf ein und wechselt das Thema: Gertrude
Stein. Da sein Selbstvertrauen aus zwei Jahren Umgang mit den
Größen der europäischen Geisteswelt nur gestärkt hervorgehen
konnte, was es McLuhan eine Ehre, in die Fußstapfen von Wyndham
Lewis zu treten und von ihr angegriffen zu werden. Gertrude Stein
sprach in Cambridge über I am because my little dogs knows
me. An seinem rüden 'Diskussionsbeitrag' merkte sie, daß sie
einen Verehrer ihres Erzfeindes Lewis vor sich hatte, griff sich
ihren Schirm und bahnte sich ihren Weg durch das Auditorium in
seine Richtung usw. Die Abschlußexamen bestand er mit upper
second. Eine Eins in Oxbridge bedeutete eine große Karriere.
McLuhan konnte sich mit John Ruskin trösten, der Cambridge mit
einer Vier verlassen hatte.