ERSTES KAPITEL
Die Macht der Bilder und die Orte der Memoria

1.Polemiken der Humanisten gegen die "Vorschriften" der Memoria
In einem um die Mitte des Jahrhunderts der Aufklärung verfaßten Grundtext der modernen Philosophie spricht David Hume von der Urteilskraft und der Memoria und behauptet, daß die Mängel der Urteilskraft durch keine Kunst oder Erfindung behebbar seien, die Mängel der Memoria hingegen gemildert oder beseitigt werden können "sowohl im Feld der Geschäfte wie in dem der Studien". Er verweist dabei auf die "Methode", den "Fleiß" und auf die "Schrift" als geeignete Stützen für eine schwache Memoria und schreibt: "fast niemals sind wir gewillt, ein schwaches Gedächtnis als Grund für das Scheitern einer Person in ihren Unternehmungen anzugeben. Aber in der Antike, als kein Mensch Erfolg erreichen konnte, wenn er nicht die Gabe der Rede besaß, und als das Publikum zu delikat war, um die groben und unverdaulichen Reden der Art zu ertragen, wie sie die Stehgreifredner unserer heutigen Tage in der Öffentlichkeit vorbringen, besaß ein gutes Gedächtnis allerhöchste Bedeutung und wurde folglich sehr viel höher geschätzt als heute."
Hume, der in den Jahren seiner intellektuellen Bildung "heimlich" die Werke Ciceros "verschlungen" hatte, war sich wohl bewußt der historischen Existenz einer Technik oder Kunst der Memoria, die, so das Zitat, ihrer Natur nach an das Blühen einer Kultur gebunden ist, in der den Techniken des Diskurses große Bedeutung beigemessen wird, und an eine Welt, in der die Rhetorik ein lebendiges Element der Bildung darstellt. Zur Zeit als Hume schrieb, waren die Untersuchungen zur Festsetzung und Ausarbeitung der Regeln der künstlichen Memoria schon definitiv von der Szene der europäischen Kultur verschwunden und hatten sich in die Sphäre von Kuriositäten und Extravaganzen geflüchtet. Es hatte sich dabei nicht allein um einen Niedergang der Redekunst angesichts der geringeren Delikatesse der Zuhörer gehandelt: vielmehr hatten die enorme Verbreitung der Druckerpresse (und folglich der Nachschlagewerke, der Wörterbücher, Bibliographien und Enzyklopädien) und der wachsende Erfolg der neuen Logiken (von Ramus, Bacon und Cartesius bis zu den Port-Royalisten) jenen Werken der Mnemotechnik einen tödlichen Stoß versetzt, die während des 15. und 16. und der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts Europa buchstäblich überschwemmt hatten.
Nur wenn man sich die Verbreitung vor Augen hält, welche die Mnemotechnik nicht nur im literarischen und philosophischen Raum gewonnen hatte, sondern auch innerhalb der Schulen und Unterrichtsprogramme, kann man sich die Proteste und ironischen Ausfälle erklären, die sich gegen sie in den Jahrhunderten schon der Renaissance erhoben hatten. In dem zehnten, eben der ars memorativa gewidmeten Kapitel von De vantiate scientiarum wettert Agrippa gewaltig gegen jene nebulones, die den Studenten auf den Schulen das Studium der künstlichen Memoria aufschwatzen oder den Unvorsichtigen das Geld aus der Tasche ziehen, indem sie viel Aufhebens von der Novität der Kunst machen. Mit mnemonischen Fähigkeiten zu prunken erscheint ihm kindisch Ding; oft, schließt er, geht es einher mit alle Zeichen von Unverschämtheit und Schamlosigkeit: es werden alle Waren vor der Tür aufgestellt, während der Laden innen vollständig leer ist. Unter den größten Theoretikern der memorativen Kunst erwähnt er Simonides, Cicero, Quintilian, Seneca, Petrarca und Peter von Ravenna; dabei bemerkt er einerseits, daß die künstliche Memoria nicht ausreiche, wenn nicht schon eine robuste naturalis memoria vorhanden sei, andererseits wettert er gegen die monströse Art der Bilder und die Schwerfälligkeit der in der Mnemotechnik gebräuchlichen Formeln. Deren Verehrer, so scheint ihm, wollen mithilfe der Kunst all denen den Kopf verdrehen, die sich nicht mit den von der Natur gesetzten Grenzen abfinden können.
Mit dergleichen Entschiedenheit spricht sich zwanzig Jahre später der Feind der Ciceronianer und der Rhetorik, Erasmus, gegen den Gebrauch der Orte und der Bilder aus, die nur die natürliche Memoria zerstören und ruinieren. Mit noch schärferer Ironie wird ein anderer großer Kritiker der schulmeisterlichen Degeneration des Humanismus diese Art von Literatur verwerfen und mit einer Offenheit, die sich unter anderem auch durch eine ganz bestimmte kulturelle Situation erklären läßt, seinen eigenen Mangel an Erinnerungsvermögen betonen:
Es gibt keinen Menschen, dem es so wenig wie mir zukommt, vom Gedächtnis zu reden. Tatsächlich bemerke ich an mir davon fast überhaupt keine Spur und denke, daß es auf der Welt kein anderes gebe, das so monströs versagt... Wenn ich auch ein Mann von einiger Belesenheit bin, so bin ich doch einer, der nichts behält {homme de nulle retention (Pléiade 387)}.
Gerade in Bezug auf die Erziehung und in der Annahme, daß "auswendig wissen nicht wissen heißt, sondern im Gedächtnis bewahren, was ein anderer dort eingegeben hat", polemisiert Montaigne im Namen einer "lebendigen" Kultur gegen das mnemonische Lernen: man soll von dem Schüler nicht Rechenschaft von den Worten der Lektion verlangen, sondern von ihrem Sinn und ihrer Substanz; man erwarte von ihm nicht das Zeugnis seiner Memoria, sondern das seines Lebens; der Magen hat seine Funktion nicht erfüllt, wenn er nicht die Form und Struktur Nahrung verändert hat: ganz so ist die Aufgabe des Geistes. Das waren keine allgemeinen Hinweise auf die Freiheit des Geistes gegenüber dem Zwang der Regeln; die Polemik Montaignes gleicht nur der Form nach der eines Lehrers von heute gegen die Wortgläubigkeit von Schülern, die ihre Lektionen auswendig lernen. Montaigne hatte vielmehr ganz bestimmte Verhältnisse vor Augen:
Wenn man in meinem Land sagen will, daß ein Mensch keinen Verstand hat, sagt man, daß er kein Gedächtnis habe, und wenn ich mich über den Mangel des meinen beklage, tadeln und verschreien sie mich, als ob ich mich beklagte, ohne Verstand zu sein. Sie sehen keinen Unterschied zwischen Gedächtnis und Verstand. Das heißt allerdings meine Sache verschlimmern. Aber sie tun mir Unrecht, denn aus Erfahrung zeigt sich gerade im Gegenteil, daß die ausgezeichneten Gedächtnisse {les memoires excellentes} sich gerne mit debilen Urteilen verbinden {se joignent volontiers aux jugemens debiles (alles Ed. Pléjade 35)} ... Es steht von dem Redner Curio geschrieben, es sei ihm, als er die Teile seiner Rede oder die Anzahl seiner Themen und Raisonnements auf drei oder vier veranschlagte, oft unterlaufen, entweder eine zu vergessen, oder eine oder zwei hinzuzufügen. Verhaßt wie mir diese Preambeln, Vorschriften und Regeln waren, habe ich mich immer gehütet, diesem Übel zu verfallen: nicht allein wegen des Mißtrauens gegenüber meinem Gedächtnis {pour la deffiance de ma memoire}, sondern auch, weil diese Art zu sehr nach Künstlichkeit riecht {pour ce que cette forme retire trop à l'artiste (alles Ed. Pléiade 941)}
In Wirklichkeit und trotz der Proteste von Erasmus und von Montaigne sollten diese verhaßten "Vorschriften" sich während des ganzen sechzehnten Jahrhunderts immer weiter verbreiten und bis weit ins siebzehnte in Kraft bleiben. Mitte des 17. Jahrhunderts protestiert Wolfgang Ratke in ähnlicher Richtung wie die großen Humanisten gegen das mnemonische Lernen und die mnemotechnischen Übungen. Aber noch in dem letzten Jahren des Jahrhunderts verfochten die "Ciceronianer", die trotz Erasmus, Montaigne und der großen ramistischen und cartesianischen Krise nicht gänzlich die Waffen gestreckt hatten, nicht nur für die Rhetorik sondern auch für die Pädagogik die Notwendigkeit und Nützlichkeit der artifiziellen Memoria. Die reichhaltige Produktion von Traktaten über die ars memorativa, zu der die Art of Memory von D'Assigny gehörte (die nicht zufällig 1697 den "jungen Studenten beider Universitäten" gewidmet wurde), war jedoch nicht nur Ausdruck grammatikalischer Pedanterie gewesen: in ihr hatte jener Panmethodismus Gestalt angenommen, der während des sechzehnten Jahrhunderts die Kultur ausgezeichnet hatte. Die Physiognomie, die Temperamente, die Leidenschaften, die Proportionen des menschlichen Körpers, der Diskurs, die Poesie, die Beobachtung der Natur, die Kunst der Regierung und Kriegsführung: all das wurde damals kodifiziert und als eine Kunst aufgefaßt. Diese kulturelle Periode ist zutreffend "das Zeitalter der Manuale" genannt worden, und das Jahrhundert "war unermüdlich auf der Suche nach normativen Prinzipien von allgemeinem und ewigem Wert, um sie in bequeme didaktische Lehrschemata einzusenken". {L. Firpo} Während aber immer deutlicher wurde, daß diese Kodifizierungen den Schritt vom Stand der Topiken und der Universaltheater zu dem der Methode unmöglich machten, verstärkte sich zunehmend die Notwendigkeit einer Kunst als Schlüssel zur wahren Realität, als universale Kunst, die mit einem Schlag alle Probleme löst, und als supreme Technik, die alle speziellen Techniken überflüssig macht.
