ZWEITES KAPITEL
Enzyklopädismus und Kombinatorik im
sechzehnten Jahrhundert

1. Die Wiedergeburt des Lullismus
Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts treten in dem kulturellen Bereich, der hier von Interesse ist, zwei wichtige Phänomene auf. Das erste ist die Verbreitung jener Kunst der lokalen Memoria in England, Deutschland und Frankreich, die am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ihre einheitlichste und vollständigste Behandlung im Werk des Peter von Ravenna gefunden hatte. Das zweite ist der zunehmend engere Kontakt zwischen dieser Tradition, die auf Cicero, Quintilian, auf die Rhetorica ad Herennium und auf Thomas zurückgeht, und der kombinatorischen Logik, die sich auf die Werke von Raimundus Lullus beruft. Zwischen der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts und der des sechzehnten tragen Cusanus, Bessarion, Pico, Lefèvre d'Etaples, Bovillus sowie Lavinheta, Agrippa und Bruno dazu bei, die Werke von Lullus, das Interesse an der ars magna, und die Leidenschaft für die Kombinatorik in der europäischen Kultur zu verbreiten. Die Bedeutung ihres Engagements für eine Thematik, die einer post-cartesianischen und post-galileischen Mentalität ganz und gar fern liegt, ist sowohl den Interpreten entgangen, die in der ars magna eine Art "prähistorischer" Summe der symbolischen Logik gesehen haben, wie auch denen, die es vorgezogen haben, mit billiger Ironie die "Seltsamkeiten" vieler der bedeutendsten Exponenten dieser nicht zu vernachlässigen Periode der abendländischen Kultur abzutun.
Das Interesse an der Kabbala und an den hieroglyphischen Schriften, an den artifiziellen und universalen Schriften, an der Entdeckung der ersten konstitutiven Prinzipien allen möglichen Wissens; die Kunst der Memoria und der kontinuierliche Verweis auf eine als "Schlüssel" zur Erschließung der Geheimnisse der Wirklichkeit verstandene Logik: alle diese Themen sind mit der Wiedergeburt des Lullismus in der Renaissance verbunden und bilden für den, der sich direkt mit den Texten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts von Agrippa bis Fludd und von Gassendi bis Henry More beschäftigt, eine Art unentwirrbares Durcheinander, aus dem man sich nicht befreien darf, indem man auf eine mysteriöse Entität namens "Platonismus" zurückgreift.
In Wirklichkeit haben viele der Themen, welche dieses Durcheinander bilden, eine nicht geringe und nicht zu vernachlässigende Ausstrahlung auch auf eine Reihe von Problemen, die traditionellerweise der Zuständigkeit der Philosophie und der Wissenschaft zugerechnet werden: die baconianische und viconische Theorie der Zeichen, der Bilder und der Sprache; die baconianische und cartesianische Diskussion über den Baum der Wissenschaften und über die Fakultäten {geistige Vermögen}; die Auseinandersetzungen um die Bedeutung der Dialektik und um ihre Beziehungen zur Rhetorik sowie um die Topiken und die Problemen der Methode; schließlich die Erörterungen über natürliche Philosophie, welche die logische Struktur der materiellen Realität, das Alphabet der Natur oder die von der Gottheit dem Kosmos eingeprägten Charaktere beschwören.
Es wird hier nicht der Anspruch gestellt, diesen Problemen auf den Grund zu gehen: dennoch dürfte es einem besserem Verständnis einiger der gerade angeschnittenen Fragen dienlich sein, eine Untersuchung der Verbreitung des Lullismus im sechzehnten Jahrhundert und seiner Beziehungen zu der schon blühenden Tradition der Kunst der Memoria vorzunehmen.
2. Agrippa und die Eigenschaften der Ars magna
In den ersten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts zeichnete Cornelius Agrippa in einem Widmungsschreiben, das er seinem Kommentar der Ars brevis von Raimundus Lullus vorangestellt hatte, ein Bild der Verbreitung des Lullismus in der europäischen Kultur: Pedro Daguí und sein Schüler Janer sind sehr bekannt und gefeiert in Italien; die Lehre des Fernando de Cordoba hat weiteste Resonanz an den europäischen Universitäten gefunden; Lefèvre d'Etaples und Bovillus sind in Paris dem Lullus allerergebenst gewesen; schließlich haben die Brüder Cantiero nicht allein in Frankreich und Deutschland, sondern auch in Italien die wunderbaren Möglichkeiten der Kunst gezeigt. Während er sich auf die großen Meister des Lullismus berief, machte Agrippa auch die Reichweite und die Bedeutung der lullianischen Kombinatorik sowie die Gründe für ihre Überlegenheit und ihre Wirksamkeit deutlich: die Kunst - bekräftigte er - hat nichts "Vulgäres"; sie hat es nur mit gehobeneren Gegenständen zu tun und erweist sich gerade deswegen als die Königin aller Künste und als leichte und sichere Führerin zu allen Wissenschaften und allen Doktrinen. Die ars inventiva wird durch Allgemeinheit und durch Gewißheit ausgezeichnet; allein durch ihre Hilfe, unabhängig von jedem anderen vorangenommenem Wissen, können die Menschen dazu gelangen, jede Möglichkeit von Irrtum auszuschließen und "Wissen und Wahrheit in allem Wißbaren" erreichen. Die "Argumente" der Kunst sind unfehlbar und unwiderlegbar; alle partikularen Diskurse und Prinzipien der einzelnen Wissenschaften finden in ihr ihre Universalität und ihr Licht; schließlich hat die Kunst, gerade weil sie in sich alle Wissenschaft enthält und versammelt, die Aufgabe, entsprechend der Wahrheit alles Wissen zu ordnen.
Auch wenn Agrippa viele Jahre später einen wüsten Ausfall gegen die lullianische Technik schreiben wird, hob er doch in seinem Vorwort zwei der grundlegenden Eigenarten hervor, mit denen sich die lullianische Kunst in der Kultur der Renaissance präsentiert. In erster Linie erscheint sie als eine allergenerellste und universale Wissenschaft, die sich auf sichere Prinzipien und unfehlbare Beweise beruft und die Bestimmung eines absoluten Wahrheitskriterums erlaubt. In zweiter Linie kann die Kunst, gerade weil sie sich zur Wissenschaft der Wissenschaften erklärt, das Prinzip für eine genaue und rationale Ordnung alles Wißbaren liefern, dessen verschiedene Aspekte alle durch sukzessive Subsumptionen des Besonderen unter das Allgemeine von der Kunst umfaßt und bewahrheitet werden.
Der junge Agrippa hatte nichts anderes getan, als klar und lebendig weitverbreitete Vorstellungen darzustellen. Er war nicht der einzige gewesen, der die "inventive" Wirksamkeit der Kunst und ihre "enzyklopädische Zielsetzung" betont hatte. Die Vorstellung einer Logik, die Schlüssel der universalen Wirklichkeit sein sollte und Diskurs nicht von Diskursen, sondern von den Artikulationen der wirklichen Welt, verbindet sich in den Werken von Lullus und in denen des Lullismus tatsächlich eng mit Aspirationen auf eine Ordnung aller Wissenschaften und aller Begriffe, die der Ordnung des Kosmos selbst korrespondieren soll. Zu Recht hat man in dieser Hinsicht von einer "logisch-enzyklopädischen Richtung" des lullianischen Denkens sprechen können. Diese steht als zentrales und beherrschendes Motiv neben der "mystischen" und der "polemisch-rationalistischen" Richtung. Das Erlernen der Regeln der Kunst und die geordnete Klassifikation der Begriffe setzen die Konstruktion eines mnemonischen Systems voraus. Dieses erweist sich als integraler Bestandteil der enzyklopädischen Logik. Um hier Klarheit zu schaffen, sollen kurz einige grundlegende Aspekte der mit dem Lullismus verbundenen Problematik nachgezeichnet werden, wobei wir uns sowohl auf die Werke von Lull als auch auf die der lullianischen Tradition beziehen.
3. Kunst, Logik und Kosmologie in der lullianischen Tradition
In den Werken von Lullus präsentiert sich die Kunst als eine "Logik", die auch und gleichzeitig "Metaphysik" ist ("ista ars est et logica et metaphysica") und die sich dennoch von der einen wie der anderen sowohl "in der Art der Betrachtung ihrer Gegenstände" als auch "in Bezug auf die Prinzipien" unterscheidet. Während die Metaphysik die Dinge außerhalb der Seele "im Hinblick auf ihr Sein" betrachtet, und die Logik sie nach dem Sein betrachtet, das sie in der Seele haben, betrachtet die Kunst hingegen als oberste unter allen Wissenschaften die Dinge nach der einen und der anderen Art. Im Unterschied zur Logik, die von den sekundären Intentionen handelt, handelt die Ars von den ersten: während die Logik "scientia instabilis sive labilis" ist, ist die Ars "permanens et stabilis"; ihr ist die Entdeckung der "vera lex" möglich, die der Logik hingegen verschlossen ist. Wenn man sich einen Monat lang in der Ars übt, wird man nicht nur die allen Wissenschaften gemeinsamen Prinzipien aufspüren können, sondern auch zu besseren Ergebnissen gelangen als jemand, der sich ein ganzes Jahr lang dem Studium der Logik widmete. Als geeignete Voraussetzungen zum Erlangen der Kunst erscheinen in dieser Hinsicht die Kenntnis der traditionellen Logik und der natürlichen Dinge:
Ein Mensch der über besten Intellekt und größte Sorgfalt verfügt und die Logik und die natürlichen Dinge kennt, wird diese Wissenschaft in zwei Monaten lernen können: einen Monat für die Theorie, einen für die Praxis.
