3. Cambridge 1934-1936

In Cambridge aber mußte McLuhan buchstäblich alles verlernen - oder neutralisieren - was er an der University of Manitoba in sich aufgenommen hatte. 1962 erklärte er dazu in einem Interview: "One advantage we Westerners have is that we're under no illusion we've had an education. That's why I started at the bottom again".(30) Hier traf er auf intellektuelle Autorität nicht nur von großen Werken sondern auch von großen Lehrern. Hier bewegte er sich als Hinterwäldler in einem neuen gesellschaftlichen Universum, das ihn mit eleganter und freundlicher Herablassung als Aussenseiter fixierte und akzeptierte. Hier wurden keine "breiten Grundlagen" gelegt und niemand vertat seine Zeit in einem Chemielaboratorium. Die Studenten arbeiteten mit kühlem professionellem Engagement in ihren Spezialgebieten. Von Grund auf neu anfangen und von außen eine fremde Welt erobern zu müssen, war aber zugleich eine wenn auch höchst zwielichtige Auszeichnung, die seine "firm conviction of my superiority" (31) bestätigte. "Yokel" war später für ihn ein Schimpfwort, das er mit dem Genuß dessen austeilte, der wußte, wie tief es verletzen konnte. Es war seine Berufung oder "obsession at being up-to-date", wie es ein Freund McLs nannte, Ruf und Zwang zu einer rücksichtslosen Selbstmodernisierung. So wußte er spätestens 1935, nachdem er genügend Vorlesungen gehört hatte, daß er die gewichtigen Urteile aus Manitoba über Literatur einschließlich die über seine Heroen Macauly und Meredith zu verschrotten hatte.
Der bemerkenswerteste seine Mentoren war der damals ungekrönte König der English studies I.A.Richards.(32) McLuhan hörte seine Vorlesungen über die Philosophie der Rhetorik, war abgestoßen von seinem Atheismus und seiner Erniedrigung der menschlichen Sensibilität zu so etwas wie "stimuli" und "impulses", aber beeindruckt von Richards entschlossener Konzentration auf die Worte eines Gedichtes und ihre Funktion. Da gab es keine Jagd mehr nach den Phantomen von Wahrheit und Schönheit, keine Seelenabenteuer inmitten von Meisterwerken, kein Ausblick mehr auf Dichtung als Ausdruck eines Zeitalters oder eines persönlichen Dichterlebens. Für Richards war Dichtung einfach eine hochrangige Form von menschlicher Kommunikation, und zu analysieren war, wie sie ihren Effekt im Leser zustande brachte. Englische Literaturstudien waren nichts anderes als Kommunikationsstudien.
Besonders beeindruckend war Richards Kampf gegen die von ihm so genannte "proper meaning superstition", den Glauben, ein Wort habe "a meaning of its own (ideally only one) independent of and controlling its use and the purpose for which it should be uttered." (zit 33) Stattdessen haben Worte vielfache Bedeutung je nach ihrem Kontext. In einem komplizierten Kontext jongliert der Leser mehr oder weniger unbewußt Bedeutungen in seinem Kopf. "Words won't stay put" notierte McL in einer Richards-Vorlesung März 1935. Alle verbalen Konstruktionen sind highly ambiguous. (33)
Ein Schüler Richards, William Empson, entfaltete diesen Ansatz in Seven Types of Ambiguity von 1930. Hier lernte McL, wie Poesie zu lesen sei und konnte sich klarmachen, daß seine früheren Befürchtungen hinsichtlich seiner schwankenden Fähigkeit, Dichtung richtig zu begreifen, auf Shelleys bodenlose Vorstellung von Dichtung als rhapsodische Erhebung und als Nahrung für Geister erster Wahl zurückzuführen sei.