Die Idee einer "mechanisch" funktionierenden Kunst des Erinnerns und Denkens gewinnt neue Kraft, wenn sich zwischen der Mitte des sechzehnten und der des siebzehnten Jahrhunderts ein Kontakt zwischen drei verschiedenen Traditionen der Kunst der Memoria etabliert: 1) der von Cicero, Quintilian und der Rhetorica ad Herennium inspirierten; 2) der aus De memoria et reminiscentia von Aristoteles und aus den Kommentaren von Albert, Thomas und Averoës abgeleiteten; 3) schließlich der direkt mit der ars magna von Lullus verbundenen. Nun belebt sich von neuem das Projekt eines begrifflichen Mechanismus, der, einmal in Gang gesetzt, von selbst und relativ unabhängig vom Wirken des Einzelnen "arbeiten" kann, bis ein totales Begreifen erreicht und die Menschen in die Lage versetzt sind, das große Buch des Universums zu lesen. Um sich eine Vorstellung von dem Einfluß zu machen, den diese Idee auf die moderne Philosophie ausüben wird, braucht man nur an die Maschine denken, die Bacon mit seiner neuen Logik zu konstruieren suchte; an das mirabile inventum von Descartes, das er, bevor er es in der analytischen Geometrie fand, in den Werken von Lullus und Agrippa gesucht hatte; an die Bücher von Comenius als "universale Lichtbringer" und schließlich an den wunderbaren Schlüssel, zu dem die "Charakteristik" von Leibniz werden wollte.
Der alte lullianische Traum von einer Kunst, die zugleich Logik und Metaphysik ist ; die im Unterschied zur traditionellen Logik nicht von den sekundären, sondern von den primären Intentionen handelt; die die Übereinstimmung zwischen dem Rhythmus des Denkens und dem der Realität enthüllt; die durch mentale Kombinationen den wahren Sinn der Textur des Realen entschleiert, hatte während der Renaissance in den manierierten mnemotechnischen Schriften von Bruno ihren Ausdruck gefunden. Nicht umsonst sollte Bruno außer auf die Lektüre der Werke von Lullus sich auf die in jugendlichen Jahren gemachte Entdeckung des ganz im "rhetorischen" und "ciceronianischen" Geist verfaßten Traktätchens über die Memoria des Pietro da Ravenna berufen. Wenn Bruno sich in De umbris idearum den imaginativen Verknüpfungen und Konnexionen zwischen Bildern, Figuren und Lettern verschreibt, sieht er gerade in dem Konnubium zwischen logischem und psychologischem Mechanismus jene Möglichkeit einer immensen Ausdehnung des Wissens oder einer neuen inventio, die der Gipfel seiner Bestrebungen war: in den brunianischen Werken erschienen zusammengelötet die Bestrebungen des Lullismus und die Techniken des Gebrauchs der Orte und der Bilder, die auf die Werke der antiken Rhetorik und auf die Renaissancetraktate über die artifizielle Memoria zurückgehen.
Wenn man die lebhaft polemischen Passagen (von Ratke, Erasmus, Montaigne oder Agrippa) gegen die Kunst der Memoria liest, ist es sicher schwierig, nicht irgendwie mit einer Polemik gegen die Schemata, die Pedanterie und die Weitschweifigkeit einer rigiden Präzeptistik im Namen freier Spontaneität zu sympathisieren. Das ändert nichts daran, daß eben diese (von Cicero sowie von Lullus stammende) Präzeptistik auf unterirdischen Wegen tief die Entwicklung der neuen Kultur und damit auch die Entwicklung der neuen Logik von Bacon bis Leibniz prägen sollte. Auf verschiedene Weise verbunden mit den Entwicklungen der Künste des Diskurses und den Techniken der Persuasion, mit den Versuchen der Konstruktion einer neuen Enzyklopädie, mit den Kontroversen über den Ramismus und den Lullismus, mit der Magie, der Medizin und mit der Physiognomie, steht die Traktatliteratur über die künstliche Memoria im Zentrum eines Strudels von Diskussionen und Problemen, in den nicht nur die Theoretiker der Rhetorik, sondern auch Philosophen, Logiker, Adepten okkulter Wissenschaften, Ärzte und Enzyklopädisten verschiedenster Art und Provenienz hineingezogen werden.
Die "Bizarrerien" der Mnemotechnik verflechten sich auf der einen Seite zunehmend mit Problemen der Logik und der Rhetorik, auf der anderen verbinden sie sich mit der Wiedergeburt des Lullismus und der Erschaffung künstlicher Sprachen, ganz zu schweigen von jener zwielichtigen magisch-okkultistischen Atmosphäre, die mit dem das Wiederaufblühen der Interessen an der Ars magna von Lullus verknüpft ist. Die Diskussionen über die Kunst der Memoria beeinflussen besonders stark zwei große Anliegen der philosophischen Kultur des siebzehnten Jahrhunderts: das der Methode oder der inventiven Logik und das der systematischen Klassifikation der Wissenschaften oder der Konstruktion einer Enzyklopädie des Wissens.
2. Die klassischen und mittelalterlichen Quellen der ars memorativa
Die Menschen - schrieb der anonyme Autor eines aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammenden Traktates über die Memoria - erfanden verschiedene und zahlreiche Künste, um das Werk der Natur zu unterstützen und zu potenzieren. Als sie die mit der Schwäche der menschlichen Natur verbundene Unbeständigkeit der Memoria feststellten, ersannen sie eine Kunst, sich vieler Dinge zu erinnern, die auf natürlichem Wege nicht erinnert werden konnten. So entstand die Schrift, und da in späteren Zeiten den Menschen klar wurde, daß sie die Schriftstücke nicht immer bei sich tragen konnten und daß zu schreiben nicht immer möglich war, erfanden sie schon zu Zeiten von Simonides und Demokrit die Kunst der artifiziellen Memoria.
Dieser Vergleich der Kunst der Memoria mit den anderen Techniken, die das Werk der Natur unterstützen, ist, wie wir sehen werden, nicht ganz ohne Bedeutung. Aber mehr als von diesem Vergleich ist man beim Studium der zwischen der Mitte des vierzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts verfaßten Traktate zur ars memorativa von dem beständigen und beharrlichen Verweis auf die aristotelische Psychologie, auf die großen Handbücher der lateinischen Rhetorik, auf die Werke über die Memoria und auf die Kommentare von Albertus Magnus und Thomas von Aquin beeindruckt. In vielen Fällen tun diese Traktate nichts anderes als Regeln, Doktrinen und Vorschriften zu erläutern, zu kommentieren und zu erweitern, die viele Jahrhunderte zurückreichen und die, nachdem sie in Griechenland und Rom ausgearbeitet worden waren, über das Werk der großen Meister der Scholastik zu den Schriftstellern des vierzehnten Jahrhunderts und der Renaissance gelangen. Es ist hier die Gelegenheit, die wichtigsten unter diesen Quellen in Erinnerung zu rufen.
1) De memoria et reminiscentia von Aristoteles
Diese Schrift, die sich als eine Abhandlung über Psychologie und nicht über die Mnemotechnik präsentiert, enthält dennoch Lehren, die in späteren Epochen für die Entwicklung einer Technik des Erinnerns genutzt werden. Die Theoretiker der Mnemotechnik berufen sich auf die folgenden aristotelischen Lehren: a) Die Lehre von der für das Funktionieren der Memoria (mnhmh) notwendigen Gegenwart des Bildes oder Phantasmas (fantasma). Die Notwendigkeit des Rückgriffs auf das Bild (das eine Art von immaterieller oder abgeschwächter Sensation {sinnlicher Empfindung/ Wahrnehmung} ist) hat zur Folge, daß zwischen der Memoria und der Imagination (fantasmata shmiwtik....?) auf der einen sowie zwischen der Memoria und der Sensation auf der anderen Seite eine ziemlich enge Verbindungen besteht. b) Die Lehre, daß das Erinnern oder /33/ die reflektierte Memoria oder die Vergegenwärtigung der aus dem Bewußtsein verschwundenen Erinnerung (anammnhsiV) von Ordnung und Regelhaftigkeit unterstützt wird, wie es zum Beispiel bei der Mathematik der Fall ist, während das, was verwirrt und ungeordnet ist, nur schwer erinnert werden kann. c) Die Formulierung eines Gesetzes der Assoziation, demzufolge die Bilder und Vorstellungen sich aufgrund der Ähnlichkeit, der Opposition und der Kontiguität assoziieren. In einer Passage aus De memoria (2, 452a, 12-15), die für die Zukunft von besonderer Bedeutung sein sollte, sagte Aristoteles: "Manchmal scheint die Erinnerung von den Orten (topoi) auszugehen. Der Grund hierfür ist, daß der Mensch schnell von einem Glied {termine} zum anderen übergeht, zum Beispiel von der Milch zum Weißen, vom Weißen zur Luft, von der Luft zur Feuchtigkeit, von der Feuchtigkeit zur Erinnerung des Herbstes, falls diese Jahreszeit erinnert werden soll." Auf die Verwendung der Bilder bezieht sich Aristoteles übrigens auch in De anima (III, 3, 472 b, 14-20). "Sicher ist, daß die Imagination etwas von der Sensation und dem Denken Verschiedenenes ist... sie ist in unserer Macht wann wir es wollen, und kann sich wirklich etwas vor Augen stellen, wie es jene machen, welche die mnemonischen Orte füllen und Bilder herstellen(en toi V mnhmonikoi V tiJemenoi kai eidwlopoioi nteV{??}), während die Sensation nicht von uns abhängt."