Die lullianische Kunst zeigt sich also fest mit der Kenntnis der Dinge verbunden, welche die Welt bilden. Im Unterschied zu der sogenannten formalen Logik hat sie etwas mit den Dingen zu tun und nicht allein mit den Worten und ist auf die Struktur der Welt gerichtet und nicht allein auf die der Diskurse. Eine exemplaristische Metaphysik oder ein universeller Symbolismus bildet die Wurzel einer Technik, die beansprucht, zusammen und gleichzeitig von Logik und Metaphysik reden zu können und sowohl die Regeln auszusprechen, die den Diskursen zugrunde liegen, wie auch die, nach denen die Wirklichkeit strukturiert ist. Aber die Zerlegung der zusammengesetzten Begriffe in einfache und irreduzible; der Gebrauch von Buchstaben und Symbolen, um die einfachen Begriffe zu bezeichnen; die Mechanisierung der Kombinationen unter den Begriffen mittels beweglicher Figuren; die Idee einer künstlichen und vollkommenen (der gewöhnlichen und der der einzelnen Wissenschaften überlegenen) Sprache; die Identifikation der Kunst mit einer Art von Begriffsmechanismus, der, einmal konstruiert, absolut unabhängig vom Subjekt funktioniert: diese Merkmale der ars combinatoria haben bewirkt, daß hervorragende Historiker von Bäumker bis zu Gilson die Kombinatorik - nicht zu unrecht - in die Nähe der modernen Logik gestellt haben. Im Unterschied jedoch zu anderen weniger kompetenten Historikern haben Bäumker und Gilson deutlich das Gewicht berücksichtigt, das jener von uns erwähnte Exemplarismus und Symbolismus für das lullianische Denken hatte. Gott und die göttlichen Dignitäten {Attribute/Aspekte} erscheinen Lullus als die Archetypen der Wirklichkeit, und das ganze Universum konfiguriert sich als ein gigantisches Ensemble aus Symbolen, die über die Erscheinungen hinaus auf die Struktur des Göttlichen Wesens verweisen: "die Ähnlichkeiten {mit} der göttlichen Natur sind aller Kreatur eingeprägt entsprechend den rezeptiven Möglichkeiten dieser Kreatur, und dies gemäß dem Mehr und dem Weniger, je nachdem sie sich mehr der höheren Stufe annähern, auf der sich der Mensch befindet, so daß jede Kreatur gemäß dem Mehr und dem Weniger in sich das Zeichen ihres Schöpfers trägt."
So sind auch die Bäume, die im Arbre de Sciencia erörtert werden, durchaus kein Beispiel formaler Klassifikation des Wissens: sie verweisen durch einen komplizierten Symbolismus hindurch auf die tiefe Realität der Dinge, jene Realität, die zu enthüllen gerade dem Philosophen zukommt, indem er die "Signifikate" der verschiedenen Teile der Bäume bestimmt. Die achtzehn Radikale der ersten Bäume, die reale Welt der Kreaturen repräsentieren, korrespondieren den Prinzipien der Kunst. So daß, wie zu recht festgestellt worden ist, die Wurzeln oder Realfundamente der Dinge, die Prinzipien der Kunst, und die göttlichen Dignitäten in der lullianischen Terminologie als absolut austauschbare Begriffe erscheinen.
Die äußerst engen Verbindungen zwischen der Kunst und der Theorie der Elemente sind sehr eindringlich in einer ausführlichen Arbeit von F.A. Yates erhellt worden. Die traditionelle "logische Annäherung" an die lullianische Doktrin (von dem Typ, wie er sich in der Abhandlung von Prantl zeigt) hat sich für Yates als beschränkt und ungenügend erwiesen. Ein genaues Studium des unveröffentlichten Tractatus novus de astronomia von 1297 hat nicht nur die Bedeutung der Anwendung der Regeln der Kunst auf die Astrologie erhellt, sondern hat auch deutlich gemacht, daß in den verschiedenen Werken von Lullus die neun göttlichen Prinzipien (deren "Influenzen" im Tractatus de astronomia mit denen der Zeichen des Zodiak und der Planeten identifiziert worden waren) die Grundlage der universalen Anwendbarkeit der Kunst auf das Studium der Medizin, des Rechts, der Astrologie, der Theologie und, wie es im Liber de lumine geschieht, auf das Licht bilden.
Auf der Grundlage des lullianischen Exemplarismus konnte sie {Yates} zu einer Art von Identifikation der Kunst mit einer Kosmologie gelangen. Das wird unter anderem an einem der frühesten Texte des europäischen Lullismus nachgewiesen. Thomas le Myésier, Autor des um 1325 in Arras verfaßten Electorium Remundi (Par.Nat.Lat.15450), war ein persönlicher Freund und begeisterter Schüler von Lullus. In einer Art großer Kompilation will er die wesentlichen Züge der Lehre des Meisters darlegen. Der Ars kommt eine ganz bestimmte Funktion zu: die Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber den Averroisten und die Rückführung aller Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit und der göttlichen Mysterien. Gerade im expositiven oder einleitenden Teil zeigen sich die Verbindungen von Kunst und Kosmologie: der Kreis des Universums, dessen graphische Darstellung vom Autor genau beschrieben wird, umfaßt die angelische Sphäre, um die herum das Primum Mobile, das Empyreum, das Kristallinum, die Sphäre der Fixsterne und die sieben Sphären der Planeten kreisen. Die Erde, auf der ein Baum, ein Tier und ein Mensch abgebildet sind, wird von den Sphären des Wasser, der Luft und des Feuers umgeben . Jedem der neun Segmente, in die der Kreis der Universums eingeteilt ist, korrespondiert einer der neun Buchstaben des lullianischen Alphabets (BCDEFGHIK) in seiner doppelten Bedeutung als absolutes und relatives Prädikat, während entsprechend den Lehren von Lullus einige der Bedeutungen der Buchstaben in Korrespondenz zu den verschiedenen Sphären wechseln.
Das Electorium von le Myésier blieb kein Einzelfall: die Gegenwart der Interessen kosmologischer Art in jener umfangreichen lullistischen Literatur, die sich in ganz Europa bis zur ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts verbreitet, ist umfassend dokumentierbar. Der Begeisterung oder zumindest der Sympathie für den Lullismus entspricht in vielen Werken die Vorstellung einer notwendigen Beziehung zwischen der Konstruktion einer ununterschiedlich auf alle Zweige des Wissens anwendbaren Kunst und dem Entwurf eines hierarchischen und unitären Bildes des Universums. Gerade den Exemplarismus und die göttlichen Dignitäten als erste Fundamente der Kunst betont der erste große europäische Philosoph, der sich innerhalb des Horizonts des Lullismus bewegt. "Dies - schrieb Cusanus - ist das primum fundamentum der Kunst: alle Dinge, die Gott schuf und machte, wurden geschaffen und gemacht in Ähnlichkeit mit seinen Dignitäten." Die Prinzipien der ars combinatoria (bonitas, magnitudo, aeternitas, potestas, sapientia, voluntas, virtus, veritas, gloria) erscheinen auch hier als prinicipia essendi et cognoscendi. Die exemplaristische Metaphysik bildet die Garantie der Unfehlbarkeit einer Logik nicht der Diskurse, sondern der Realität. Während er implizit gegen Gerson polemisierte und eine terminologische Reform der lullianischen Kunst vorschlug, bewies Cusanus in einer seiner Postillen zur Ars Magna, daß er die Lehre des Lullus in ihrer Substanz akzeptierte:
Die Namen der obengenannten Prinzipien sind ungewohnt für die Philosophen und dennoch bedeuten sie gemäß der Vorstellung des Erfinders dieser Kunst Wahres. Deshalb, angenommen daß sich in der Realität auf Grund unserer Affirmation oder Negation nichts ändert... und all das, was wahr ist, in Übereinstimmung ist mit der Wahrheit...wird die obengenannte Kunst nicht abgelehnt {wie es Gerson will} wegen der Unpassendheit ihrer Begriffe. Vielmehr wird sie, damit Leistungen erreicht werden können, die anderen Wissenschaften entsprechen, mit deren Begriffen in Übereinstimmung gebracht.
Noch enger mit den "exemplaristischen" Einschüssen des Lullismus ist auf der anderen Seite die cusanische Lehre von dem Auf- und Abstieg des Intellekts verbunden, nach der es möglich ist, sich sowohl zur Erkenntnis Gottes zu erheben, indem man von der Ähnlichkeit mit den göttlichen Vollkommenheiten ausgeht, die den Kreaturen eingeprägt ist, wie auch abzusteigen von der Erkenntnis des göttlichen Wesens und seiner Attribute zur Erkenntnis der Wirklichkeit, die der Spiegel jener Vollkommenheit ist.
