5. In Search of a Home 1940-1946

Mit der Rückkehr an die St.Louis Universität 1940 begann für McL die in gewisser Hinsicht trübste Periode seines akademischen Lebens. Je mehr er in die Welt der alten Rhetorik und Grammatik eintauchte, desto allumfassender wurden seine Perspektiven, denn er hatte keinen speziellen Sinn für Spezialisierung und ein Descent into the Maelstrom war nicht eingrenzbar.(57). Statt dessen begann er, auf Studenten als Mitarbeiter zurückzugreifen, eine Praxis, die er sein Leben lang fortsetzten sollte.
Also arbeitete Maurice McNamee S.J. an einer Dissertation über Francis Bacon, denn Bacons Texte waren durch und durch rhetorisch und aphoristisch geprägt. Als prägnante und schlaglichtartige Formulierungen aber, die sich nicht selbst explizierten, sondern, unabgeschlossen, diskontinuierlich und suggestiv wie sie waren, den Leser zu eigener Vervollständigung und Schließung oder im Sinne Richards zu einer Restrukturierung von aufgestörten Nervenimpulsen herausforderten, glichen Bacons Aphorismen in ihren Effekten den McLuhanschen "percepts". So war McLuhan seinen Doktoranden kein Vater sondern, indem er sie als gleichberechtigt ansah, ein Bruder, der sie bei ihrer Arbeit anleitete, indem in ihr Zimmer trat, sich auf ihr Bett warf und über seine eigene Dissertation sprach - so McNamee im Interview mit Marchand. Und Reden war ihn McL Forschungsarbeit. "I'm feeling around, not making pronouncement. Most people use speech as a result of thought, but I use it as the process" erklärte er 1966 einem Interviewer von Life. (58)
Wer McLuhans Interesse gewinnen wollte, mußte ihn anmachen können, und das war leichter mit einer interessanten Beobachtung über die Verkaufstechnik von Gebrauchtwagenhändlern than by trying to make some important intellectual point (58), vor allem wenn dieser Punkt McLs eigenen Ideen glich. So hatte gewöhnlich ein Gesprächspartner dreißig Sekunden Zeit, bis sich entschied, ob ihm entweder das Wort abgeschnitten wurde oder ob er zuende reden konnte. Das jedoch hing sehr von dem level of energy des Redners ab.
Auch die Dissertation von Walter Ong über Gerald Manley Hopkins förderte McLuhan, indem er mit ihm über seine eigenen Ideen sprach. So bestand sein Beitrag in nicht mehr als in seiner Unterschrift unter das Abschlußdokument. Gleichzeitig aber hatte er Ongs Interesse an eine Thematik gefesselt, die diesem das Material für den Beginn seiner langen und ausgezeichneten Gelehrtenlaufbahn lieferte. [KM-»] McL selbst hatte sie in Perry Millers großem Werk über den Puritanismus gefunden.[«-KM] Es handelte sich um einen obskuren Renaissance-Theologen namens Peter Ramus. Dieser war ein großer Förderer der Dialektik und Logik gegen die rhetorische Tradition von Nashe, Bacon und Cicero gewesen. Ihm widmete Ong eine jahrelange Forschungsarbeit, die 1958 in seine klassische, in McLs Gutenberg Galaxy von 1962 reichlich zitierte Arbeit Ramus, Method, and the Decay of Dialogue mündete. Während seiner Arbeit hatte Ong die für die Gutenberg Galaxy entscheidende These entwickelt, daß die abendländische Kultur während der Renaissance von einem primär auditiven Modus der Realitätswahrnehmung zu einem primär visuellen übergegangen sei, und daß die Erfindung des Buchdrucks diesen Übergang ausgelöst habe.(59)
Neben Kursen zur Literatur der Renaissance lehrte McLuhan Leavis-style Culture and Environment studies and Richards-style Practical Criticism. Praktische Literaturkritik bedeutete, daß die Studenten Gedichte ohne Autorangabe erhielten und sie anonym auswerten mußten. Die darauf folgende Besprechung der Ergebnisse gab Material für die Untersuchung der Methode, mit der Gedichte ihre Effekte bei Lesern durchsetzen konnten, denn die Studenten waren den Gedichten ausgesetzt, ohne in ihr Wissen um die Biographie des Dichters oder in eine Ahnung dessen, was der Dichter uns sagen will, ausweichen zu können.(59) McLuhan sah sich dabei als Pionier in der Einführung der Techniken literarischer Analyse von Richards, Empson und Leavis in den USA.