2) De oratore von Cicero (II, 86-88).
In diesem Werk wird die Memoria als einer der fünf Teile behandelt, welche die Technik des Redners ausmachen. Nachdem er auf die Episode des Dichters Simonides verwiesen hat (primum ferunt artem memoriae protulisse), der die von dem Einsturz der Zimmerdecke entstellten Körper der Teilnehmer eines Banketts identifiziert hatte, indem er sich an die Stelle (locum) erinnerte, den jene eingenommen hatten, erklärt Cicero, warum es (unter der Voraussetzung, daß die Ordnung der Memoria nützlich sei) zweckmäßig ist, die Orte auszuwählen, die Bilder der Tatsachen oder Begriffe zu bilden, an die wir uns erinnern wollen, und diese Bilder in den Orten zu plazieren. Eben diese Ordnung, nach der die Orte verteilt {disposti} sind, wird es ermöglichen, sich der Tatsachen zu erinnern. Die Kunst der Memoria erscheint so vergleichbar und analog dem Prozeß des Schreibens: die Orte erfüllen diegleiche Funktion wie das Wachstäfelchen, die Bilder diegleiche wie die Lettern. Der Gebrauch der Bilder wird mit der Notwendigkeit eines Rückgangs auf die sensorische Ebene sowie mit der größeren Dauerhaftigkeit der visuellen Memoria begründet. Die Orte sollen zahlreich, klar und modicis intervallis angeordnet sein; die Bilder wirken umso eindringlicher, je geeigneter sie sind, die imaginativen Fähigkeiten zu beeindrucken.
3) De intitutione oratoria von Quintilian (XV,2).
Auch wenn er eine gewisse Reserviertheit gegenüber der Mnemotechnik an den Tag legt, widmet Quintilian, der ebenfalls seine Darstellung mit der Geschichte von Simonides beginnt, dem Thema eine viel umfassendere und detailliertere Abhandlung als Cicero. Lange hält er sich bei der Konstruktion der Orte der künstlichen Memoria auf: um gute Resultate zu erreichen, soll man sich eines Gebäudes bedienen, und die verschiedenen Bilder in den einzelnen Orten plazieren, die man im Innern der einzelnen Zimmer gemäß einer Ordnung verteilt {ordinatamente disposti} hat. "Wenn man dann im Geiste das Gebäude besichtigt (das auch ein öffentliches Gebäude sein oder durch die Bastionen einer Stadt, durch einen in verschiedene Abschnitte aufgeteilten Tag oder durch eine imaginäre und "nicht -reale" Konstruktion ersetzt werden kann), wird es möglich, die verschiedenen Bilder aus den verschiedenen Orten, in denen sie "gehütet" wurden, "wieder abzurufen" (und somit die von ihnen ausgedrückten Tatsachen oder Begriffe in den Geist zurückzurufen).
4) Die Rhetorica ad C. Herennium (III, 16-24)
In dieser Schrift eines unbekannten Autors, die im Mittelalter Cicero zugeschrieben und als rhetorica nova oder secunda bezeichnet wurde (um sie von De inventione oder der rhetorica vetus zu unterscheiden), finden wir diegleichen Vorschriften wieder, auf die wir hingewiesen haben, als wir von Cicero und Quintilian sprachen. Die Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Memoria erscheint hier in klarer Formulierung:
Es gibt zwei Arten von Memoria: die eine natürlich, die andere künstlich. Die natürliche ist unserem Geist angeboren und wird zusammen mit dem Denken geboren, die künstliche wird durch eine Art Induktion und durch die Regeln einer Methode verstärkt.
Unter den Orten, die, um an viele Dinge zu erinnern, ziemlich zahlreich sein sollen, finden wir aufgelistet: aedes, intercolumnium, angulum, fornicem et alia quae his similia sunt. Die Bilder, welche die formae oder notae oder simulacri dessen sind, was erinnert werden soll, werden in den Orten plaziert: "auf die gleiche Art wie jene, welche die Buchstaben des Alphabets kennen, aufschreiben können, was ihnen diktiert wird, und rezitieren, was sie aufgeschrieben haben, können die, welche die mnemnoische Kunst gelernt haben, die Dinge, die sie gehört haben, in den Orten plazieren und sie aus ihnen auswendig wieder zurückholen". Während die Bilder veränderlich sind und gelöscht werden können, müssen die Orte fixiert und in einer Ordnung verteilt sein: das macht es möglich, die Bilder im Geiste unterschiedslos vom Anfang, vom Ende oder aus der Mitte einer Anordnung oder eines Verzeichnisses aus zurückzurufen.
5) De bono (IV, 2) und der Kommentar zu De memoria et reminiscentia von Albertus Magnus; die Summa theologiae (II, II, 49) und der Kommentar zu De memoria et reminiscentia von Thomas von Aquin.
Die Abhandlungen über die Memoria in De Bono von Albertus und in der Summa von Thomas berufen sich ausdrücklich auf die aristotelische und die pseudo-ciceronianische Quelle. Für Albertus "ist die Kunst der Memoria die beste, die Tullius uns hinterlassen hat"; die Vorschriften der Mnemotechnik dienen der Ethik und der Rhetorik; die Memoria der Dinge, die das Leben und die Gerechtigkeit angehen ist eine doppelte: natürlich und künstlich. "Natürlich ist die Memoria, die mit Leichtigkeit bekannte Dinge oder Tatsachen aus der Vergangenheit erinnert. Künstlich ist die, welche durch die Anordnung {disposizione} der Orte und Bilder konstruiert wird." Wie in allen anderen Künsten, vervollkommnen auch hier Kunst und Können die Natur, und da wir in unserem Handeln "von der Vergangenheit her auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet sind und nicht umgekehrt", erweist sich die Memoria, neben der intelligentia und der providentia, als einer der drei Teile, welche die Tugend der Klugheit ausmachen. Wie Yates erhellt hat, war De inventione von Cicero die Autorität, auf die sich Albertus und Thomas in ihren Überlegungen zur Memoria als Teil der Klugheit beriefen. Da Cicero in seiner zweiten Rhetorik (der Rhetorica ad Herennium) zwischen natürlicher und künstlicher Memoria unterschieden und dabei die Regeln für die Aneignung der künstlichen durch den Gebrauch der loci und imagines angegeben hatte, nahmen jene Unterscheidung und diese Regeln in den Diskussionen von Albertus und Thomas über die Memoria als Teil der Klugheit einen sehr bedeutenden Platz ein. Von dieser Hochschätzung der "ciceronianischen" Mnemotechnik sind übrigens der Umfang von Albertus' Erörterung und ihre minuziöse Genauigkeit ein deutliches Zeugnis: praktisch werden in De bono alle die in der Rhetorica ad Herennium enthaltenen Vorschriften untersucht. Als Beispiel braucht nur der Passus von Albertus zitiert zu werden, der sich auf den "ungewohnten" Charakter bezieht, den die Bilder haben müssen. "Was außerordentlich ist, beeindruckt mehr als das, was gewohnt ist. Deshalb verfaßten, wie Aristoteles versichert, die ersten Philosophen Dichtungen, da die aus wundersamen Dingen komponierte Fabel stärker beeindruckt". Der Verweis auf Aristoteles ist besonders signifikant: die Werke von Albertus und Thomas sind in Tat der Versuch einer Fusion des aristotelischen und des "ciceronianischen" Textes. Dies wird besonders evident in der thomistischen Summa theologiae. Ausgehend von der bekannten Identifikation der Memoria mit einem Teil der Klugheit, vergleicht Thomas die Möglichkeit der Klugheit, ex exercitio vel gratia vermehrt und perfektioniert zu werden, mit der Möglichkeit der Memoria, dies durch die Kunst zu erreichen. Die vier von Thomas ausgesprochenen Regeln der künstlichen Memoria betreffen: den Gebrauch der Bilder; die Ordnung, die den Übergang von einem zum anderen Begriff oder von einem zum anderen Bild erleichtert; die Notwendigkeit der Konzentration im Hinblick auf die Konstruktion der Orte, sowie die häufige Wiederholung für das Behalten der Begriffe. Die erste und die dritte dieser Regeln stammen aus der Rhetorica ad Herennium, die zweite und vierte aus dem aristotelischen De memoria et reminiscentia: nicht zufällig wird im Kommentar zu De memoria die erste Regel eliminiert und die dritte dem aristotelischen Text durch Tilgung des Bezugs auf die Konstruktion der Orte angepaßt .