In dem 1304 von Lullus in Montpellier verfaßte Liber de ascensu et descensu intellectus war weitläufig das später von Cusanus wiederaufgenommene Thema einer Erkenntnis entfaltet worden, die - durch das Aufsuchen der Analogien und Zeichen - zu einer Rekonstruktion des göttlichen Modells voranschreitet, das die Konstruktion der wirklichen Welt bestimmt hatte. Durch die Beschreibung der komplizierten Leiter der Wesen hindurch, vom Stein zur Planze zum Tier zum Menschen zum Himmel zum Engel zu Gott, war dieses Thema allmählich mit dem wohlbekannten anderen einer minutiösen und "enzyklopädischen" Rekonstruktion der Hierarchien des Kosmos eins geworden. Denselben "kosmologischen" Einschuß finden wir in dem Liber creaturarum des Raimundo Sibonda (Sabunde, Sebond), das Cusanus, Lefèvre d'Etaples, Bovillus und Montaigne beeinflussen wird, und das in eben den Jahren verfaßt wurde (zwischen 1434 und 1436), die Cusanus als begeisterten Leser und Kopist der Werke von Lullus sahen. Auch hier finden wir neben der Lehre des Auf- und Abstiegs und neben der Behauptung einer Kunst, die als "Wurzel, Ursprung und Fundament aller Wissenschaften" konzipiert ist, und deren Besitz in kürzester Zeit mit wunderbaren Resultaten erreichbar ist ("man erlernt in einem Monat mit dieser Wissenschaft mehr als wenn man hundert Jahre die doctores studiert"), das Bild einer natürlichen Stufenleiter, deren verschiedene Sprossen im Gedächtnis behalten und mittels Figuren dargestellt werden:
dies ist die erste, radikale und fundamentale Prämisse dieser Wissenschaft: diese Stufen an sich selbst zu betrachten und sie sich einzupflanzen und einzuwurzeln im Geist, und Figuren zu konstruieren, so wie es wirklich in der Natur geschieht.
Die geordnete Abfolge der Stufen bietet uns hier ein hierarchisches und organisches Bild des Universums: der erste Grad umfaßt die Dinge, die sind, aber weder leben noch empfinden noch verstehen (Mineralien und Metalle, Himmel und Himmelskörper, künstliche Gegenstände); der zweite das, was lebt, aber der Empfindung und des Verstehens beraubt ist (die Pflanzen); der dritte die Tiere die lebendig sind und empfinden; auf dem vierten schließlich, auf dem der Mensch residiert, sind das Sein, das Leben, das Empfinden und das Verstehen anwesend. Als Mikrokosmos faßt der Mensch in sich die Eigenschaften des Universums zusammen und ist das lebendige Ebenbild Gottes.
4. Der Arbor Scientiae und die Enzyklopädisten des sechzehnten Jahrhunderts
In dem um 1295 in Rom verfaßten Arbre de Sciencia wurde die Verwendung der "Bäume" als ein Mittel vorgestellt, um die Kunst "populärer" und leichter erlernbar zu machen; die Enzyklopädie zeigte sich als integraler Teil der großen von Lullus projektierten Reform des Wissens. Zugrunde liegt der Enzyklopädie, die sich in sechzehn Bäume gliederte, die Vorstellung von der Einheit des Wissens, die mit der Einheit des Kosmos zusammenfällt. Eine suggestive Illustration des ambrosianischen Manuskriptes, die in der katalanische Version des Werkes von Lull enthalten ist, zeigt den Philosophen und einen Mönch am Fuß des Baumes der Wissenschaften. An den Mönch, dessen Gestalt neben der des Lullus in allen Illustrationen der verschiedenen Bäume wiederkehrt, hatte sich Lull um Trost gewandt, nachdem sein missionarischer Plan zur Verbreitung der Kunst kalte Aufnahme bei Bonifaz VIII gefunden hatte. Dieser Mönch hatte (wie Lull im Prolog erzählt) ihm geraten, die große Kunst in einer neuen Form zu präsentieren. Die achtzehn Wurzeln des Baumes der Wissenschaften werden von neun transzendenten Prinzipien (oder göttlichen Dignitäten) und neun relativen Prinzipien der Kunst gebildet (differentia, concordantia, contrarietas; principium, medium, finis; maioritas, aequalitas, minoritas). Der Baum unterteilt sich in sechzehn Zweige, deren jeder einem der Bäume entspricht, die den Wald der Wissenschaft bilden: der arbor elementaris, der arbor vegetalis (Botanik und Anwendungen der Botanik für die Medizin), sensualis (sensible und empfindende und animalische Wesen), imaginalis (jene mentalen Entitäten, die similitudines der im vorangehenden Baum behandelten realen Wesen sind) humanalis, moralis (Ethik, Lehre der Laster und Tugenden), imperialis (verbunden mit dem arbor moralis, bezieht er sich auf das regimen principis und auf die Politik) apostolicalis (Kirchenregiment und -hierarchie), celestalis (Astronomie und Astrologie), angelicalis (die Engel und die englischen Helfer), eviternalis (Unsterblichkeit, überirdische Welt, Hölle und Paradies), maternalis (Mariologie), christianalis (Christologie), sowie divinalis (Theologie, göttliche Attribute, Substanzen und Personen Gottes, göttliche Vollkommenheiten und Werke). Der arbor exemplificalis (in dem allegorisch die Inhalte der vorangehenden Bäume ausgestellt werden) und der arbor questionalis (in dem viertausend Fragen bezüglich der vorangehenden Bäume vorgeschlagen werden) bieten sich als "Hilfsbäume" für das corpus der Enzyklopädie an.
Die Einheit des Wissens wird durch die Tatsache garantiert, daß die absoluten und die relativen Prinzipien der Kunst die gemeinsamen Wurzeln der wirklichen und der kulturellen Welt sind. Auf diesen Wurzeln (symbolisiert durch die neun Buchstaben des lullischen Alphabets) gründen sich nämlich sowohl der arbor elementalis, dessen Zweige die vier einfachen Elemente der Physik andeuten, dessen Blätter die Akzidentien der körperlichen Dinge symbolisieren und dessen Früchte sich auf die individuellen Substanzen wie das Gold oder den Stein beziehen, als auch der arbor humanalis, der neben den menschlichen Fähigkeiten und den natürlichen Anlagen {abiti naturali} auch die künstlichen, also die mechanischen und liberalen Künste versammelt.
Dem lullianische Bild des Baumes der Wissenschaften, das Bacon und Cartesius wiederaufnehmen werden, wird ein außerordentlicher Erfolg beschieden sein; aber vor allem wird im europäischen Denken für lange Zeit das lullianische Streben nach einem organischen und einheitlichen corpus des Wissens und nach einer systematischen Klassifikation der Elemente der Realität wirksam sein. Bestimmte Anregungen aus anderer Richtung und anderen kulturellen Milieus werden nicht ausbleiben, aber Lefèvre d'Etaples und Bovillus, Pierre Gregoire und Valerio de Valeriis, Alsted und Leibniz werden, mit diesen Problemen konfrontiert, gerade auf die Werke von Lullus und des Lullismus Bezug nehmen. Im Sinne dieses pansophischen Ideals, das die ganze Kultur des siebzehnten Jahrhunderts beherrscht, wird man einerseits nach der unbedingten Beherrschung des ganzen geistigen Weltkreises streben und auf der anderen Seite nach der Erkenntnis eines Gesetzes, eines Schlüssels und einer Sprache, die eine unmittelbare Lektüre des von dem Schöpfer den Dingen eingeprägten Alphabets ermöglicht. Realer Kosmos und Welt des Wissens werden als eine Realität erscheinen, die sich in ihrer Einheit, strukturellen Identität und in ihrer "Harmonie" ergreifen läßt. Auf die Werke der Pansophie des siebzehnten Jahrhunderts müssen wir noch zurückkommen. Im Augenblick soll es genügen, sich kurz bei einigen Werken des sechzehnten Jahrhunderts aufzuhalten, in denen wir den kohärenten Ausdruck dieser Aspekte des lullianischen Erbes finden.
Die Schrift In Rhetoricam Isagoge wurde 1515 in Paris von Remigio Rufo Candido d'Aquitania auf Anregung Bernhardo Lavinhetas, eines der berühmtesten Lullisten der Epoche, veröffentlicht. Lull zugeschrieben und in den Ausgaben der Werke von Lullus durch Zetzner wiederabgedruckt, zeigt sie deutlich ihren Charakter als pseudo-lullianisches Werk: zahlreich sind die Hinweise auf Cicero und Quintilian, auf die platonischen Dialoge und auf die griechische und römische Mythologie und Geschichte. In diesem fast sicher zwischen dem Ende des 15. und dem Beginn des 16. Jahrhunderts verfaßten Text, der als ein authentisches Werk von Lull angesehen wurde, finden wir eine einzigartige Mischung aus Rhetorik, Kosmologie und enzyklopädischen Bestrebungen. In dem von Rufo seinen Schülern, den Brüdern Antonio und Francesco Boher gewidmeten Vorwort wurde die enzyklopädischen Zielrichtung des Werkes als eng verbunden mit den Erfordernissen der Rhetorik und den Bedürfnissen des Redners präsentiert:
Auf Rat und Eingebung unseres Freundes Bernardo di Lavinheta, des allergelehrtesten Lullisten, bringen wir diese Rhetorik ans Licht, damit in diesem Buch wie in einem allerreinsten Spiegel das Bild aller Wissenschaften betrachtet oder besser bewundert werden kann. Es ist nämlich notwendig, daß der Redner in allem Bescheid wisse und sich sorgfältig dieser ganzen Welt der Wissenschaften bemächtige, die Enzyklopädie genannt wird. Deshalb wollte der Autor in Kürze und Stringenz alle Dinge erfassen die zum Begreifen jeder Wissenschaft gehören.