In Empsons Buch fand statt rhapsodischer Erhebung eine erbarmungslose Analyse von Gedichten mit Blickpunkt auf die wimmelnden Ambiguitäten schon einer einzigen Zeile statt. "I am treating the act of communication as something very extraordinary, so that the next step would be to lose faith in it altogether", schrieb Empson in dem Buch. [KM-»] Kommunikation war also ein Ausnahmefall und bestand in der Ausbalancierung oder in einem Arrangement - oder einer Neutralisierung - von komplexer Vieldeutigkeit im Kopf des Lesers oder Zuhörers.[«-KM]
Richards und Empson waren die Gottväter dessen, was unter dem Namen New Criticism bekannt werden sollte. In einem Brief an Rene Wellek von 1973 meinte McLuhan, er sei der einzige Student gewesen, der damals schon die Bedeutung des New Criticism für das Verständnis der Neuen Medien erkannt habe. Wenn, so erklärt Marchand, Wörter erfolgversprechender nicht nach ihrer Bedeutung sondern auf ihre unbewußten Effekte hin untersucht würden, so könnte dasgleiche auch von anderen menschlichen Artefakten -dem Rad, der Druckerpresse usw. gelten.(34)
All diese Artefakte waren ebenso ambiguous. Eine simple Feststellung ihrer Auswirkungen führte kaum zur Erhellung ihrer Effekte auf menschliche Wesen, vor allem, da diese Effekte meistens unbewußt wirkten. Die Festellung von Empson hingegen, daß der Prozess des Verstehens eines Dichters genau darin bestehe, daß der Leser dessen Gedichte in seinem eigenen Geist konstruiere, konnte McLuhan später dahingehend verschärfen, daß der Inhalt eines Gedichtes eben dieser Prozeß, also der Leser sei. Das ließ sich dahingehend erweitern, daß er 'Inhalt' jedes Mediums oder jeder Technologie ihr Benutzer sei.(34
Derjenige jedoch, der McLuhan die ersten Hinweise darauf gab, daß New Criticism eine fruchtbare Annäherung an das Studium des gesamten menschlichen environment ermöglichte, war F.R.Leavis, ebenfalls ein früherer Student von Ivor Armstrong Richards, und damals schon fast genauso einflußreich wie dieser. Leavis sprach die Worte belles lettre aus, als ob es sich um eine sexuelle Erkrankung handelte und schrieb in einem flachen und banalen Stil. McL wurde zu einem ergebenen Anhänger des Leavis-Lagers. Das von Leavis zusammen mit Denys Thompson 1933 herausgebracht Buch Culture and Environment zeigte, wie die analytischen Werkzeuge des Kritikers auch am social environment (35) anzusetzen waren. "Practical Criticism", so hieß es in Culture and Environment, "- the analysis of prose and verse - may be extended to the analysis of advertisement (the kind of appeal they make and their stylistic character characteristics) followed up by comparison with representative passage of journalese and popular fiction. (zit 35). Gleichzeitig beklagte Leavis das Schwinden dessen, was er "organic community" nannte: in Volkstraditionen eingebundene Gemeinschaften, die von Ackerbau und Heimindustrie lebten. Wenn Leavis darin auch weniger von Chesterton als von D.H. Lawrence beeinflußt war, so traf er doch damit völlig McLs Ansichten.
Ebenso eindrucksvoll war der Umsturz des traditionellen Kanons der englischen Literatur, den Leavis durchsetzte. In Revaluation, 1936, erklärte er, die wahren Dichter Englands seinen nicht Milton, Shelley oder Tennysons; sein Leben dem tieferen Verständnis von Milton zu widmen - das war McL in Manitoba empfohlen worden - sei Zeitverschwendung, wirklich bedeutsam seien Donne und die anderen Metaphysical Poets des siebzehnten Jahrhunderts.(36) Schon in New Bearings on English Poetry, 1932, hatte Leavis Pound und Eliot für das zwanzigste Jahrhundert kanonisiert. Hier begann also die lebenslange Affaire McLuhans mit Eliot und anderen Leavis-Favoriten, die zusammen mit Wyndham Lewis, den französischen Symbolisten und E.A.Poe über den New Criticism den Grundstein für seine spätere Medientheorie bildeten.
Wenn Dichtung die Summe ihrer Effekte auf den Leser war, wenn relevant war, was ein Gedicht bewirkte und nicht was es sagte: warum sollten dann nicht ebenso Autos, Waschmaschinen und Staubsauger einer solchen Betrachtung würdig sein. Richards untersuchte ein Gedicht unter dem Aspekt einer umfassender (Re)Organisation und Stabilisierung eines komplexen Bündels von Impulsen im Gehirn des Lesers. Warum nicht ebenso einen Photokopierer im Hinblick auf die von ihm bewirkte Umwandlung von Schriftstellern zu Publizisten oder hinsichtlich seines Effekts der Durchlöcherung politischer Geheimhaltung betrachten, statt zu fragen, was er kopiere?