3. Ars memorativa und Ars praedicandi im 14. Jahrhundert
Neben den Zitaten aus Aristoteles, Cicero und Pseudo-Cicero, aus Quintilian, Albertus und Thomas erscheinen in den Abhandlungen zur ars memorativa zwischen dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert häufig die Namen von Platon (mit der Stelle des Timaios, IV, 26b, die auf die größeren mnemonischen Fähigkeiten der Jugend verweist) von Seneca (der in De beneficiis, III, 2-3-4-5 bei Gelegenheit der Erinnerung an empfangene Wohltaten sowohl das Thema der "Häufigkeit" wie das der "Ordnung" berührt) und von Augustinus (mit den wohlbekannten Passagen über die Memoria im Buch X, Kapitel 8 der Confessiones und mit den kurzen Hinweisen in De Trinitate, XI,6). Die summarische Aufzählung dieser "Autoritäten" allein zeigt schon, daß sich die in Europa seit dem vierzehnten Jahrhundert weit verbreitende Traktatliteratur der ars memorativa auf eine sehr alte und nie unterbrochene Tradition bezieht. Über eine umfangreiche Produktion hatte sich diese Tradition entlang verschiedener Entwicklungslinien und auf verschiedenen Ebenen entfaltet: während das aristotelische Werk Fragen in Angriff nahm, die in Zusammenhang standen mit dem Problem der Sensation (nicht zufällig erscheinen die mittelalterlichen Kommentare zu De memoria et reminiscentia immer zusammen mit denen zu de sensu et sensato), der Imagination sowie der Beziehungen zwischen sensitiver und intellektualer Seele, hatten sich die Werke Ciceros, Quintilians und des Pseudo-Cicero auf einer typisch und ausschließlich "rhetorischen" Ebene bewegt, wobei sie sich auf die Kunst der Memoria als Technik bezogen, deren Aufgaben und Probleme sich in ihrer Funktionalität für die speziellen Ziele des Redners erschöpften.
Von De rhetorica Alcuins an bis zu dem Versuch des Johannes von Salisbury, die Ideale der eloquentia wieder zu beleben, und schließlich bis zum Speculum maius des Vinzent von Beauvais stellt sich die gesamte große mittelalterliche Rhetorik unter das Zeichen der ciceronianischen Werke . Deswegen kann, wie zu Recht festgestellt wurde, von einer scholastischen Rhetorik nur dann die Rede sein, wenn aus dem Ausdruck "scholastisch" fast vollständig der Bezug auf die "Autorität" des Aristoteles entfernt wird. Bei Albertus und Thomas hingegen erscheinen die beiden Ebenen, auf denen sich im Laufe des Mittelalters die Erörterung der Memoria entwickelt hatte (die "spekulative Ebene" und die "technische"), zum ersten mal fest verbunden: die rationale Psychologie des Aristoteles bildet für die beiden großen Meister der Scholastik den Rahmen, innerhalb dessen die Technik (die in Cicero und in der rhetorica secunda ihren höchsten Ausdruck gefunden hatte) eingeordnet, eingefügt und gerechtfertigt wurde. Wie Yates deutlich gemacht hat, bildet dieser streng rationalistische Hintergrund der albertinisch-thomistischen Mnemotechnik wahrscheinlich die Grundlage des von Albertus und Thomas durchgeführten Versuchs, die Techniken der artifiziellen Memoria von der magisch-okkultistischen ars notoria oder "magischen" Kunst der Memoria zu reinigen, die als "Summe der Künste" oder als Schlüssel zur Allwirklichkeit verstanden wurde. In der ars notoria ist, wie sich später in einigen Werken aus der Hoch- und Spätrenaissance zeigen wird, die Kunst der Memoria eng verwandt mit einer heimlichen Kunst oder scientia perfecta, die durch die Verbindung der Regeln der Kunst mit Invokationsformeln, mystischen Figuren und magischen Gebeten ad omnium scientiarum et naturalium artium cognitionem führen soll.
Wie dem auch immer sei, sicher ist, daß sich nicht wenige Schriften zur Kunst der Memoria auf dem von jenen beiden großen Dominikanern eingeschlagene Weg einer Synthese der aristotelischen und ciceronianischen Lehren bewegen. Deutlich liegt auf dieser Linie zum Beispiel der Dominikaner Bartolomeo da San Concordio (Å 1374). In dem Kapitel aus Die Lehren der Alten, das den "Dingen, die zu einem guten Gedächtnis verhelfen" gewidmet ist, zitiert Bruder Bartolomeo (nachdem er sich auf die Rhetorica ad Herennium, den Timaios, auf De memoria und das zweite Buch der Rhetorik von Aristoteles sowie auf die Ars poetica von Horaz berufen hat) weitläufig aus dem Kommentar des Thomas zu De memoria und aus der "Zweiten der Zweiten" der Summa: "Von den Dingen, an die sich der Mensch erinnern will, ergreift er einige passende, aber ganz ungebräuchliche Ähnlichkeiten, denn über ungewöhnliche Dinge geraten wir mehr ins Erstaunen ... Der Mensch soll die Dinge, die er im Gedächtnis behalten will, bei seiner Überlegung so anordnen, daß er beim Erinnern von einem zum anderen gelangen kann." Der Verweis auf die ciceronianische Lehre von den Orten und Bildern ist ebenso deutlich : "Von den Dingen, an die wir uns erinnern wollen, müssen wir in bestimmten Orten Bilder und Gleichnisse plazieren". Die acht von Bartolomeo aufgestellten "Vorschriften" (1. vom Knabenalter an lernen; 2. scharf aufmerken; 3. häufig überdenken; 4. ordnen; 5. mit dem Anfang beginnen; 6. Ähnlichkeiten erfassen; 7. die Memoria nicht mit zu vielen Dingen belasten; 8. Verse und Reime gebrauchen) scheinen also einer Synthese aus den verschiedenen von ihm erwähnten Werken entnommen zu sein.
Ausschließlich von der Rhetorica ad Herennium inspiriert (obwohl der Autor zweimal behauptet, "sich von Tullio zu distanzieren") ist dagegen das im vierzehnten Jahrhundert "in volgare" verfaßte Traktätchen über die artifizielle Memoria, das irrtümlicherweise Bartolomeo zugeschrieben worden ist. Neben der Definition des Ortes ("eine so disponierte Sache, daß sie in sich eine andere Sache enthalten kann") und der Bilder ("die Repräsentation der Dinge die wir im Geist behalten wollen") erscheinen in dieser kurzen Schrift sowohl die Unterscheidung zwischen natürlichen, "von der Hand der Natur hergestellten", und künstlichen, "von der Hand des Menschen hergestellten" Orten, als auch die Regeln zum Aufbau der Orte und zum symbolischen Charakter der Bilder:
Auch ist es angebracht, das Bild mit einem Zeichen zu bezeichnen, das zu der Sache paßt, für die es steht; so gehört zum Bild des Königs das Zeichen der Krone und zu den Rittern das des Schwertes ... Des weiteren ist es angebracht, daß das Bild eine Handlungsweise ausdrücke, also daß ich ihm in Bezug auf seine Taten die Eigenschaften zuschreibe, die zu diesen gehören, so wie es angebracht ist, einem Löwen eine tapfere und kühne Erscheinung zu geben ... Also müssen wir immer wieder beachten, daß, wie auf das Papier {nelle carte} die Lettern, so in die Orte die Bilder gestellt werden sollen .
Diese Art von Beziehung zwischen Orten und Bildern, die auf die Rhetorica ad Herennium zurückgeht und für drei Jahrhunderte eines der fundamentalen Axiome der "Kunst" bleiben wird, ist übrigens auch in anderen Werken des 14. Jahrhunderts noch präsent: "Die Kunst der Memoria ist zwiefach: aus Orten und Bildern. Aber die Orte unterscheiden sich von den Bildern nur darin, daß sie fixierte Bilder sind, auf denen, wie auf Papier {carta} andere Bilder gemalt werden... daher sind die Orte wie die Materie und die Bilder wie die Form." Die verschiedenen Regeln aus dem oben zitierten Traktätchen kehren mit leichten Abwandlungen auch in diesem Text wieder. Aber von der Verbreitung der ars memorativa in den dominikanischen Kreisen des 14. Jahrhunderts zeugt außer den zitierten Werken auch die immer stärkere Verbindung zwischen ars memoriae und ars praedicandi. Lodovico Dolce, einer der bekanntesten Vulgarisatoren der Regeln der Rhetorik und der Mnemotechnik im sechzehnten Jahrhundert, berief sich 1562 auf die Summa de exemplis et similitudinibus des Fra Giovanni Gorini von S. Gemigniano (Å 1323) als eines der Hauptwerke der mnemonischen Kunst, und setzte dessen Namen neben den von Cicero und Pietro da Ravenna in das Verzeichnis der Gründer der Kunst. In diesem Werk, das sich als "äußerst nützlich für Prediger, egal über welches Thema sie predigen wollen" andiente, ermöglichte gerade die Herstellung von Analogien zwischen den Lastern und Tugenden auf der einen und den Himmelskörpern und Bewegungen der Erde auf der anderen Seite eine Technik zur Konstruktion von Bildern, die sowohl dem Prediger eine geordnete Exposition zu entwickeln als auch die Phantasie der Zuhörer zu beeindruken erlaubte. Angesichts von Bemühungen dieser Art ist den Förderern der im 14. Jahrhundert äußerst weiter verbreiteten scientia quae tradit formam artificialiter praedicandi ein wirkliches Interesse an einer Technik der Memoria durchaus nicht fremd gewesen.