In dem pseudo-lullianischen Werk fehlten natürlich nicht die für die Renaissancemagie und für die lullianisch-alchemistische Literatur charakteristischen okkulten Obertöne :
Aus der Dunkelheit Nacht taucht das Licht auf. Gerade der, der auf dem Gipfel des Berges umgeben von Nebel und Dunst erschien, machte aus der Dunkelheit sein Versteck. Jene, welche die Methode des Redens erlernen wollen, mögen Sorge tragen, daß sie sie im Schweigen erlangen. Daher das Schweigen des Pythagoras.
Nach einem summarischen Verweis auf die subjecta der lullianischen Kunst (Deus, angelus, coelum, homo, imaginativa, sensitiva, vegetativa, elementativa, instrumentativa) und auf die praedicamenta entwickelt sich das Werk in einer langen Reihe von synoptischen Bildern {Beschreibungen}, in denen nach einer strengen Ordnung das ganze Wissen versammelt und ausgestellt wird. Die Betrachtung der imaginativa entwickelt sich zu einer Klassifikation der Tiere, der verschiedenen Teile des menschlichen Körpers, und der menschlichen Wesen, die auf der Grundlage ihrer Zugehörigkeit zu den vier Elementen der Physik eingeteilt werden:
Erdig: wie die Bauern und Berg
Unter den Menschen sind einigeWässrig: wie die Seeleute und die Fischer
Luftig: wie die Seiltänzer und Komödian
Feurig: wie die Schmiede und die Zyklo
So finden wir unter dem subjectum Engel die Hierarchia angelorum, während die Behandlung der Prädikate Raum gibt für eine Klassifikation der verschiedenen Arten der Geschichtsschreibung und der dialektischen Beweisführung, der verschiedenen Teile der Rhetorik, der Gebiete der Ethik und der Arten der Tugenden, schließlich der mechanischen und liberalen Künste: Agrikultur, Viehzucht, Jagd, Bühnenkunst, Kochkunst, manuelle Arbeiten, Philosophie, Musik, Geometrie, Mathematik, Medizin.
Noch bezeichnender für diesen Typ von rhetorisch-enzyklopädischem Traktat ist De arte cyclognomica (1569) von Cornelius Gemma, Astronom und Professor der Medizin in Lyon, Autor eines Werkes über den Kometen von 1577 und einer Schrift über die Wunder und Monstrositäten der Natur . Die Interessen von Gemma drehen sich hauptsächlich um die Medizin, aber in seiner Abhandlung nimmt er sich vor, zur Vereinigung der Methoden von Hippokrates, Plato, Galen und Aristoteles zu gelangen und eine universale Methode zu begründen, die wie für die Medizin so auch für alle anderen Künste und Wissenschaften gültig ist. Die Methode wird von Gemma in drei Teile unterteilt: je nachdem ob das Wissen sich auf das Verständnis der vergangenen Dinge, der Untersuchung der gegenwärtigen oder auf das Erraten der zukünftigen Dinge richtet. Im ersten Fall haben wir "die Memoria und ihr methodisches Werkzeug", im zweiten "die Wissenschaft und die Methode, sie zu erlangen", im dritten "die Vorhersage und ihre Methode." Bei der Suche nach einer via compendiosa zur Wahrheit betont Gemma ausdrücklich die wesentliche Funktion der Bilder, der symbolischen Repräsentationen und der lullianischen Kreise, begreift aber die Bilder in Funktion einer Methode, die als geordnete Klassifikation aller die Wirklichkeit bildenden Elemente verstanden wird. Der größte Teil der Schrift ist der minuziösen und geordneten Auflistung aller natürlichen und überweltlichen Elemente und aller Fakultäten gewidmet. Sie entwikelt sich zu einer großen Enzyklopädie, in der die Themen der hermetischen und pythagoräischen Weisheit weithin dominant erscheinen. Unter dem Quaternio pytagoricus per mundi septenos ordines pari proportione distributos erscheinen die Materie, die Qualität, der Geist und die Seele unterteilt je nach ihrer Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt, zu den himmlischen Dingen, zu den ätherischen, zu den sublunarischen, zu den belebten, zum Menschen, zum Staat. Die Tafel, auf der jene Aufteilungen dargestellt sind, hat die Aufgabe, die geheimen Korrespondenzen zwischen jedem der Elemente zu zeigen und die Art zu klären, in welcher der Sinn oder die Imagination, die ratio oder die mens sich mit der Totalität des Universums in Verbindung setzen: mit den himmlischen Körpern, mit der Wärme in den belebten Wesen, mit den ätherischen Geistern und mit den Intelligenzen, welche die Bewegung der Sterne leiten. Diesem Ziel entsprechen sowohl die graphische Darstellung der Seele mit der Aufstellung {R:collocazione} der einundfünfzig im Menschen wirksamen Fakultäten, als auch die Darstellung der drei Stufen, von denen jede das Bild der Teile zeigt, welche die Metaphysik, die Physik und die Logik bilden. Sie zeigen auch die Ziele dieser Wissenschaften, die Verbindungen, die zwischen den verschiedenen Teilen der einzelnen Disziplinen herrschen, und die Ordnung, nach der alle Teile in Beziehung zur Ordnung des Universums plaziert werden müssen.
Am Grund dieser phantastischen Klassifikationen, an der Basis der fremdartigen Figuren, die das Werk Gemmas füllen, und hinter dem unbedingten Festhalten an der hermetischen Tradition steht aber die unverrückbare Annahme einer Einheit des Wissens, die Spiegel der Einheit des Kosmos ist: "durch die Idee der göttlichen Kraft {Virtú} erstrahlen die Gründe aller Dinge in jedem Teilchen der Welt." Diese Behauptung - das setzte Gemma explizit voraus - bildet das erste Fundament jeder Kunst.
Auf demselben Terrain bewegt sich, auch wenn das Übergewicht von Interessen "logischer" Art einen gänzlich anderen Ton mit sich bringt, das Werk des Pierre Gregoire von Toulouse, das zum erstenmal zwischen 1583 und 1587 in Lyon veröffentlicht wurde. Der Titel spricht schon für sich: Syntaxes artis mirabilis in libros septem digestae per quas de omni re proposita, multis et prope infinitis rationibus disputari aut tractari, omniumque summaria cognitio haberi potest. Neben dem gewohnten Thema einer Kunst, die in der Lage ist, zur Bestimmung der allen Wissenschaften gemeinsamen Axiome zu gelangen und absolute Gewißheitskriterien auszuarbeiten, kehren hier viele der Fragen wieder, mit denen in denselben Jahren schon Agrippa und Lavinheta sich herumgeschlagen hatten. Aber die Schrift von Gregoire ist nicht ein einfacher "Kommentar" zur lullianischen Kunst. Im Unterschied zu den Kommentatoren entwickelt er, nachdem er auf Lullus und auf die hauptsächlichen Theoretiker der universalen Syntax hingewiesen hat, eine regelrechte Enzyklopädie der Wissenschaften, nicht unwürdig, zumindest was ihre Weite und Grandiosität angeht, mit dem baconianischen De augmentis verglichen zu werden. Sie gründet sich auf einem speculum artis, in dem auf der einen Seite die "Arten des Suchens, Prüfens, Disputierens und Antwortens" präsentiert werden, auf der anderen die Klassen oder cellulas, auf die alle Arten des Wissen bezogen werden müssen. Der Bezug auf die absoluten und relativen Prinzipien der ars magna ist explizit, aber ebenso interessant und vielleicht noch mehr sind die Passagen, in denen sich das Streben nach einem enzyklopädischen und universalen Wissen mit dem Vertrauen in eine substanzielle Interkommunikabilität zwischen allen Wissenschaften verbindet. Wie so oft in diesen Werken verwandelt sich die Behauptung der Einheit des Wissens in die ihr korrespondierende der Einheit des Kosmos:
Da, wie Cicero bekräftigt, nichts süßer ist als alles zu wissen, zu erkennen und zu erforschen, gelangte ich zu der Überzeugung, daß die speziellen Vorschriften der einzelnen Wissenschaften, so unterschiedlich sie untereinander sind, alle in einer einzigen allgemeinen Kunst enthalten sein können, durch die sie untereinander zu kommunizieren vermöchten. In allen Dingen ist es immer möglich, ein einziges Genus aufzuspüren, in dem sie zusammenstimmen und an dem alle Spezies teilhaben, auch wenn sie sich in einigen Eigenschaften unterscheiden; folglich ist klar, daß, wenn einmal das Genus ganz erkannt ist, der Begriff der Spezies leichter auftauchen wird, so wie wir die Teilung der Bäche und der Flüsse erkennen würden, wenn wir von der Quelle aus dem Bett folgend zu den Orten gelangten, an denen sich die Aufteilungen vollziehen. Auf diegleiche Weise wird es nicht unmöglich und absurd erscheinen, wenn die verschiedenen Werke der verschiedenen Künste mithilfe eines einzigen Instruments vollbracht werden ... So wie nämlich all die einzelnen natürlichen Körper aus der verschiedenen Mischung der vier Elemente zusammengesetzt sind und alle Pflanzen und alle Tiere an einer vegetativen Kraft teilhaben und durch sie wachsen, und alle Sinne in eben einem Körper enthalten sind, und die körperlichen und die unkörperlichen Dinge im Menschen zusammenstimmen, der aus Seele und Körper besteht, so umarmt der letzte Himmel selbst auf natürliche Weise und führt und bewegt in einem einzigen Kreislauf, in einer einzigen Bewegung und in ein einem einzigen Influx alle unteren Dinge, die alle in ihm zusammenstimmen
Das Fundament der "unifzierten Wissenschaft" ist wieder einmal eine platonisch-pythagoreische oder, wenn man will, magische Auffassung der als lebendige Einheit verstandenen Wirklichkeit. Die Ausdehnbarkeit der Kunst oder der einzigen Methode auf alle Disziplinen und alle Zweige des Wissens ist Kraft einer "metaphysischen" Voraussetzung möglich: der eines Kosmos, in dem sich die Ideen des Geistes {R: mente} widerspiegeln, der bei seiner Erschaffung und der Einrichtung seiner Ordnung den Vorsitz geführt hat:
Und schließlich werden die Dinge erschaffen und regiert von dem einzigen Geist Gottes, alles Licht der Sterne nimmt Teil an dem Licht der Sonne und alle Tugenden nehmen Teil an der Gerechtigkeit ... Gott und der Mensch kommen und leben zusammen in einer einzigen Hypostase: in unserem Herrn Jesus Christus. Und da nun so die Dinge stehen ... können ohne jeden Zweifel der Geist und die Vernunft des Menschen sich auf alle Künste ausdehnen, wofern sie von einer optimalen allgemeinen Methode des Wissens und Begreifens geführt werden... Zu jeder der einzelnen Wissenschaften gehören Begriffe - oder universale Vorboten {preludi = Signaturen?} - durch die Kunst und Fertigkeit leicht vermehrt können.