Mit der Zeit und nachdem der Reiz innovativer Lehre etwas abgestumpft war, bekam McL doch den niedrigen Status seiner Arbeit zu spüren, gerade weil er trotz seiner frühen giftigen Ausfälle about the professoriate (60) sich niemals zu etwas anderem als zu Unterricht und Lehre berufen fühlte. Also low pay and lack of prestige (60), [KM-»] oder wie Tom Wolfe 1968 in What If He Is Right über den amerikanischen Literaturprofessor überhaupt schreibt, ein Volkswagen, eine zu kleine Wohnung, und holzverdübelte dänische Möbel aus dem Kaufhaus . [«-KM]
1942 wurde Eric als erstes Kind geboren. Sein Heranwachsen wurde eine unerschöpfliche Quelle von Rätseln, Ärger und Ratlosigkeit: wie mit dem hyperaktiven Kind fertigwerden? Ein Fliegengitter auf das Kinderbett schrauben? Und dann kam Eric ins Medienalter. McLuhans Hauptsorge war, seine Kinder von dem Einfluß der Medien abzuschotten. Als er entdeckte, daß die Muller-Thym Kinder freitagsabends aufblieben, um The Inner Sanctum zu hören (eine Radioserie mit Schauerdramen), bot er ihnen einen Nickel für jede Woche, die sie sich der Sendung enthielten. Als Großvater riet er seinem Sohn Eric, die TV-Zeit seiner Tochter einzuschränken, denn, so schrieb er ihm, TV was a "vile drug which permeates the nervous system, especially in the young." Eine Stunde pro Woche wäre mehr als genug.(61)
Als die Kinder älter wurden, setzte er als Gegenmittel gegen den Medieneinfluß auf mehr oder weniger erbauliche Gespräche am Mittagstisch, oder er versuchte, die Kinder in seine Arbeit einzubeziehen, indem er sie um drei oder vier Uhr morgens aufweckte, daß sie einen seiner gerade erfolgten "Durchbrüche" zu Papier brächten. Ein weiteres Heilmittel bestand darin, sie zu dieser frühen Stünde aus den Betten zu holen, um sie an seiner Bibellektüre in vier Sprachen teilnehmen zu lassen.
Zu dieser Zeit stieß er auf eines jener Themen, die ihn bis zur Erschöpfung Monate und Jahre besetzen konnten. Das Thema bezog sich auf den Cartoon-Charakter Dagwood Bumstead. In McLuhans Sicht war Dagwood das Vorbild einer ganzen Generation amerikanischer Männchen und hoffnungloser Trauersäcke, die von ihren viel lebentüchtigeren und härteren Frauen beherrscht wurden. Er studierte diesen Comic im Rahmen seiner Kultur- und Environment-Forschungen, um Beweise für seine zentrale Überzeugung zu finden, daß die moderne kommerzielle Zivilisation das traditionelle Familienleben und den traditionellen Männerstolz zerstört habe. In voller Entfaltung und Brillianz präsentierte er dies Thema später in der Mechanical Bride. 1974 noch erzählte er einem Interviewer, eine Frau könne allen Einfluß erreichen, den sie wolle, ohne jemals ihren Lehnstuhl zu verlassen.(62) Darin lag auch ein guter Teil Selbstanalyse. Denn in Abwesenheit von seiner Frau lief er manchmal, so Marchand, ohne Socken herum, aß von anderer Leute Teller oder bewahrte ein altes Stück Käse in seiner Aktentasche auf. Es war als ob er den alten Verdacht von Frauen bestätigen wollte, daß ihre Männer in ihrer Abwesenheit zu Schweinen degenerieren. Karriereprobleme ergaben sich auch daraus, daß der cambridgestolze Chairman des Englisch-Departments McCabe S.J. durch einen in der Oxforder philologischen Tradition aufgewachsenen Wissenschaftler ersetzt wurde. Norman J. Dreyfus legte viel Wert auf wissenschaftliche Korrektheit und konnte wenig mit McLuhan anfangen, der manchmal schrieb und redete, als ob für ihn Faulkers Dictum gelte, daß Fakten und Wahrheit nicht viel miteinander zu tun hätten. Als Dreyfus McL die Erlaubnis verweigerte, in seinen Seminaren ein Literaturtextbuch zu benutzen, das er aus einer Kombination von Leavis, Richards und seinen Trivium-Studien zusammengestellt hatte, verfestigte sich die Feindschaft. Auch hatte der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg in den Vierzigern Auswirkungen auf das akademische Leben in St.Louis. Nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor mußten die Mitglieder den English-Departments in Quonset-Hütten Krankenschwesteranwärterinnen im Verfassen von Reports unterrichten. Die Lehrverpflichtung stieg von elf bis zwölf Stunden pro Woche auf sechzehn.