In jenem einzigartigen Kulturprodukt unter dem Namen der mittelalterlichen ars praedicandi verbinden sich so die Erfordernisse der rhetorischen Persuasion und der Konstruktion von Bildern, welche die Erregung von kontrollierbaren Emotionen ermöglichen, mit den Regeln für die Ordnung und die Methode als Mittel, der Memoria die Inhalte und die Form der Predigt einzuprägen.
4. Techniken der Memoria im 15. Jahrhundert
In vielen Traktaten des 15. Jahrhunderts wird die thematische Richtung spekulativer Art, die den Hintergrund der Abhandlungen von Albertus, Thomas und Bruder Bartolomeo bilden, endgültig aufgegeben. Das geschieht zum Beispiel in den Artificialis memoriae regulae von Jacopo Ragone da Vicenza (1434 verfaßt und in verschiedenen Manuskripten überliefert). Das Interesse des Autors richtet sich ausschließlich auf eine sehr detaillierte Prüfung der Techniken des Auffindens der Orte:
/53 r./ Iussu tuo, princeps illustrissime, artificialis memorie regulas, quo ordine superioribus diebus una illas exercuimus, hunc in librum reduxi tuoque nomini dicavi, imitatus non modo sententias, verum et plerunque verba ipsa M. Tullii Ciceronis et aliorum dignissimorum philosophorum qui accuratissme de hac arte scripserunt...Praeceptore Cicerone ac etiam teste sancto Thoma de Aquino, artificialis memoria duobus perficitur: locis videlicet et imaginibus. Locos enim consideraverunt necessarios esse ad res seriatim pronunptiandas et diu memoriter tenendas, unde sanctus Thomas oportere inquit ut ea que quis memoriter vult tenere, illa ordinata consideratione disponat ut ex uno memorato facile ad aliud procedatur. Artistoteles etiam inquit in libro quem de memoria inscripsit: a locis reminiscimur. Necessarii sunt ergo loci ut in illis imagines adaptentur ut statim infra patebit. Sed imagines sumimus ad confirmandum intentiones, unde allegatus Thomas: oportet, ait, ut eorum quae vult homo memorari quasdam assumat similitudines convenientes.
Nachdem er kurz die ciceronianische und die thomistische Quelle angesprochen hat, beginnt Ragone, weitaus ausführlicher als die von ihm zitierten Autoren die Eigenschaften der "lokalen" Memoria zu behandeln.
/53 v./ Differunt vero loci ab imaginibus nisi in hoc quod loci sunt non anguli, ut existimant aliqui, sed imagines fixe super quibus, sicut supra carta, alie pinguntur imagines delebiles sicut littere: unde loci sunt sicut materia, imagines vero sicut forma. Differunt igitur sicut fixum et non fixum. Consumitur autem ars ista centum locis, quatenus expedit pro integritate ipsius. Sed, si tue libuerit celsitudini, poteris eodem alios sibi locos invenire faciliter per horum similitudinem. Sed oportet omnino non modo bona, verum etiam optima diligentia ac studio locos ipsos notare et firmiter menti habere, ita ut, mode recto et retrogrado ac iuxta quotationem numerorum, illos prompte recitare queas. Aliter autem frustra temptarentur omnia. Expedit igitur ut in locis servetur modus, ne sit inter illos distantia nimis brevis vel nimium remota sed moderata ut puta sex vel octo aut decem pedum vel circa iuxta magnitudinem camere; nec sit in illis nimia claritas vel obscuritas sed lux mediocris. Et est ratio quia nimium remota vel angusta, nimium clara vel obscura causant moram inquisitionem imaginative virtutis et ex consequenti memoriam retardant dispersione rerum que representande sunt aut earum nimia conculcatione, sicut oculus legentis tedio affligitur si littere sint valde distincte et male composite aut nimis conculcate. Loci vero quantitas non est adeo sumenda modica, ut numero videatur esse capax imaginis, quia violentiam abhorret cogitatio ut si velles pro loco sumere foramen ubi aranea suas contexit tellas et in illo velles equum collocare, non videretur modo aliquo posse /54 r./ equum capere. Sed ipsorum locorum quantitas sumenda est ut statim inferius distincte notatum invenies.
Die Orte sollen also immer so disponiert werden, daß sie eine leichte und schnelle Lektüre zulassen: ihr Abstand und ihre Größe werden auf der Basis von Beobachtungen psychologischer Natur festgesetzt. Aufgrund von Beobachtungen dieser Art und angesichts bestimmter Assoziationen zwischen den verschiedenen Inhalten des Gedächtnisses soll dann eine Auswahl des "Gebäudes" erfolgen, in dem die Orte (und folglich die Bilder) zu plazieren sind:
/54 r./ Oportet etiam ne loci sint in loco nimium usitato sicut sunt plateae et ecclesie, quoniam nimia consuetudo aut aliarum rerum representatio causant perturbationem et non claram imaginum representationem ostendunt sed confusam, quod summopere est cavendum, quia si in foro locum constitueres et in eo rei cuiuspiam simulacrum locares, cum de loco simulacroque velles recordari, additus, reddituts, meatusque frequens et crebra gentis nugatio conturbaret cogitationem tuam. Studebis ergo habere domum que rebus mobilibus libera sit et vacua omnino, et cave ne assumas cellas fratrum propter nimiam illarum similitudinem, nec hostia domorum pro locis qui cum nulla vel parva tibi sit differentia ideo confusio. Habeas ergo domum in qua sint intra cameras salas coquinas scalas viginti, et quanto in ipsis locis dissimilitudo maior, tanto utilior. Nec sint camere iste et reliquie excessive magne vel parve, et in earum qualibet facies quinque locos iuxta distantium dictam superius scilicet sex aut octo vel decem pedes. Et incipe taliter ut, a dextris semper ambulando vel a sinistris quocunque altero istorum modorum ex aptitudine domus tibi commodius fuerit, non oporteat te retrocedere. Sed, sicut in re domus procedit, ita continuentur loci tui per ordinem domus, ut sit facilior impressio ex ordine naturali.
Über die "materiellen" Eigenschaften der Orte (Größe, Helligkeit, Nicht-Uniformität) und über die Auswahl und Funktion der Bilder verbreitet sich mit dergleichen Minuziösität der anonyme Autor eines anderen handschriftlichen Werkes, das sehr wahrscheinlich aus der gleichen Zeit und dem gleichen kulturellen Ambiente stammt:
1 v./ De ordine locorum. Circa cognitionem et ordinem locorum debetis scire quod locus in memoria artificiali est sicut carta in scriptura, propterea quod scribitur in carta quando homo vult recordari et non mutatur carta. Ita loca debent esse immobilia, hoc est dicitur quod locus debet semel accipi et nunquam dimitti seu mutari sicut carta. Deinde super talia loca formande sunt imagines illarum rerum vel illorum nominum quorum vultis recordari sicut item scribuntur in carta quando homo recordari vult.
De forma locorum. Loca debent esse facta et ita formata quod non sint nimis parva nec nimis magna /42 r./ ut verbi gratia non debes accipere pro uno loco unam domum vel unam terram vel unam schalam, nec etiam, sicut dixi, nimis parvum locum scilicet unum lapidem parvum nec unam foramen vel aliud tale. Et ratio est ista: nam humanus intellectus non circa magnas res nec circa parvas colligitur et imago evanescit; sed debes accipere loca media scilicet terminum clarum et non nimis obscurum, nec enim debes accipere loca in illo loco nimis solitario, sicut in deserto vel in silva, nec in loco nimis usitato, sed in loco medio: scilicet non nimis usitato nec nimis deserto. Et nota quod predicta loca bene scire debes et ante et retro et ipsa adigere per quinarium numerum, videlicet de quinque in quinque. Et debes scire quod loca non debent esse dissimilia, ut puta domus sit primus locus, secundus locus sit porticus, tertium locus sit angulus, quartus locus sit pes schale, quintus locus sit summitas schale. Et nota quod per quintum vel decimum locum debes ponere unam manum auream aut unum imperatorem super quintum vel decimum locum; qui imperator sit bene atque imperaliter indutus, vel aliquid aliud mirabile vel deforme, ut possis melius recordari. Et haec sufficiant quantum ad formam locorum. Nunc autem videndum est de imaginibius per predicta loca ponendis.
De imaginibus. Est enim sciendum quod imagines sunt sicut scriptura et loca sicut carta. Unde notatur quod aut /42 v./ vis recordari propriorum nominum aut apellativorum aut grechorum aut illorum nominum quorum non intelligis significata aut ambasiatarum aut argumentorum aut de aliis occurentibus. Ponamus igitur primum quod ego vellim recordari nominum propriorum. Sic enim ponere debes imagines in proprio convenienti loco et ipso sic facto: cum vis recordari unius divitis qui nominatur Petrus, immediate ponas unum Petrum quem tu cognoscas qui sit tuus amicus vel inimicus vel cum quo habuisti aliquam familiaritatem, qui Petrus faciat aliquid ridiculum in illo loco, vel aliquid inusitatum, vel simile dicat... In secundo loco ponas unum Albertum quem tu cognoscas, ut supra licet per alios diversos modos, videlicet quod dictus Albertus velit facere aliquid inusitatum vel deforme scilicet suspendens se et ut supra. In tertio loco, si vis recordari istius nominis equi, ponas ibi unum equum album, magnum ultra mensuram aliorum, et qui percutiat quenpiam tuum amicum vel inimicum cum calcibus vel pedibus anterioribus, vel aliquid simile faciat ut supra...