Zu nicht anderen Schlußfolgerungen gelangt im letzten Dezennium des Jahrhunderts der venezianische Patrizier Valerio de Valeriis, der in seinem 1589 veröffentlichen Opus aureum das lullianische Projekt des arbor scientiarum wiederaufnahm, um es zu modifizieren und zu vereinheitlichen. Im Werk von de Valeriis wird das Problem des Baumes der Wissenschaften als eng verbunden mit dem der Formulierung der Regeln der Kombinatorik dargestellt.
Das Werk ist in vier Teile geteilt. Im ersten wird die notwendige Kompetenz zum Erreichen der Vertrautheit mit den Bäumen behandelt. Im zweiten werden wir die vierzehn Bäume zeigen, von deren Kenntnis das gesamte Wissen von den Seienden abhängt. Im dritten werden wir mit Beispielen das illustrieren, was im ersten und zweiten vorgestellt worden ist. Im vierten Teil schließlich werden wir zeigen, wie die Generalkunst des Raimundus auf dieses Unterfangen zurückgeführt wird: der Vervielfältigung der Begriffe und Argumente zu lehren und in der Mischung der Wurzeln mit den Wurzeln, der Wurzeln mit den Formen, der Bäume mit den Bäumen und der Regeln mit all diesen und vielen anderen Modi.
Die Interpretation der "Figuren" der Kunst, die im vierten Teil des Werkes gegeben wird, scheint stark beeinflußt zu sein von Agrippas lullianischem Kommentar und sehr wahrscheinlich auch von den Thesen Brunos, der zwischen 1582 und 1588 seine lullistischen und mnemotechnischen Werke veröffentlicht hatte. Mehr als auf Agrippa und auf Bruno jedoch beruft sich de Valeriis auf Scotus und den Scotismus, indem er eine Lehre der absoluten und relativen Prädikate einführt. Die Notwendigkeit einer goldenen Kunst ergibt sich wie in jedem so auch in diesem Fall aus der Feststellung des pluralistischen und "chaotischen" Zustandes der geistigen Welt und der Armseligkeit der menschlichen Erkenntnisse und aus dem Bedürfnis nach einem singulare ac mirabile artificium, mit dem jenseits einer scheinbaren Chaotik das Wissen von der Ordnung des Kosmos erlangt und ein Zustand herbeigeführt werden kann, in dem die dann unendlich erschöpften Menschen "ewig und sicher im Schatten der Bäume des Wissens ausruhen" dürfen. Außerdem fallen für de Valeriis die Wurzeln der Bäume mit den Prinzipien der Kunst zusammen, wobei die Ordnung der Abfolge dieser verschiedenen Prinzipien als von der "Natur" abhängig dargestellt wird. Ferner liefert die scala naturae das Kriterium, auf das bei der schwierigen Anwendung der Wurzeln oder Prinzipien der Kunst auf die subiecta zurückgegriffen werden muß:
Bei der einheitlichen Anwendung dieser Radikalen auf die subjecta muß größte Sorgfalt herrschen... die Stufenleiter der Natur muß beachtet werden und all das, was auf der unteren Stufe eine Vollkommenheit ohne Unvollkommenheit bezeichnet, muß der höheren Stufe zugeordnet werden. Die dem Stein (der die niederste Stufe einnimmt) zugeschriebene Operation muß auch den Pflanzen zugeschrieben werden, welche die zweite Stufe der Stufenleiter der Natur einnehmen. Das, was eine Unvollkommenheit enthält, gehört zum Unteren und ist keinem Höheren zuzuordnen: daraus leitet sich ab, daß die contrarietas und die minoritas nicht Gott zugeschrieben werden dürfen, denn sie gehören zu den niederen Dingen. Der göttliche Lullus ordnete die Stufenleiter der Natur nach neun Subjekten und nach vierzehn Bäumen ... Wer viele Dinge in jeder Disziplin zu wissen wünscht, bilde sich jene Leiter.
Diese Positionen von Gregoire und von de Valeriis sind typisch: aus solchen Voraussetzungen gewinnt neue Nahrung und neue Kraft die Idee einer universalen Syntax, die außer dem Schlüssel für die Mysterien des Idealen und des Realen auch der Maßstab für die Konstruktion einer vollständigen Enzyklopädie der Wissenschaften liefert. Von Lullus bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts und dann bis zu Alsted und Leibniz bleibt die Überzeugung unerschütterlich, daß lullianische Kunst oder Kabbala der Weisen oder goldene Kunst oder Kombinatorik oder Generalwissenschaft mit der metaphysischen Enthüllung der idealen Textur der Realität zusammenfällt.
5. Die memorative Technik in den Schriften von Raimundus Lullus
Die Vorstellung eines schnellen und leichten Erlernens der Regeln der Kunst und der Ordnung, nach der die Begriffe im Innern der "Enzyklopädie" verteilt werden, ist in den Werken von Lullus und in denen der Lullisten nicht marginal oder sekundär, sondern konstitutiv und wesentlich. Die rotierenden Figuren, die Bäume, die synoptischen Tafeln, und die Klassifikationen sind in diesen Werken Mittel, um in außerordentlich kurzer Zeit (sie schwankt je nach Autor zwischen einem Monat und zwei Jahren) einen ungebildeten Menschen in einen gelehrten zu verwandeln: das heißt in einen Menschen, dessen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten außerordentlich weitreichender sind als die von der traditionellen Logik und Philosophie gebotenen. Von daher ist es klar, daß das Problem einer memorativen Technik oder, in der Terminologie des Lullismus, einer confirmatio memoriae engstens mit demjenigen der Kombinatorik verbunden ist.
Im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts wird man allgemein von artificium mnemonikum, von systema mnemonicum oder von logica memorativa sprechen, um damit einerseits die großen kosmologisch-enzyklopädischen Konstruktionen, andererseits die Handbücher für kombinatorische Technik zu kennzeichnen. Sowohl Alsted, der 1610 seine Enzyklopädie als artium liberalium et facultatum omnium systema mnemonicum bezeichnete, als auch Stanislav Mink, der seine Darstellung und Revision der lullianischen ars magna als logica mnemonica betitelte (1648), beriefen sich auf eine Tradition, die ihre Wurzeln in den Werken des europäischen Lullismus des sechzehnten Jahrhunderts und im Werk des Raimundus Lullus selbst hat.
Im Prolog zur Logica Nova, die 1303 in Genua auf katalanisch geschrieben und in Montpellier im folgenden Jahr ins Lateinische übersetzt worden war, legte Lullus sein Programm der Anwendung der Prinzipien der generellen Kunst auf die Logik (die als spezielle Disziplin und Kunst angesehen wurde) dar und stellte seine neue Logik der traditionellen gegenüber, indem er auf die Leichtigkeit hinwies, mit der diese kompendiöse Logik zu erlernen und zu behalten sei:
Um die Weitschweifigkeit und Schwäche [der traditionellen Logik] zu vermeiden, haben wir uns entschlossen (mit Hilfe Gottes), eine neue und kompendiöse Logik zu erfinden, die ohne allzugroße Schwierigkeit und Ermüdung erlernt werden, vollständig und gänzlich im Gedächtnis behalten, und mit äußerster Leichtigkeit erinnert werden kann.
Auf die Notwendigkeit eines mnemonischen Erlernens der Prinzipien der Kunst kommt Lullus mehrfach zurück. Es handelt sich nicht nur um einen Kniff, die lullianische Maschine "in Bewegung zu setzen": alle im engeren Sinn "technischen" Elemente der Kunst (Figuren, Bäume, Verse) entsprechen ausdrücklich mnemonischen Absichten . In den Versen der Aplicaciò de l'Art general, einem didaktischen Gedicht von 1301, das in "populärer" Form die Vorteile aus der Anwendung der Kunst auf die verschiedenen Wissenschaften herausstrich, betont Lull die mirakulöse Kürze seiner Kombinatorik und die Möglichkeit eines schnellen und zugleich haltbaren Erlernens:
Que mostrem la aplicaciò
Del Art general en cascuna
Que a totes està comuna
E per elles poden haver
En breu de temps et retener.