Zugleich arbeiteten die alten Methoden mithilfe von "Konzepten" oder statischen mentalen Bildern, die von dem reichen Leben der Sinne abgetrennt waren - "dissociation of sensibility" hatte Eliot das genannt. Die neue Methode fütterte den Geist mit "Perzepten", die ebenso beweglich wie das Nervensystem selbst waren. Perzepte hatten mit dem Inhalt sowohl von Dichtung oder Technologie nichts zu tun. Die Bedeutung des Gedichtes, so Eliot in The Use of Poetry and the Use of Criticism von 1933, hatte die Funktion, den Leser ruhig und abgelenkt zu halten, während es seine Wirkung auf ihn ausübte, ganz wie ein Dieb den Wachhund mit einem Fleischstück ablenkt, um das Haus in Ruhe ausnehmen zu können. Das Gleichnis konnte McLuhan ohne weiteres auf die Medien übertragen und ohne Verweis auf Eliot in Understandig Media vorbringen.
Auch erhielt McL hier die ersten Hinweise auf sein späteren Universalschlüssel für die Medienanalyse: auf die entscheidende Beeinflussung menschlicher Wahrnehmung durch die Gewichtung der einzelnen Sinne. Richards hatte Eliots Waste Land als "Ideenmusik" beschrieben - "Orchestrierung" wurde eine Zentralmetapher für McLuhan - und Eliot hatte das Perzept "auditory imagination" entwickelt, "the feeling for syllabe and rhythm, penetrating far below the conscious levels of thought and feeling, invigorating every word; sinking to the most primitve and forgotten, returnig to the origin and bringing something back, seeking the beginning and the end". (zit 37) Das wies darauf hin, daß der 'auditive' Wahrnehmungsmodus völlig verschieden war von dem 'visuellen' und unvereinbar mit einer strikt logischen, linearen und sequentiellen Art des Denkens.
Doch bahnte sich noch etwas anderes an. Wie in Manitoba, so führte McLuhan in Cambridge das prüde Leben seiner baptistischen Ahnen. Erst im zweiten Jahr seines Aufenhaltes überraschte er durch einen Anflug von Trunkenheit und hatte eine erste Zigarette riskiert. So war sein Tutor sehr überrascht, als er von ihm zu hören bekam, daß die Reformation das größte Desaster in der Geschichte der Zivilisation gewesen sei.(39) Wie Chesterton, die diese Meinung vertrat, hatte McLuhan begonnen, sich mit dem Neuthomismus von Jacques Maritain auseinanderzusetzen . Maritains wichtigstes Werk für McL war dessen Art et Scolastique von 1920, in dem Vorstellungen des New Criticism und solcher Dichter wie Pound und Eliot vorweggenommen wurden. Kunst und Literatur seien nicht die Produkte irgendeiner mystischen Inspiration oder eines Transports von Emotionen, sondern eher von Wahrnehmung/perception und intellektueller Tätigkeit in höchster Intensität, "a flashing of intelligence on a matter intelligibly arranged".(zit 39) Kunst und Schönheit als Begriffe waren hier in die mittelalterichen Ontologie zurückverankert: die künstlerische Kreativität war dem göttlichen Schöpfungsakt analog. Die so geschaffene Welt ist wissenschaftlich nicht zu erfassen, sondern nur in Kontemplation und exploration zu eröffnen und zu beschreiten.(39)
Auf der anderen Seite war da der große Einfluß von Kommunismus und Homosexualität in Cambridge. Letzeres bedeutete hyperaestheticism, beides war für McLuhan in einem Atemzug auszusprechen oder mit einer Mundbewegung auszuspeien. Marchand geht nicht weiter darauf ein und wechselt das Thema: Gertrude Stein. Da sein Selbstvertrauen aus zwei Jahren Umgang mit den Größen der europäischen Geisteswelt nur gestärkt hervorgehen konnte, was es McLuhan eine Ehre, in die Fußstapfen von Wyndham Lewis zu treten und von ihr angegriffen zu werden. Gertrude Stein sprach in Cambridge über I am because my little dogs knows me. An seinem rüden 'Diskussionsbeitrag' merkte sie, daß sie einen Verehrer ihres Erzfeindes Lewis vor sich hatte, griff sich ihren Schirm und bahnte sich ihren Weg durch das Auditorium in seine Richtung usw. Die Abschlußexamen bestand er mit upper second. Eine Eins in Oxbridge bedeutete eine große Karriere. McLuhan konnte sich mit John Ruskin trösten, der Cambridge mit einer Vier verlassen hatte.