Die Lektüre dieser Werke gibt eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie die ars memorativa "ciceronianischen" Ursprungs wirklich "funktionierte". Die Charakterisierung "ciceronianisch" hat ihren Sinn, da die Mnemotechnik der Lullisten und der Aristoteliker auf ganz andersartigen Verfahren beruht. Um die Kunst der Memoria zu realisieren, muß erst einmal eine Art von formaler Struktur zur Verfügung stehen, die, einmal stabilisiert, immer wieder angewandt werden kann, um irgendeine Reihe von Dingen oder Namen (res aut verba) in Erinnerung zu rufen. Diese formale oder fixierte und immer wieder verwendbare Struktur (als carta oder forma bezeichnet), wird auf willkürliche Weise konstruiert: man wählt eine Lokalität (Gebäude, Säulengang, Kirche etc.), die "eingebildet" oder schon tatsächlich bekannt sein kann, und bringt im Innern dieser Lokalität eine bestimmte Anzahl von Orten an. Der willkürliche oder konventionelle Charakter dieser Auswahl ist durch eine bestimmte Zahl von Regeln begrenzt, die sich beziehen auf: a) die Eigenarten der Lokalität und der Orte (Weite, Einsamkeit, Helligkeit usw.); b) die Art der Anordnung dieser Orte. Der größere oder kleinere Umfang der formalen Struktur bedingt die Anzahl der Inhalte, die in ihr untergebracht werden können: ein Komplex von hundert Orten kann als Struktur benutzt werden, um bis zu hundert Namen und Objekten in Erinnerung zu rufen (dem Problem der multiplicatio locorum oder der fortschreitenden Erweiterung der Struktur werden viele Diskussionen gewidmet).
Die so gewonnenen formale Struktur kann mit beliebigen und von Mal zu Mal veränderbaren geistigen Inhalten (imagines debilibes oder materia oder Schrift) "gefüllt" werden. Diese "Füllung" wird mit den Bildern vorgenommen, die auf möglichst nachhaltig beeindrukende Weise die Dinge oder Begriffe symbolisieren sollen, die zu erinnern sind. Auch hier wird die Willkürlichkeit in der Wahl der Bilder durch Regeln beschränkt, die jetzt die "Monstrosität" oder "Fremdheit" dieser Bilder und ihren die Inhalte unmittelbar evozierender Charakter betreffen. Die einzelnen Bilder werden schließlich in den einzelnen Orten "provisorisch" (d.h. im Hinblick auf die Erinnerung einer ganz bestimmten Serie von Namen oder Sachen) plaziert (collocare). Indem man im Geiste die so gewählte Lokalität oder so errichtete Struktur (auf halbautomatische Weise) wieder durchgeht, können über den Aufruf der Bilder und über die von ihnen ausgeübte Suggestion unmittelbar die Begriffe oder Dinge vergegenwärtigt werden, die zu der Reihe gehören, die erinnern werden sollte. Angesichts der fixierten Struktur der Orte erscheinen Begriffe und Dinge in ihrer ursprünglichen Anordnung wieder, und diese Ordnung kann nach Belieben umgekehrt werden.
Die Frage der dispositio locorum und der Formierung der Bilder nimmt in den von uns erwähnten Abhandlungen einen recht ansehnlichen Platz ein. Gerade diese Art von Kodifizierungen wird in dem größeren Teil der Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts besonders hervorgehoben . Der schließlich fast ausschließlich "technische" Charakter dieser Traktate erklärt ihre Uniformität. Die Autoren, die sich mit der Ars memorativa beschäftigen, sind keine Erfinder, sondern immer nur "Erklärer" der Kunst: sie beschränken sich darauf, eine Reihe von schon kodifizierten Regeln zu überliefern, suchen sie in einer besonders zugänglichen Form darzulegen und, wenn möglich, dabei zu irgendeiner Integration oder Verbesserung zu gelangen. Die Kunst muß, und sei es durch die Reduktion der Regeln auf ein formelhaftes Schema , leicht und vor allem schnell erlernbar sein. Dieser "technische" Charakter der Traktate muß gesehen werden, um ihre Ziele zu verstehen. Die "ciceronianische" Kunst der Memoria ist im fünfzehnten Jahrhundert frei von Zielen und Absichten spekulativen Charakters; sie ist ein für die verschiedensten Tätigkeiten nützliches Instrument. Das handschriftliche Traktätchen von Guardi (oder Girardi?) eximii doctoris artium et medicinae magistri will zum Beispiel lehren, wie man sich erinnert an: substantielle und akzidentielle Begriffe, zitierte Autoren (auctoritates), öffentliche Diskurse, den Inhalt von Briefen, Sammlungen und von Geschichtsbüchern, wissenschaftlich-philosophischen Argumentationen und Diskurse, Gedichte und Begriffe aus unbekannten Sprachen, Artikel des Gesetzbuches. Auf die Methoden, sich an Botschaften, Zeugenaussagen und Argumente zu erinnern, legen übrigens all die Werke Wert, die sich als eine Ausrichtung der Regeln der Mnemotechnik auf das Ziel eines Sieges in Disputen und Diskussionen präsentieren .
Durch ihre Ursprünge an die praktischen Intentionen der Ziele gebunden, präsentiert sich die ars memorativa also als ein Hilfsmittel für den, der in "öffentlicher" Tätigkeit engagiert ist. Der Congestorius artificiosae memoriae von Romberch, ein Werk, das im sechzehnten Jahrhundert europäische Verbreitung fand, wendet sich an Theologen, Prediger, Lehrer, Juristen, Mediziner, Richter, Anwälte, Notare, Philosophen, Professoren der freien Künste, Botschafter und Kaufleute.
5. Der "Phoenix" von Peter von Ravenna
Daß Werke dieser Art so brauchbar sein konnten, erscheint heute kaum mehr glaubhaft. Wenn wir jedoch einer zahlreichen Reihe von Zeugnissen Glauben schenken sollen, waren die Theoretiker der Mnemotechnik zu Resultaten von einiger Bedeutung gelangt. Der berühmte Pietro da Ravenna (Pietro Tommai), Autor einer kleinen Abhandlung über künstliche Memoria (Venedig 1491) mit allergrößter Resonanz und nicht ohne Einfluß auf Bruno, behauptete, über mehr als hunderttausend Orte zu verfügen, die er eingerichtet hatte, um jeden in der Kenntnis der heiligen Schrift und des Rechtswesen übertreffen zu können . "Wenn ich meine Heimat verlasse - schrieb er - um wie ein Pilger die Städte Italiens zu besuchen, kann ich wirklich sagen omnia mea mecum porto, und dennoch höre ich nicht auf, Orte für die Memoria zu bauen." Gegenüber seinem Lehrer in der Jurisprudenz Allessandro Tartagni von Imola sah sich unser Peter an der Universität von Pavia mit kaum zwanzig Jahren in der Lage, totum codicem iuris civilis auswendig zu zitieren, den Text und die Glossen, und Wort für Wort die Vorlesungen Allessandros zu wiederholen. Später hatte er in Padua das Kapitel der Regularkanoniker verblüfft, indem er auswendig Predigten rezitierte, die er ein einziges mal gehört hatte. Von seiner Fähigkeit schreibt er mehrfach in Worten, bei denen sich eine umsichtige Selbstpropaganda dem deutlichen Wunsch gesellt, Bewunderung im Geiste des Lesers zu erregen: "die Universität von Padua ist mein Zeuge: jeden Tag halte ich, ohne ein Buch zu benötigen, meine Vorlesungen in kanonischem Recht, und als ob ich die Büchern vor Augen hätte, erinnere ich mich auswendig an den Text und die Glossen und lasse nicht eine einzige Silbe aus, und sei sie noch so klein... Ich habe in neunzehn Buchstaben des Alphabets zwanzigtausend Stellen des kanonischen und des zivilen Rechts plaziert und in derselben Ordnung siebentausend Stellen aus den Heiligen Bücher, tausend Carmina von Ovid.. zweihundert Sentenzen von Cicero, dreitausend Sätze der Philosophen und den größeren Teil des Werks von Valerius Maximus..." .
Weniger verdächtig als die Zeugnisse dieses Parteigängers erscheinen die der Eleonora d'Aragona, welche die ganze Stadt von Ferrara aufrief, Zeugin des wunderbare Gedächtnis des Ravennaten zu sein, oder des Bonifacio del Monferrato, der ihn, nachdem er seine außerordentliche Fähigkeit festgestellt hatte, wärmstens den Königen, den Fürsten, den "prächtigen Hauptleuten" und dem italienischen Adel empfahl.