Auf das Problem der Memoria und der Ars memorativa hatte übrigens Lull seine Aufmerksamkeit seit seinen ersten Schriften gerichtet. Auf der Grundlage der Dreiteilung der drei Kräfte oder Potenzen der rationalen Seele (Memoria, Intellekt und Wille), die schon in dem Libre de Contemplaciò en Dèu von 1272 vorliegt, hatte er die Konstruktion von drei großen Künsten geplant, der ars inventiviva, der ars amativa und der ars memorativa und sie jeweils mit dem arbor scientiae, dem arbor amoris und dem arbor reminiscentiae verbunden. Die aus der Arbre de filosofia d'amor (1298) ergänzte Art amativa (1290), die Art inventiva (1289) und der Arbre de Sciencia (1295) stellen die teilweise Verwirklichung dieses Projekts dar. Von 1290 datiert der Arbre de filosofia desiderat : das was "ersehnt" und im Verlaufe des Werks nur teilweise verwirklicht wird, ist genau jene schon vor langer Zeit geplante Kunst der Memoria. Wenn man sich innerhalb des Baumes der Philosophie bewegt und der gesamten Struktur folgt, ist es laut Lull möglich, zum Verständnis der wahren, zur Liebe der guten und zum künstlichen Erinnern der vergangenen Dinge zu gelangen. Der Stamm ist das Sein, aus dem die Zweige und die Blüten entspringen, die zugleich die neun Prinzipien und die neun Prädikate der Kunst darstellen. Die Buchstaben von b bis k bezeichnen die achtzehn Blüten-Prinzipien der ars magna, die Buchstaben l bis u die achtzehn Zweig-Prinzipien. Die Struktur des Baumes ist demnach die folgende:
-------------------------------
FIORI TRONCO RAMI

-------------------------------
b. bontàdifferenzapotenza
c. grandezzaconcordanzaoggetto
d. duratacontrarietàmemoria
e. potenzaprinipiointenzione
f. sapientiamediopunto transcendente
g. volontàfinevuoto
h. virtùmaggioritàopera
i. veritàeguaglianzagiustizia
k. gloriamintoràordine
ENTE
ENTE
ENTE
ENTE
ENTE
ENTE
ENTE
ENTE
ENTE
Diocreaturel.
realefantasticom.
generespecien.
moventemovibileo.
untiàpluralitàp.
astrattoconcretoq.
intensitàestensioner.
somiglianzadissomiglianzas.
generationecorruzioneu.

-------------------------------
Beim Gebrauch der inventiv-expositiven Technik, die in der ars brevis und in der ars magna noch weiter entwikelt wird, bedient sich Lull der Kreisfigur, der Definition der Prinzipien, der zehn Regeln und schließlich der Propositionen und Fragen. Die memorative Technik resultiert aus der systematischen Anwendung von d (memoria) auf jeden der durch l, m, n usw. symbolisierten Zweige. Daraus entstehen neue Kombinationen dl, dm, dn usw., in deren jeder die künstliche Memoria sich mittels bestimmter Verfahren realisiert, wobei sie von Fall zu Fall zu verschiedenen Resultaten gelangt. Neben den auf die künstliche Memoria angewandten "Regeln", die schon in der antiken und mittelalterlichen Traktatliteratur gegenwärtig waren, finden wir hier den Rückgriff auf die concordantia, auf die differentia (dp: Memoria - Einheit Vielheit; ds: Memoria - Ähnlichkeit Unähnlichkeit) und auf die Unterordnung des Partikularen unter das Allgemeine (dn: Memoria - Genus Spezies). Lull bewegt sich in diesem Fall in der Sphäre jener rudimentären Assoziationspsychologie, die direkt oder indirekt den Werken des Aristoteles entstammt.
Die in dem Arbre de filosofia desiderat enthaltenen Regeln für die Memoria sind ausführlich von Carreras y Artau zusammengefaßt worden. Es ist daher sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf einige unveröffentlichte Werke von Lull zu richten, die bis zum heutigen Tag nicht Gegenstand besonderer Untersuchung gewesen sind. Es handelt sich in erster Linie um das unveröffentlichte Liber de memoria, das in zwei Handschriften erhalten ist und im Februar 1304 in Montpellier verfaßt wurde. In dieser Schrift, die vom Autor als ein lange geplantes Projekt dargestellt wird, bezieht sich Lull auf einen Baum, den arbor memoriae, der unter den sechzehn Bäumen des Arbre de Sciencia von 1295 nicht verzeichnet ist. Im arbor memoriae werden neun Arten von Gedächtnis aufgezählt und klassifiziert, von denen jede in Korrespondenz zu jedem der neun Prinzipien, der neun relativen Prinzipien und der neun questiones gesetzt ist. Hier der Beginn des Traktats:
/16 v./ Per quendam silvam quidam homo ibat considerando quid erat causa quia scientia difficilis est ad acquirendum, facilis vero ad oblivescendum et videbatur ei quod propter defectum memorae istud erat eo quia sua essentia non bene est cognita atque suae operationes sive condiciones naturales, et ideo proposuit de memoria facere istum librum ad memoriam eaque ei pertinent agnoscendum. Sujectum huius libri es ars generalis, eoque cum suis principiis et regulis memoriam intendimus investigare ... Est autem memoria ens cui proprium et per se est memoriari. Dividitur iste liber in tres distinctiones. Prima est de arbore memoriae et de suis conditionibus de principiis artis generalis cum suis diffinitionbius et regulis. Secunda distinctio est de floribus memoriae et de principiis et regulis artis generalis ipsi memoriae applicatis. Tertia distincio est de quaestionibus de memoria factis et de solutionibus questionum. Et primo de prima dicemus. Arbor memoriae dividitur in novem flores ut in se patet. Primus flos est b et b significat /17 r./ bonitatem [dantem in] <differentiam> memoriam receptivam et utrum; secundus flos est c et c significat magnitudinem concordantiam memoriam remissivam et quid est; d significat durationem contrarietatem memoriam conservativam et de quo; e significat potestatem sive principium memoriam activam et <quare>; f significat sapientiam medium [materiam] memoriam discretivam et quantum; g significat voluntatem finem memoriam multiplicativam et quale; h significat virtutem maioritatem memoriam significativam et quando; i significat [veritatem] <virtutem> aequalitatem memoriam terminativam et ubi; k significat gloriam, minoritatem memoriam complexionativam et quomodo et cum quo. In arte ista alphabetum supradictum cordetenus scire oportet...
Wenn man auf die Tafeln und Figuren der Ars brevis und der Ars magna zurückgreift, kann man sich nach einer Korrektur und Ergänzung der Handschrift in zwei oder drei Punkten vorstellen, wie sich für Lull die beabsichtigte Anwendung der ars generalis auf den speziellen Bereich der Memoria gestaltet hätte. Die Struktur der lullianischen Kombinatorik erscheint in diesem Fall wie folgt:

PRINCIPI
ASSOLUTI
PRINCIPI
RELATIVI
SUBIECTA
MEMORIA
QUAESTIONES


b. bonitas
c. magnitudo
d. duratio
e. potestas
f. sapientia
g. voluntas
h. virtus
i. [veritas]
k. gloria
[differentia]
concordantia
contrarietas
principium
medium
finis
majoritas
aequalitas
minoritas
receptiva
remissiva
conservativa
activa
discretiva
multiplicativa
significativa
terminativa
complexionativa
utrum
quis
de quo
[quare]
quantum
quale
quando
ubi
quomodo et cum quo


Es lohnt nicht, sich in eine Erläuterung der gesamten Funktionsweise der Anwendung der ars generalis auf das subjectum memoria zu vertiefen Eine solche Erläuterung würde unter anderem die vorläufige Klärung der Prozeduren der Kombinatorik erfordern, wie sie von E.W Platzeck dargestellt und diskutiert worden sind. Es soll hier genügen, sich bei einem für die Probleme, denen sich die Aufmerksamkeit Lulls zuwendet, besonders bezeichnenden Passus aufzuhalten. In dem folgenden Zitat nimmt Lull einerseits das Problem der Beziehung zwischen der memorativen Fähigkeit und dem Körper in Angriff, und auf der anderen Seite setzt er an dem Übergang vom Allgemeinen zu Besonderen an, um die Grundlagen einer Technik des Erinnerns zu legen.
/21 r./ Memoria est in loco ut per regulam de i in tertia parte. Quod amiserat principium distinctionis signatum est et est in loco per accidens non per se, hoc est ratione corporis cum quo est convicta, quoniam memoria per se non est collocabilis eo quia non habet superficiem sed est in loco in quo corpus est, et sicut corpus est mutabile de loco in locum, etiam memoria per ipsum. Memoria vero mutat obiecta de uno loco in alium non mutando se, sed mutando suas operationes obiective recipiendo species que sunt similitudines locorum cum quibus est discretiva et multiplicativa et ideo sedundum quod ipsa est conditionata cum loco, debet artista uti ipsa per loca et ideo si vult recordari aliquid traditum oblivioni, considerat illum locum in quo fuit et primo in genere, sicut in qua civitate, post in specie, sicut in in quo vico, post in particulari, sicut in qua domo seu in aula seu in coquina /21 v./ et sic de aliis et ideo per talem discursum memoria multiplicabit se.