Keinen Augenblick empfand McLuhan irgendeine Begeisterung für die Kriegsziele der Alliierten. Nicht nur waren diese durch die Kriegsteilnahme der Sowjetunion kompromittiert, sondern der Krieg würde unausweichlich die mechanische Organisation der Gesellschaft und die unheilige Allianz von Industrie und Wissenschaft zur weiteren Versklavung der Menschheit fördern. Der Krieg hatte für McL nichts zu tun mit den vier Freiheiten Roosevelts oder Churchills. Es war für ihn einfach, wie ein Freund sagte, "a joy ride to inferno."
So begann er, auch um nicht eingezogen zu werden, nach einem Ausweg zu suchen. Schließlich erhielt er Dezember 1943 seinen Cambridge Ph.D. und konnte eher nach einem Job in Kanada Ausschau halten. Seine Dissertation hatte er schließlich in aller Eile beendet und die letzten siebzig seiten handschriftlich an F.P.Wilson geschickt. The Place of Thomas Nashe in the Learning of His Time umfaßte 456 Seiten und bestand hauptsächlich in einer Darstellung des Trivium und seiner Funktion in der Literatur vom antiken Griechenland bis zur Zeit von Nashe. Wilson war beeindruckt und schrieb McLuhan, daß er von der Arbeit mehr gelernt habe, als von jeder anderen, die er gelesen hatte. Sie befasse sich auf hochoriginelle Weise sich mit Fragen, die bis dahin noch nie untersucht worden waren.
Es war nun nötig, durch Veröffentlichungen in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften seine Jobsuche zu fördern. Francis Bacon's Patristic Inheritance basierte weitgehend auf seiner Dissertation. Eine Veröffentlichung im Journal of the History of Ideas wäre ein Coup gewesen, wurde aber abgelehnt. Man wahr deutlich unbeeindruckt von der Bedeutung des Triviums und empfahl McLuhan nicht nur, sich mehr auf Bacon zu konzentrieren, sondern die konfuse Struktur seines Aufsatzes zu verbessern. Der Ratschlag kam zu spät. McLuhan war schon in ein weitaus größeres Spiel eingestiegen als es die Entwicklung einiger origineller Einsichten zu Francis Bacon darstellte. Er wollte eine umfassende Vision der abendländischen Kultur entwickeln. Auch steuerte sein Stil, nachdem Leavis ihn von den letzten Spuren Chestertons gereinigt hatte, irreversibel in die Zonen starker Kompression und elliptischer Referenzen, die charakteristisch für sein späteres Werk waren.