Der außerordentliche Ruhm, den diese ungewöhnliche Juristengestalt in Italien und in Europa genoß, war mehr als seinen nicht zu vernachlässigenden juristischen Kenntnissen der Tatsache zuzuschreiben, daß er sich als der lebendige Beweis für den Wert einer Ars präsentierte, der sich Vieler Hoffnungen und Bestrebungen zuwandten. Als Professor des Rechts in Bologna, Ferrara, Pavia, Postoia und Padua trug Pietro Tommai zweifelsohne dazu bei, in ganz Italien das Interesse an der ars memorativa zu verbreiten. Nachdem ihn Herzog Bogislav von Pommern und Friedrich von Sachsen dem Dogen Agostino Barbarigo streitig gemacht hatten, öffneten sich dem Peter um 1497 die Tore der Universität Wittenberg. Nachdem er eine Einladung des Königs von Dänemark abgewiesen hatte, ging er nach Köln und von da aus war er unter der Anklage eines wenig anständigen Benehmens (scholares itali non poterant vivere sine meretricibus) gezwungen, nach Italien zurückzukehren. Die Berühmtheit dieser Persönlichkeit sollte beträchtliche Konsequenzen haben: der Phoenix seu artificiosa memoria des Ravennaten wird auf die ganze folgende Produktion der Mnemotechnik einen außerordentlich großen Einfluß ausüben. Auf Pietro als herausragenden Meister berufen sich alle italienischen und deutschen Theoretiker des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Die Verbreitung seiner Schriften, die zum erstenmal in Venedig gedruckt, dann in Wien, Vicenza und in Köln wieder aufgelegt und (um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts) nach einer vorangehenden Ausgabe auf französisch ins Englische übersetzt wurden, beweist schon allein, daß zwischen dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des siebzehnten nicht nur italienische Kreise an der "memoria locale" interessiert waren .
Das Werkchen des von Ravenna ist nach den bekannten Mustern der "ciceronianischen" Tradition eingerichtet. Mehr als auf die Regeln zum Aufsuchen der Plätze richtet Pietro seine Aufmerksamkeit auf die von den Bildern ausgeübte Funktion. Um wirklich effektiv zu sein, müssen diese wie regelrechte "Aufputschmittel" wirken. "Gewöhnlich plaziere ich in die Orte ganz famos hübsche Mädchen ... und glaubt mir: wenn ich als Bilder sehr schöne Mädchen genommen habe, wiederhole ich leichter und geordneter die Begriffe, die ich den Orten anvertraut hatte. Da hast du nun ein äußerst nützliches Geheimnis für die künstliche Memoria, ein Geheimnis, das ich lange aus Scham verschwiegen habe: wenn du schnell zu erinnern wünschest, stelle in die Orte allerschönste Jungfrauen; die Memoria wird nämlich durch diese Kollokation von Mädchen ganz phantastisch angeturnt ... Diese Vorschrift wird jenen nichts nützen, die Frauen hassen und geringschätzen und diese werden mit größerer Schwierigkeit die Früchte der Kunst ernten. Mögen mir also die keuschen und frommen Männer verzeihen: ich hatte die Pflicht, eine Regel nicht zu verschweigen, die mir nicht nur in dieser Kunst Auszeichnungen und Ehrungen verschafft hat, sondern durch die ich auch mit allen meinen Kräften ausgezeichnete Nachfolger hinterlassen will.
6. Natur und Kunst
Werke wie die von Romberch und Pietro da Ravenna hatten, wie wir sagten, eminent "praktische" Ziele: sie richteten sich an Philosophen nur insoweit, als auch diese, ganz wie die Ärzte, Notare oder Juristen, in irdische Angelegenheiten verwickelt sind. Selbst in diesen Traktaten aber werden Themen (wie das der Bilder), die in enger Beziehungen zur Kultur der Renaissance stehen, und Fragen (zum Beispiel nach dem Verhältnis Kunst-Natur) angeschnitten, die auf einer viel spezifischer philosophischen Ebene weitläufig diskutiert worden waren und sein werden.
"Die lokale Memoria ist eine Kunst, durch die es uns gelingt, leicht und geordnet uns vieler Dinge zu erinnern, von denen es mit natürlichen Kräften es nicht möglich wäre, entweder ein so promptes oder so genaues Gedächtnis zu haben", wird in Urb.lat.1743 behauptet. Diesem Thema, dessen Stichworte schon in den Werken von Cicero und Quintilian gegeben worden waren, wird man sich von mehreren Seiten mit signifikanten Akzentuierungen wieder zuwenden. So stellt der anonyme Autor des in der Marciana aufbewahrten Ms.lat.272 die Ergebnisse der Kunst denen der Natur entgegen; dann vergleicht er die Kunst der Memoria mit anderen Entdekungen der Technik, fühlt das Bedürfnis, die Kunst unter den legendären Schutz des Demokrit zu stellen und präsentiert sich schließlich als Erklärer der außerordentlichen Schwierigkeiten und "Dunkelheiten", die in der Rhetorica ad Herennium enthalten sind:
/41 r./ Ars memoriae artificialis, pater reverende, est ea qualiter homo ad recordandum de pluribus pervenire possit per memoriam artificialem de quibus recordari non possit per memoriam naturalem. Debetis enim scire quod sic natura adiuvatur per artem adiunctam sicut sunt navigia ad mare transfretandum quia non potest transfretari per virtutem et viam naturae, sed solum per virtutem et viam artis; unde philosophi vocaverunt artem adiutricem natue. Sicut enim invenerunt homines diversas artes ad iuvandum diversis modis naturam, sic etiam videntes quod per naturam hominis memoria labilis est, conati sunt invenire artem aliquam ad iuvandum naturam seu memoriam ut homo per virtutem artis recordari possit multarum rerum quarum non poterat recordari aliter per memoriam naturalem et sic adinvenerunt scripturas et viderunt non posse recordari horum quae scripserant. Postea in successione temporum, videntes quod semper non poterant secum portare scripturas, nec semper parati erant ad scribendum, adinvenerunt subtiliorem artem ut sine quacumque scriptura multarum rerum reminisci valerent et hanc vocaverunt memoriam artificialem. Ars ista primum inventa fuit Athenis per Democritum eloquentissimum philosophum. Et licet diversi philosophi conati fuerint hanc arten declarare, tamen melius et subtilius declaravit suprascriptus philosophus Democritus huius artis /41 v./ adinventor. Tulius vero perfectissimus orator in cuius libro Rhetoricorum de hac arte tractavit licet obscuro et subtili modo in tantum quod nemo ipsum intellegere valuit nisi per divinam gratiam et doctorem qui doceret ipsam artem qualiter deberre pratichari.
7. Kunst der Memoria, Aristotelismus und Medizin
Auf eine unterschiedliche kulturelle Atmosphäre und auf Themen, die eher mit der "Psychologie" und "Philosophie" als mit der Rhetorik verbunden sind, berufen sich dagegen andere Schriften des späten fünfzehnten Jahrhunderts, in denen der Einfluß der aristotelischen und thomistischen Formulierungen viel stärker ist als jener der Tradition der ciceronianischen Rhetorik. Bei der Lektüre dieser Abhandlungen kann man in einigen Fällen den interessanten Versuch verfolgen, direkt aus den aristotelischen Werken einige Regeln der künstlichen Memoria zu gewinnen. Typisch in diesem Sinn ist das De nutrienda memoria, das 1476 in Neapel publiziert wurde, und in dem Domenico De Carpanis sich vornimmt, die von Aristoteles in De memoria et reminiscentia entwickelten Lehren "mit dem Salz des heiligen Doktor Thomas von Aquin abgeschmeckt" aufzutischen.
Der sensus communis erscheint De Carpanis ähnlich einem gigantischen Wald, in dem die von einem jeden der fünf Sinne hervorgerufenen Bilder akkumuliert werden. Über diesem chaos agiert der Intellekt mit einer dreifachen Operation: erstens nimmt er Kenntnis von den Bildern; zweitens verbindet er sie nach einer genauen Ordnung; drittens verkettet er, eins mit dem anderen, die ähnlichen Dinge und legt sie in archa memoriae ab. Wenn von diesen Dingen gesprochen werden soll, gibt der Intellekt "als ob er Speise aus einer Vorratskammer nimmt, die Worte durch die Zähne des wiederkäuenden Intellekts von sich." Die Memoria ihrerseits bewegt sich auf einer doppelten Ebene: auf jener der Sinne und jener des Intellekts. Die sensitive Memoria ist fest an den Körper gebunden und kann "nur die körperlichen Dinge" behalten; die intellektuale ist im Gegenteil "das Depot der ewigen Bilder {specie eterne}". Zu den Hauptlehren des Aristoteles zitiert der Autor fast immer Stellen aus dem elften Buch von De trinitate des Augustinus: zur aristotelischen Lehre vom körperlichen Charakter der Inhalte der sensitiven Memoria wird des Augustinus Stelle über das Gedächtnis der Schafe herangezogen, die sich von der Weide zu den Oliven wenden; die augustinische These von der Identität zwischen intellektualer Memoria und Wille wird zitiert, um den intellektualen Charakter eines der beiden Teile zu bekräftigen, in welche die Memoria unterteilt ist. Auch zeigt die Lehre von den Hilfsmitteln (adminicula) der Memoria näher besehen Nachwirkungen ihres thomistischen Ursprungs: Neben die Ordnung und die Wiederholung setzt De Carpanis die similitudo und die contrarietas. Ohne auf die Kunst der "lokalen" Memoria zurückzugreifen, gelingt es dem Autor auf diese Weise, einige Regeln festzusetzen, die eher der aristotelischen Psychologie als Cicero entnommen sind.