Obwohl Lulls Aufmerksamkeit hier eindeutig dem Vorgang der sukzessiven Bestimmung der Besonderheiten (in seiner Terminologie die tractatio de generali ad specialia postea descendens) zugewandt ist, ist es doch schwierig, in diesem Passus nicht das wenn auch abgeschwächte Echo der Diskussion über die "Orte" wahrzunehmen, welche die Mnemotechnik "ciceronianischer" Herkunft prägt. Diegleichen Beispiele, die Lull heranzieht (die Stadt, die Straße, das Haus, das Zimmer, die Küche) sind typisch für die Terminologie, von der die "Ciceronianer" weitgehendsten Gebrauch gemacht hatten. Durch die Vermittlung des Augustinismus muß irgendein Element dieser Tradition in das Innere des Denkens von Lull eingedrungen sein. Die Beziehungen zwischen den von Lull ersonnenen memorativen Techniken und der ciceronianischen Tradition sind sicher ziemlich vage und schwierig zu bestimmen. Es wäre dennoch verfehlt, die lullianische Kunst weiterhin allein als einen Entwurf einer "formalen Logik" zu deuten und den Einfluß zu unterschätzen, den jene Thematik augustinischer Herkunft auf die Projekte der Ars ausübte, die in der Unterscheidung von Memoria, Intellekt und Wille den symbolischen Ausdruck der drei Personen der Trinität sah. Tatsächlich erscheint die Kunst, wie Yates festgestellt hat, nach Analogie der göttlichen Trinität konzipiert zu sein. In ihrer Fülle besteht sie aus drei Gesichtern oder Aspekten : der erste (der sich mittels der Kombinatorik oder der neuen Logik realisiert) wirkt durch den Intellekt; durch den zweiten übt sich der Wille (und auf diesen Aspekt beziehen sich die mystischen Werke Lulls); der dritte betrifft die Memoria und transformiert die gesamte Kunst in ein großes mnemotechnisches System.
Die tatsächlichen Auswirkungen dieses augustinischen Einsprengsels können breit dokumentiert werden. Außer den zahlreichen Passagen aus dem Liber de contemplaciò und dem Arbre de filosofia desiderat, an die Carreras y Artau erinnert haben, soll hier als besonders charakteristisch eine andere unveröffentlichte Schrift von Lull erwähnt werden, das März 1313 in Messina geschrieben Liber de divina memoria. In diesem Werk erscheint die Untersuchung über die Memoria in einer typisch augustinischen Kurvatur auf präzise theologische Ziele hingebogen. Transkribieren wir nach der ambrosianischen Handschrift den Beginn des Traktates:
/22 r./ Deus cum tua misericordia incipit liber de tua memoria. Quoniam de divina memoria non habemus tantam notitiam sicut de divino intellectu et voluntate, idcirco intendimus indagare divinam memoriam ut de ipsa tantam notitiam habeamus quantam habemus de divino intellectu et voluntate. Ex hoc habebimus maiorem scientiam de deo... De divisione huius libri: dividitur iste liber in quinque distinctiones. In prima tractabimus de memoria hominis, in secunda investigabimus memoriam divinam per divinum intellectum, in tertia divinam voluntatem, in quarta divinam trinitatem, in quinta et ultima divinas rationes... Memoria humana est potentia cum qua homo recolit ea que sunt praeterita et ad hoc declarandum damus istud exemplum. Potentia imaginativa non habet actum scilicet imaginare in illo tempore in quo potentia sensitiva attingit suum obiectum et de hoc quolibet potest habere experientiam, a simili dum homo attingit obiectum pensatum seu imaginatum in tempore presenti tunc memoria non potest memorari illud obiectum quia intellectus et voluntas hominis impediunt quominus memoria habet suum actum quia intellectus intelligit ipsum /22 v./ obiectum et voluntas diligit seu odid illud et per hoc ostenditur quia memoria est potentia per se contra illos qui dicunt quod memoria non est potentia per se sed est radicata in intellectu et simul sunt una potentia, quod falsum est ut super declaratum est.
Zwischen den beiden von uns gestreiften Werken über die Memoria von 1304 und 1313 situiert sich schließlich ein drittes Werk - das Liber ad memoriam confirmandam -, auch es unpubliziert und 1308 in Pisa während des Aufenthaltes im Konvent des heiligen Dominikus verfaßt. Die Abhandlung beginnt mit der Erklärung der Ziele, die sich die confirmatio memoriae setzt ("unser Ziel beim Verfassen des vorliegenden Traktates ist es, auf die beste Weise die schwankende und hinfällige Memoria der Menschen zu verbessern") und mit der Unterscheidung unter den drei natürlichen Fähigkeiten der Seele - capacitas, memoria, discretio -, von denen jede durch die Anwendung einer besonderen Technik vervollkommnet werden kann. Jeder der drei natürlichen Fähigkeiten entspricht auf diese Weise eine artifizielle Fähigkeit, die durch die Kunst erworben werden kann. Letzterer kommt die Aufgabe zu, eine Art von Lernen und Überlieferung des Wissens zu ermöglichen, welche die Jugend nicht nutzlos ermüde:
/1 r./ Primo igitur ut laborans in studio faciliter sciat modum scientiam invenire et ne, post amissos quamplurimos labores, scientiae huius operam inutiliter tradidisse noscatur, sed potius labor in requiem et sudor /1 v./ in gloriam plenarie convertatur, modum scientiae decet pro iuvenibus invenire per quem non tanta gravitate corporis iugiter deprimantur, se, absque nimia vexatione et cum corporis levitate et mentis laetitia, ad scientiarum culmina gradientes equidem propere subeant. Multi enim sunt qui, more brutorum, literarum studia cum multo et summo labore corporis prosequuntur absque exerticio ingenii artificioso, sed et continuis vigiliis maceratum corpus suum iuxta labores proprios inutiliter exhibentes. Igitur decet modem per quem virtuosus studens thesaurum scientiae leviter valet invenire et a gramamine tantorum laborum relevari possit.
Die Ars erscheint hier als ein Instrument zur Befreiung von einer unnütz unterdrükenden Pädagogik: das Thema einer "artifiziellen" Stärkung der natürlichen Fähigkeiten der Seele verbindet sich mit dem typisch franziskanischen Motiv der spirituellen Fröhlichkeit. Die capacitas kann durch Aufmerksamkeit und geordnete Aufteilung der Argumente vervollkommnet werden.
Der Vervollkommnung der Memoria im eigentlichen Sinn werden Betrachtungen gewidmet, die besonders interessant sind und welche diese Schrift von den anderen lullianischen Schriften zu dem Thema abheben.
/2 v./ Venio igitur ad secundam, scilicet ad memoriam quae quidem, secundum antiquos, alia est naturalis, alia est artificialis, Naturalis est quam quis recipit in creatione vel generatione sua secundum materiam ex qua homo generatur et secundum quod influentia alicuius planetae superioris regnat; et secundum hoc videmos quosdam homines meliorem memoriam habentes quam alios, sed de ista nihil ad nos quoniam Dei est illud concedere. Alia est memoria artificialis et ista est duplex quia quaedam est in medicinis et emplastris cum quibus habetur, et istam reputo valde periculosam quoniam interdum dantur tales medicinae dispositioni hominis contrariae, interdum superfluae et in maxima cruditate qua cerebrum ultra modum dessicatur, et propter defectum cerebri homo ad dementiam demergitur, ut audivimus et vidimus de multis, et ista displiciet Deo quoniam hic non se tenet pro contento de gratia quam sibi Deus contulit unde, posito casu quod ad insaniam non perveniat, nunquam /3 r./ vel raro habebit fructus scientiae. Alia est memoria artificialis per alium modum acquirendi, nam dum aliquis per capaciatatem recipit multum in memoria et in ore revolvat per seipsum quoniam secundum Alanum in parabolis studens est admondum bovis. Bos enim cum maxima velocitate recipit herbas et sine masticatione ad stomachum remittit quas postmodum remugit et ad finem, cum melius est digestum, in sanguinem et carnem convertit: ita est de studente qui moribus oblitis capit scientiam sine deliberatione, unde ad finem ut duret, debet in ore mentis masticare ut in memoria radicetur et habituetur quoniam quod leviter capit leviter recedit et ita memoria, ut habetur in Libro de memoria et reminiscentia, per saepissimam reiterationem firmiter confirmatur.
Verschiedenes ist hier hervorzuheben: zunächst der Hinweis auf das aristotelische De memoria et reminiscentia und die Betonung der reiteratio als wesentliches Mittel zur Stärkung der Memoria. Zweitens die Abwesenheit jedes Rückgriffs auf den arbor memoriae und die offene Polemik gegen die schädlichen Versuche der Anwendung medizinischer Techniken auf die Memoria; drittens die Unterscheidung (die auf die "Alten" zurückgeführt wird) zwischen natürlicher und artifizieller Memoria. Es handelt sich um Behauptungen und Thesen, die es ermöglichen, eine Verbindung zwischen der lullianischen Behandlung der Memoria und jenen Diskussionen herzustellen, die einerseits mit dem aristotelischen De reminiscentia, andererseits mit dem Weiterwirken von Motiven rhetorischer Herkunft zusammenhängen. Während die Verwendung des Begriffs discretio auf die aristotelische Vorstellung von reminiscentia zu verweisen scheint, bestätigt der Hinweis auf die "Alten" möglicherweise noch einmal eine sei es auch nur indirekte Kenntnis von Elementen, die aus der "ciceronianischen" Tradition der Mnemotechnik geschöpft sind.