Im Laufe der Vierziger interessierte er sich zunehmend für Ezra Pounds kritische Prosa und fand in ihr ein Muster an Luzidität. Er glaubte, daß ihre Kraft und Intensität den Mangel an dem, was er "dialectic and persuasive charm" nannte, also an klarer, linear verketteter Struktur und glatter Prosa des traditionellen geschliffenen Essays, voll wettmachen würde. Seine Gedanken sorgfältig in klaren Linien zu entfalten und die Bedeutung sämtlicher Anspielungen und Bezugnahmen explizit zu machen nannte er verächtlich "tatting" oder Frivolitätenarbeit, als ob das eine Art von pingeliger Spitzenklöppelei und eines robusten Geistes nicht würdig sei.(65)
So wurde Dagwood's America 1944 in Columbia veröffentlicht. Das war eine Zeitschrift der Columbusritter und die waren eine katholische Bruderorganisation(65). Darin verwies McLuhan auf Dagwoods kindische und ineffektive Nullität und Blondies lebenstüchtige Überlegenheit als Beweis dafür, wie weit Amerika in den letzten Jahren feminisiert worden sei. "Blondi and her chidren own America, control American business and entertainment, run hog-wild in spreading maternalism into education and politics."(65)
Wie dem auch sei, jedenfalls war McLuhan der Ansicht, daß die traditionelle Ordnung, in der der Mann eine rationale Form von Autorität innehat und darin von der Frau emotional unterstützt wird, in der Moderne umgeworfen worden sei. Die einzige Heilung für Dagwood war die Forderung nach dem "detached use of autonomous reason for the critical appraisal of life", das hieß in anderen Worten, die vereinigten Geister von St.Thomas und F.R.Leavis anrufen and to engage in "hearthy and fructifying work," that is, to give Mr. Dithers his notice and sign up in the wheelwright's shop that Leavis so admired in "Culture and Environment". (65)
In einem römisch-katholischem Magazin zu veröffentlichen, war riskant für einen katholischen Intellektuellen, der noch keinen Namen hatte und so die Ausweitung seines Wirkungskreises schon am Beginn seiner Mission zunichte machen konnte. Besser war es, wie der kommunistische Gegner als eine Art Maulwurf die akademische Welt zu unterwühlen, swaying minds that might be repulsed if one's affilation were made obvious.(66) Und McLuhan wollte die Geister aufrütteln. Er hatte die Vision, Dagwood's America zu einem Buch auszuweiten, das er versuchsweise Sixty Million Mama's Boys nannte. Das wäre ein Hit im Genre einer "impudent" pop sociolgy gewesem nach dem Vorbild der Bestseller-Attacke auf den 'Momismus'von Philip Wylie, Generations of Vipers, 1942, wenn auch tiefgreifender. Ein alternativer Titel war Typhon in America und beschwor das aus der Erdmutter geborene Ungeheuer, das von Vater Zeus vernichtet wurde.
So wie McLuhan in Sixty Million Mama's Boys und mit dem Dagwood-Thema die alles durchdringende und zersetzende Feminisierung Amerikas aufspürte, so hatte er damals offen und versteckt eine chronische Witterung für Homosexualität aufgenommen und dazu ein Rudel von "sleuths" um sich versammelt: McLuhans Mitstreiter Felix Gionavelli schrieb ihm über Gershon Legman, der (wie Giovanelli) selbst in allen Bereichen von kultureller Bedeutung Homosexualität am zersetzenden Werk sehe, und empfahl ihn als Verbündeten für eine notwendige Kampagne zur Aufklärung der Öffentlichkeit. Auch hatte der Maler, Schriftsteller und spätere Freund McLuhans Wyndham Lewis in The Diabolical Principle von 1931 den "Homosexuellenkult" direkt auf eine feministische Revolte zurückgeführt. McL kannte das Buch. [KM-»] Im gleichen Jahr war Lewis' Buch Hitler erschienen, wo Berlin im "high-volted light-bombardment from all sides" als die "Hauptstadt of Vice, the excelsior Eldorado of a sexish bottom-wagging most arch Old Nick sunk in a costly and succulent rut" apostrophiert wurde. "BERLIN - its western Babylon - is as everybody knows the quartier-général of dogmatic Perversity - the Perverts' Paradise, the Mecca of both Lesb and So." Die Nationalsozialisten würden sich nicht direkt davon provozieren lassen. "Pink-clothed back-sides are not their political quarry" , denn sie wußten:  "T h  e  B a n k   i s    m  o r e   i m p o r t a n t   t h a n    t h e   B a c ks i d e". Aber der junge germanische Politiker von heidnischer Gesundheit und "natural teutonic coarseness and realism" wird früher oder später an der Spitze oder inmitten seiner Sturmabteilung stehen, "to roll this nigger-dance luxury spot up like a verminous carpet, and drop it into the Spree -with a heartfelt 'Pfui!' at its big sodden splash" [«-KM]
Schon in Cambridge hatte McLuhan der "Homosexuellenkult" entsetzt, und sein Leben lang bewahrte er den Abscheu des stright-laced Methodist child gegenüber homosexuellen Tendenzen. Später behielt er seine Meinung sorgfältig für sich selbst, aber in den Vierzigern wurde dieser Abscheu zu einem bedeutsamen Motiv seiner Sozialkritik. Er fürchtete, daß Homosexualität sich wie eine Infektion ausbreiten würde angesichts solcher Entmannung, wie sie Blondie an Dagwood vor den Augen ihrer Kinder Cookie und Alexander verübte. So war Homosexualität laut einer Notiz McLs aus jener Zeit die Hauptbedrohung der zeitgenössischen Moral.