Ein weiterer Versuch dieser Art findet sich in dem 1481 in Bologna veröffentlichten De omnibus ingeniis augendae memoriae des bergamaskonischen Arztes, Geschichtsschreibers und Dichters Giammichele Alberto da Carrara. Auch hier werden die Beobachtungen von Aristoteles über die Ordnung, über das Fortschreiten vom Ähnlichen zum Ähnlichen und über die contrarietas umstandslos als "Regeln" der ars memorativa interpretiert . Aber außer durch diesen Anschluß an Aristoteles und durch den Vorschlag eines speziellen Typus von "memoria locale", der auf der Einteilung des Körpers der Tiere in fünf Teile gründet, ist dieses Werk von Carrara auch wichtig, weil es die enge Verbindung zeigt, die sich innerhalb der aristotelischen Tradition zwischen der Kunst der Memoria und der Medizin etabliert. Unter Berufung auf Galen und Avicenna macht sich Carrara ersteinmal an das Problem einer Lokalisation der Memoria heran; dann geht er dazu über, die Hauptkrankheiten zu diskutieren, die den Gebrauch der Memoria behindern; dann beschäftigen ihn eine Reihe von Regeln für den Gebrauch von Speisen und Getränken und für Schlaf und Bewegung, und schließlich gelangt er zur Formulierung einer regelrechten Rezeptsammlung. Auf die Idee einer Therapeutik der Memoria, wie sie schon im Regimen aphoristicum von Arnaldo da Villanova vorlag und in der mittelalterlichen Medizin verbreitet war, war neben Carrara auch Matteolo da Perugia gekommen, der im gleichen Jahr ein Werkchen über mnemonische Medizin veröffentlichte. In beiden Werken wird häufig Avicenna zitiert: die von Carrara verfochtene These, daß die Feuchtigkeit ein Hindernis für das Gedächtnis sei, ist zum Beispiel schon in den Werken des arabischen Arztes ausgesprochen, aber die Abhandlung von Carrara erscheint im Unterschied zu der des Matteolo und den anderen hier schon untersuchten auf umfassendster Lektüre gegründet. Außer den schon bekannten Klassikern der Memoria erscheinen hier die Namen von Galenus, Boetius, Hugo von St.Viktor, Johannes Scotus und Avveroës.
8. Die Konstruktion der Bilder
Über diesen Kontakt mit der Tradition der Medizin und mit einigen Lehrsätzen des Aristotelismus nähert sich also die Traktatliteratur zur ars memoriae des späten fünfzehnten Jahrhunderts Themen oder Problemen an, die nicht nur von bloß "technischem" oder "rhetorischem" Interesse sind. Wenn sich in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die Begegnung zwischen der großen Tradition des Lullismus und der ars reminiscendi rhetorischer Herkunft ereignet, werden gerade die strikt technischen Abhandlungen der "Ciceronianer" eine wesentliche Funktion übernehmen. Diese Kunst der Orte und Bilder war trotz ihrer anscheinenden Neutralität und Zeitlosigkeit durch eine Vielzahl von Beziehungen mit der Kultur der Renaissance verbunden. Nur so läßt sich erklären, warum häufig so trockene und fast immer inoffensiv spekulative Texte eine so bemerkenswerte Faszination auf die Geister von Agrippa und Bruno ausüben konnten. Wer über die Bedeutung der Zeichen, der Impresen und der Allegorien in der Renaissancekultur nachdenkt, wer sich die Werke Ficinos über die "Symbole und die poetischen Figurationen voll verborgener göttlicher Geheimnisse" vergegenwärtigt und die Bedeutung der Vorliebe für Allegorien und "symbolische Formen" in den Schriften von Landino, Valla, Pico, Poliziano (und später von Bruno) wahrnimmt, kann nicht umhin, die Resonanz hervorzuheben, welche die Kunst der Memoria als Konstrukteurin von Bildern in einem Zeitalter haben mußte, das Ideen in sensiblen Formen zu verkörpern liebte, das sich daran ergötzte, Fieber und Schicksal als allegorische Figuren auf das Niveau von intellektuellen Diskussionen zu heben, das in Hieroglyphen ein Mittel sah, die Wahrheit dem Pöbel unentzifferbar zu machen, das "Alphabete" und Ikonologien liebte und das Wahrheit und wahre Wirklichkeit als etwas ansah, das sich zunehmend durch Zeichen, "Fabeln" und Bilder offenbaren wird.
In einem charakteristischen und zu Recht berühmten Werk sprach Alcati von "der Kunst, Symbole zu erfinden und zu ersinnen", um dabei ausführlich die Unterschiede zwischen schemata, imagines und symbola zu erörtern. Achtzig Jahre später präsentierte der Perugianer Cesare Ripa in einem ebenso erfolgreichen Buch eine "Beschreibung von Bildern der menschlichen Tugenden, Laster, Affekte, Leidenschaften, der Himmelskörper und der Welt und ihrer Teile" mit der Ankündigung, daß seine Schrift (die wirklich "der Schlüssel zum Allegorismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist") dazu dienen sollte, "all das in typischen Symbolen zu versinnlichen, was dem menschlichen Denken einfallen kann" . Unter dem Stichwort memoria finden wir die Darstellung "einer in schwarz gekleideten Frau mit zwei Gesichtern, die in der rechten Hand eine Feder und in der linken ein Buch trägt": die zwei Gesichter sollen bedeuten, daß die Memoria "alle vergangenen Dinge zur Orientierung der Prudentia in den zukünftigen umfaßt"; das Buch und die Feder als Symbole der häufigen Lektüre und der Schrift "zeigen, daß die Memoria sich, wie man zu sagen pflegt, mit dem Gebrauch vervollkommnet." In einem in den letzten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts verfaßten Handbuch der Ikonologie finden wir einerseits die antike Vorstellung von der Übung und der Schrift als Hilfsmittel der Memoria wieder (zwei Jahrhunderte später wird Hume vom "Fleiß" und der "Schrift" sprechen) und andererseits das Echo der Diskussionen über die Memoria und die "Klugheit", die Albertus Magnus und Thomas beschäftigt hatten. Aber gerade die Idee einer sensiblen Repräsentation der "Dinge" und "Begriffe" und einer "Personifikation" der Vorstellungen, an der Ripa (und viele andere mit ihm) sich inspirierten, hatte zweifelsohne ziemlich feste Verbindungen mit jenem Teil der Mnemotechnik, der die Konstruktion der Bilder zum Ziel hatte.
Gerade im Innersten der mehr orthodoxen Tradition der ciceronianischen ars memorativa fehlt es nicht an Zeichen einer besonderen Sensibilität für die Probleme der Bilder. Viele Abschnitte der Oratoriae artis epitoma (Venedig 1482) von Iacobo Publico zeigen, daß zwischen diesen Bildern und denen der Ikonologien eine reale Verbindung bestand. Die intentiones simplices und die "spirituellen" Intentionen verflüchtigen sich, behauptete Publicio, schnell aus der Memoria, wenn sie von keiner körperlichen Ähnlichkeit unterstützt werden. Die Bilder haben nun genau die Aufgabe, durch die erstaunliche Geste, die grausame Miene, das Erstaunen, die Traurigkeit oder die Strenge, Ideen, Ausdrücke und Begriffe in der Erinnerung zu fixieren. Die Traurigkeit und die Einsamkeit sollen das Symbol des Alters sein, die fröhliche Sorglosigkeit das der Jugend, die Gefräßigkeit wird durch den Wolf ausgedrückt, die Furchtsamkeit durch den Hasen, die Waage soll das Symbol der Gerechtigkeit sein, die herkuleische Keule das der Stärke, das Astrolabium das der Astrologie. Aber vor allem soll man bei der Konstruktion der Bilder die Werke von Dichtern wie Virgil und Ovid benutzen. Ihre Versinnbildlichungen des Ruhms, des Neids und des Schlafs können hervorragend bei der collocatio in locis seltener und vortrefflicher Bilder eingesetzt werden.
Symbole und Bilder als Erinnerungsinstrumente: auch als die Idee einer "Plazierung oder Kollokation der Bilder in den Orten" aufgegeben wird, verliert die Vorstellung von den Symbolen und Bildern als Stützen der Memoria nicht ihre Kraft. Die 1697 von Francesco Bianchini veröffentlichte Istoria universale provata con monumenti e figurata con simboli degli antichi sollte "die Festigkeit des Ordnens und Behaltens mit der Leichtigkeit des Lernens und Begreifens verbinden"; das "Bild auf dem Titelblatt" der Scienza Nuova von Giambattista Vico sollte dem Leser helfen, "die Idee dieses Werkes schon vor der Lektüre zu begreifen, um sie leichter dem Gedächtnis einzuprägen".
Für Vico wie für Hobbes war das Gedächtnis die "Mutter der Musen". In einer Distinktion von Hobbes finden wir ein geläufiges Thema wieder: "Bei dieser Auflösung {diluzione} der Sinneswahrnehmung {im Medium ihrer Übertragung zum sensus communis?} nennen wir Imagination die Sache selbst, nämlich das Phantasma; wenn wir jedoch die Auflösung selbst bezeichnen wollen, nennen wir sie memoria: so daß Imagination und Memoria diegleiche Sache sind, bezeichnet durch unterschiedliche Namen nach der unterschiedlichen Art, sie zu betrachten."
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