Die Öffentlichkeit mußte von dem großen Sittenverfall erfahren und sein Essay Is Postwar Polygamy Inevitable wurde Esquire angeboten: die steigende Scheidungsrate, sexuelle Promiskuität, Kinderadoption und künstliche Befruchtung hätten die Monogamie der Aura der Heiligkeit entkleidet. Auch würden durch die Dynamik des industriellen und kommerziellen Lebens Frauen und Männer auf den Status von Lohnsklaven und Verbrauchern reduziert, woduch die traditionelle monogame Familie ein ökonomischer Luxus wurde. Die Männer konnten nicht länger in stolzer Unabhängigkeit ihre Familien unterhalten; die konstitutionell folgsamen, unkritischen und routine-loving Frauen würden die Führung in Handel, Industrie und Regierung übernehmen und nach Art primitiver Stämme kollektiv eine Klasse von männlichen Faullenzern und Kriegern ernähren.(66/67) Esquire lehnte ab.
McLuhans erfolgreichste Essays jener Zeit waren die, in denen er die Kultur-und-Environment-Linie seiner Sozialkritik mit dem Trivium-Thema verband. Edgar Poe's Tradition, 1944 in der Sewanee Review veröffentlicht, stellte Poe in die Rhetoriktradition Ciceros und der Renaissance-Humanisten, die McLs Ansicht nach im amerikanischen Süden Wurzeln geschlagen hätten. Aus dieser "Southern Quality" habe Poes kosmopolitische und aristokratische Gesinnung, der hohe Standard seiner Literatur und sein Ideal einer von Männern mit umfassendem Wissen, politischem Können und tiefwirksamer Beredsamkeit geführten Gesellschaft Nahrung erhalten.
Diese Position baute McLuhan in einer Reihe von Artikeln für die Sewanee Review über die nächsten Jahre aus. In The Southern Quality trat zum Renaissancehumanismus und der Rhetoriktradition ein auf Landwirtschaft beruhendes communal living nach aristokratischen Maßstäben und bildete einen Brückenkopf gegen die nordamerikanische Zivilisation und vor allem gegen die Tradition Neuenglands, die sich auf Dialektik, utilitaristische Logik und eine kommerzialisierte, industrialisierte und von einen agressiven Idividualismus durchsetze Lebenform stützte. Der mit dem Namen Jefferson assoziierte 'Wert des Südens' umfaßte viele der Qualitäten, die McL später als 'akustisch' bezeichnete, die Tradition des Nordens dagegem solche, die demgegenüber 'visuell' genannt wurden.
In Footprints in the Sand of Crime zitierte er Edgar Allan Poe's Dupin, Sherlock Holmes, Lord Peter Wimsey und andere berühmte Spürhunde als Prototypen der gelehrten Gentlemen-Tradition Ciceros und der Renaissance-Rhetoriker und -Humanisten. Die Genealogie des Spürhundes führte auf aristokratische Dandies vom Schlage Byrons und Baudelaires zurück.
In diesem Artikel wurde auch aus E.A.Poes A Descent into the Maelstrom die - in gewisser Hinsicht messianische - Technik des 'Abstiegs' entwickelt, in der McLuhan bis zum Ende seiner Karriere ein Meister blieb. Die (Selbst)Errettung des von einem riesigen Meeresstrudel erfaßten Seemanns durch kühle Beobachtung und Berechnung der Strömungsverhältnisse wurde für ihn neben dem sleuth zum Symbol seines eigenen Werkes als einer Befreiung aus dem Vortex der industriellen Revolution durch "detached observation" und "inclusive awareness" - so einige seiner Schlüsselbegriffe. Daß bei Poe der Absteiger nach seiner Rettung an Geist und Körper gebrochen war, wurde dabei übergangen.(68)
Diese brillianten und stimulierenden Übungen in social and cultural criticism erschienen alle in der Sewanee Review. Hier hatte McLuhan ein anerkanntes und wohletabliertes Publikationsorgan gefunden und in dem Herausgeber Allen Tate das erste offene Ohr außerhalb seines unmittelbaren Umkreises. Unter Tate vertrat das Blatt viele von seinen eigenen Interessen: New Criticism, Respekt vor der schwindenden agrarischen Tradition des Südens und Widerstand gegen das abstrakte und utilitaristische Ethos der modernen Zivilisation.
Je mehr Artikel er in der Sewanee Review und in der geistesverwandten Kenyon Review veröffentlichte, desto bekannter wurde er als ein Junior-Mitglied der Southern Agrarian/New Criticism axis der Tate, Ransom, Cleanth Brooks, Robert Penn Warren und anderer. Als Tate von seinem Herausgeberposten zurücktrat, wurde McLuhan neben einem anderen Kandidaten als Nachfolger genannt und als "einer von uns" empfohlen.(68)
Bis dahin hatte McLuhan außer Klagen über die Auswirkungen der Mechanisierung des modernen Lebens wenig über Medien und Technologien geschrieben. In St. Louis jedoch stieß er auf Technics and Civilization (1934) von Lewis Mumford. Dort hatte Mumford radikal ein erstes hochmechanisiertes Stadium der Industrialisierung auf Dampfkraftbasis von einem zweiten organischen auf Elektrizitätsbasis unterschieden. In diesem zweiten Stadium wurde durch Telegraph und Telephon eine unmittelbare weltweite Kommunikation möglich. Mumfords Vision einer von einem Kommunikationsnetzwerk zusammengehaltenen Welt lag nicht weit entfernt von McLuhans späterer des 'Globalen Dorfes'. Mumford sah in der Verbreitung der Elektrizität die Hoffnung auf Umkehr. Die Gesellschaft würde wieder dezentralisiert werden, die großen Städte und Fabriken würden zergehen und die elektrische Restauration würde wieder eine Art ländlichen, gemeinschaftsorientierten und handwerklichen Lebens ermöglichen.
Trotz seiner Sympathien mit der agrarischen und artisanalen Mentalität verdächtigte McLuhan Mumford der Vision einer pastoralen Utopie im Stile Rousseaus mit kleinen verkabelten Dörfern, die in glücklicher Anarchie lebten. [KM-»] Mumford seinerseits sah später in Der Mythos der Maschine in McLuhan den Vertreter einer zynischen Übermechanisierung der Menschheit durch elektronische Medien. [«-KM] Dennoch konnte McL Mumford nützliche Hinweise entnehmen. So sah Mumford in Technics and Civilisation in der Druckerpresse den Prototyp für die "vollständig standardisierten und austauschbaren Teile" eines mechanischen Artefakts und in ihrer Ausbreitung die Zerstörung des "Gleichgewichts zwischen dem Sinnenhaften und dem Geistigen, zwischen Bild und Ton, zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten, das in gewissem Ausmaß in der mittelalterlichen Zivilisation erreicht worden war". (zit 69)
Zugleich war McLuhan zu Kriegsbeginn in St.Louis dem schweizer Architekten Sigfried Giedion begegnet. Giedion bestätigte McLs Verdacht, daß Reklame ein weitaus größeres Interesse verdiene als der größte Teil der 'ernsten' Gegenwartsliteratur. Giedion konnte, so McL in einem Brief von 1971, aus einer einzigen Reklame oder einem einzigen Artikel eines Kaufhauses die Geheimnisse einer ganzen Gesellschaft entziffern.
Giedions Mechanization Takes Command wurde noch vor McLs Auszug aus St.Louis publiziert und war ihm während seiner ganzen Karriere ein ständiger Quell. Giedion untersuchte dort die breite Palette zerstreuter menschlicher Artefakte des Industriezeitalters - Badezimmerinstallationen des Neunzehnten Jahrhunderts, Marcel Duchamps Gemälde Nude Descending a Staircase und eine Chikagoer Fleischkonservenfabrik -, um an ihnen das Eindringen der Mechanisierung in die Tiefen des menschlichen Lebens und des Organischen überhaupt aufzudecken. So zeigte sich, wie fundamentaler technologischer Wandel alle Aspekte des menschlichen Lebens ergriff und wie umgekehrt aus jedem zerstreuten Artefakt der Industriekultur, wie unbedeutend es auch sein mochte, ein Funke befreit werden konnte zu dem Neuen Muster des Lebens, das sich ebenso in Philosophie, Reklame und den exaltiertesten Kunstformen verhieß. (69)
Zwischen 1944 und 1946 arbeitete McLuhan an mehreren nie vollendenten Projekten: an Sixty Million Mama's Boys, eine buchlange Arbeit über Poe auf der Basis seiner Sewanee Review Artikel, an einer Revision seiner Dissertation für eine mögliche Publikation und an From Machiavelli to Marx: A Study in the Psychology of Culture. Inspiriert von Karen Horneys psychoanalytischer Arbeit The Neurotic Personality of Our Time wollte er in letzterem Essay dartun, wie ein möglicher umfassender "nervous breakdown" der abendländischen Kultur ein "breakthrough" zu einer Erneuerung der Gesellschaft im Lichte der Prinzipien rechter Vernunft sein könne. Schließlich begann er an dem Buch zu arbeiten, das schließlich als The Mechanical Bride bekannt werden sollte - das einzige der Projekte jener Zeit, das er jemals vollendeten sollte.(70)
In sein letztes akademische Jahre an der St.Lous Universität, 1943-44, fiel nicht nur der Beginn seiner öffentlichen Laufbahn als Kulturkritiker, sondern auch eine der bemerkenswerteren Episoden seines Lebens: der Beginn der seiner Freundschaft mit dem englischen Maler, Novellisten und Kritiker Wyndham Lewis. [KM-»] Aus dieser Begegnung wie aus der etwas späteren mit Ezra Pound entwickelte sich eine neue dramatische Erweiterung des 'Auf- und Ausnamezustandes McLuhan'. Seine Briefe der Zeit verdichten sich zu einem atemlosen Stakkato unter dem Druck dessen, was man rasende Rezeption oder Absorption einer ganzen kulturellen Sphäre nennen könnte. McLuhan war auf zwei große Vertreter des englisch-europäischen Avantgardismus (oder High-Modernism) gestoßen, die sich damals in den USA aufhielten; Lewis in großer Armut in Windsor, Pound in einem psychiatrischen Krankenhaus in Verwahrung, nachdem ihm wegen seiner Rundfunkarbeit für den italienischen Faschismus der Prozeß gemacht worden war.
Marchands narratives Inventorium, das die Bedeutung der Begegnung mit Lewis nur andeutet, verzeichnet auch McLuhans Versuch, Lewis in St.Louis zu einem Durchbruch als Portraitmaler zu verhelfen, der, verfolgt man ihn in den Briefen, Züge eines großen Coups und einer Posse zugleich hatte und für McLuhan zugleich ein Test für einen weitaus größeren Durchbruch sein sollte, über dessen Bedeutung er sich damals nur in geheimnisvollen Andeutungen erging.
Das Ergebnis war schließlich die Sättigung der späteren Technologietheorie und Medienästhetik McLuhans mit den künstlerischen und kunstheoretischen Errungenschaften der europäischen Avantgarde zu einer äußerst brisanten und folgenreichen Legierung und zugleich die Verabschiedung dieser Avantgarde vor den Toren von Madison Avenue und der großen Medienkonzerne. Die Künstler sollten von mit allen Wassern des Avantgardismus (und einiger anderer älterer europäischer Arcana) gewaschenen Marketing-, Kultur- und Gesellschaftsingenieuren und -programmiererern abgelöst werden, den Konstrukteuren und Schöpfern eines von neuen künstlichen technologisch-wissenschaftlichen Archetypen in permanenter Spannung und gläubiger Erregung gehaltenen Welt-Gesamt-Kunstwerkes: globales Gesamtkunstwerk in der Vision McLuhans, weltweiter Super-Markt in der trockeneren Sicht seines Freundes Peter Drucker, universale Konsumkultur der westlichen Mediendemokratie für Francis Fukuyama. [«-KM]