Wir haben uns so lange bei diesem Text aufgehalten, weil er bezeichnend ist für eine Haltung, der die Lullusspezialisten noch nicht ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben: es handelt sich in diesem Werk nicht darum, die Regeln der Kunst auf den spezifischen Bereich der Memoria anzuwenden, sondern die gesamte Struktur der lullianischen Kombinatorik wird hier in den Dienst der künstlichen Memoria gestellt.
/3 r./ Ad multa recitanda consideravi ponere quaedam nomina relativa per quae ad omnia possit responderi /3 v./ ... Ista enim sunt nomina supra dicta quid, quare, quantus et quomodo. Per quodlibet istorum poteris recitare viginti rationes in oppositum factas vel quaecumque advenerint tibi recitanda et quam admirabile est quod centum possis rationes retinere et ipsas, dum locus fuerit, bene recitare... Ergo qui scientiam habere affectat et universalem ad omnia desiderat, hoc circa ipsum tractatum laboret cum diligentia toto posse quoniam sine dubio scientior erit aliis ... Primum igitur per primam speciem nominis quid, poteris certas questiones sive rationes sive alia quaecunque volueris recitare evacuando secundam figuram de his quae continet, per secundam vero poteris in duplo respondere seu recitare et hoc per evacuationem tertiae figurae et multiplicationem primae...
Das Liber ad memoriam confirmandam ist uns in drei Manuskripten des sechzehnten Jahrhunderts überliefert, die außer zahlreichen Fehlern viele bemerkenswerte Abweichungen aufweisen. Der ziemlich unbestimmte Verweis auf die quaestiones; der beharrliche Hinweis auf ein Liber septem planetarum (handelt es sich um den Tractatus novus de astronomia von 1297?), in dem die capacitas, die memoria und die discretio definiert sein sollen; die ungenaue Darstellung der Technik der evacuatio und der multiplicatio, die schon in der Ars Magna einleuchtend erklärt worden war; die Unmöglichkeit (angesichts der Abweichungen unter den Kodizes), die Authentizität des Verweises auf das aristotelische De memoria zu überprüfen: diese und andere Elemente können uns nur zu großer Vorsicht anhalten. Der Text ist zweifelsohne authentisch, hat aber wahrscheinlich beträchtliche Veränderungen erfahren. Die Schlußfolgerungen über die Beziehungen Lulls zu der aristotelischen und "ciceronianischen" Tradition der Mnemotechnik können nur insofern als stichhaltig angesehen werden, als sie, wie wir zu zeigen versucht haben, durch Untersuchungen zu den anderen unveröffentlichten Werke über die Memoria bestätigt werden.
Im Falle des Liber ad memoriam confirmandam bleiben nur einige Zweifel. Ziemlich klar ist indes der Fall des ms. Urb. lat. 852, das irrtümlicherweise als eine der Redaktionen des Liber de memoria von 1303 angesehen worden ist. Hier befinden wir uns vor einem Traktat über die memoria locale, der nach den allerstrengsten und konventionellsten Regeln der ciceronianischen Mnemotechnik verfaßt und fälschlicherweise dem Lullus zugeschrieben wurde. Transkribieren wir eine Passage:
/333 r./ Localis memoria per Raimundum Lullum. Ars memorativa duobus perficitur modis scilicet locis et imaginibus. Loci non differunt ab imaginibus nisi quia loci sunt anguli, ut quidam putant, sed imagines quaedam fixae super quas, sicut super cartam, dipinguntur imagines delebiles. Unde loca sunt sicut materia, imagines sicut forma..../333 v./ Oportet autem ut locis serbetur modus ne scilicet inter ea sit distantia nimium remota vel nimium brevis, sed moderata ut quinque pedum vel circa; non sit etiam nimia claritas vel nimia obscuritas sed lux mediocris... /334 v./ Inveni igitur, si poteris, domum distinctam caminis {sic!} XXII diversis et dissimillibus... /338 r./ Habeas semper ista loca fixa ante oculos sicut situata in cameris et scias ante et retro illa recitare, per ordinem etiam scias quis primus, quis secundus, quis tertius et sive de aliis ... /339 v./ Si detur tibi aliud nomen notum, puta Joannis, accipe unum Joannem tibi notum ... et ipsum collocabis in loco...
Daß ein Werk dieser Art, das einer ganz anderen kulturellen Tradition angehört, dem Philosophen von Mallorca zugeschrieben werden konnte, ist nicht ohne Bedeutung. Im sechzehnten Jahrhundert ereignete sich, während im Bereich des orthodoxen Lullismus die Themen der Kombinatorik in mnemonischer Funktion entfaltet wurden, die von uns mehrfach angesprochene Begegnung zwischen der "ciceronianischen" und der lullistischen Tradition. Diesem Zusammentreffen wird das Werk von Bruno europäische Resonanz verleihen. Aber siebzig Jahre vor dem Erscheinen von De umbris idearum, von Cantus circaeus und von De compendiosa architectura et commento artis Lullii (alle 1582 in Paris publiziert) hatte einer der berühmtesten Maestri des europäischen Lullismus, der der Gruppe um Lefèvre verbunden war, eine Synthese zwischen der "ciceronianischen" Kunst der Memoria und der Kombinatorik von Lull versucht.
6. Bernhard von Lavinheta: Kombinatorik und lokale Memoria.
1612 besorgte Heinrich Alsted bei dem Verleger Lazarus Zetzner aus Köln, der 1598 die große Sammlung lullianischer Werke und Kommentare zu Lull veröffentlicht hatte, die Drucklegung der Explanatio compendiosaque applicatio artis Raymundi Lullii des Franziskaners Bernard von Lavinheta. Das Werk war zum erstenmal fast ein Jahrhundert zuvor in Lyon veröffentlicht worden: 1523. Während Alsted im Vorwort gegen die lächerlichen Aristoteliker und die unfähigen Ramisten wetterte - sie waren die Verfolger des Lull, des Lullismus und jeglicher Freiheit -, warnte er die Leser vor dem "scholastischen" und "papistischen" Element, das im Werk von Bernhard noch gegenwärtig war. "Er zeigt die Praxis der lullianischen Philosophie gemäß seinen Sitten und denen seines Jahrhunderts, nämlich auf barbarische und papistische Art. Seht euch vor, nicht über diese Klippen zu stolpern." Was Alsted jenseits der "Klippen" der scholastischen und katholischen Barbarei begeistert hatte, war der im Werk von Lavinheta unternommene Versuch, auf den Fundamenten der lullianischen Kunst eine Enzyklopädie der Wissenschaften zu erbauen. Die Anwendung der ars Lullii umfaßte nämlich, wie der Titel zeigt, die Logik die Rhetorik die Physik die Mathematik die Mechanik die Medizin die Metaphysik die Theologie die Ethik die Jurisprudenz.
In seiner Aufteilung und Klassifikation der Wissenschaften hatte sich Lavinheta auf das Bild des einzigartigen Baumes der Wissenschaften bezogen, auf den hin sich die einzelnen Wissenschaften wie die verschiedenen Zweige eines einzigen Stammes anordnen. Auch wenn er in seiner Abhandlung Aufteilungen und Distinktionen einführte, die vom Lullismus weitab lagen (zum Beispiel die drei Zweige des trivium), hatte sich Bernhard doch reichlich, besonders in seiner Logik, der Figuren der Kombinatorik bedient. Aber deutlich erscheint seine Absicht, sich der ars magna in Hinblick auf eine Suche nach universalen, das ganze Wissen unifizierenden Prinzipien zu bedienen, in dem Abschnitt unter dem Titel Introductio in artem Raymundi Lullii :
Notwendig ist eine einzige Generalkunst, die über allgemeine, grundlegende und notwendige Prinzipien verfügen muß, durch welche die Prinzipien der anderen Wissenschaften bewiesen und überprüft werden könne ... Die speziellen Künste und Wissenschaften sind zu weitschweifig und das kurze Leben des Menschen erfordert, daß der Intellekt über ein Universalinstrument verfüge.
Bernhard baute in seine Abhandlung einen veritablen Traktat über Kosmologie und natürliche Philosophie ein (in der Diskussion der dritten Figur), dazu ganze medizinische Werke (Hortulus medicus, De medicina operativa usw.) sowie Betrachtungen über die ars praedicandi und über die Auslegung der Schrift: auf diese Weise erging er sich in dem Gebiet der pseudolullianischen Rhetorica und eröffnete damit jenen Enzyklopädismus auf lullianischer Basis, dem in den letzten Jahren des Jahrhunderts sowohl Gregoire wie de Valeriis ihre Anhänglichkeit widmeten.
Mit Lavinhetas Vorlesung an der Sorbonne war (nach der großen nominalistischen Unterbrechung, die von den Streitschriften des Pietro d'Ailly und von Gerson eingeleitet worden war) die Lehre des Lull im Triumphzug wieder in Paris eingezogen. Wenn man sich die große Resonanz, welche die Vorlesungen Lavinhetas in der Welt der Gelehrten hatten, seine intensive Herausgebertätigkeit in den bedeutendsten Zentren Europas von Paris bis Lyon bis Köln, sowie seinen Erfolg im siebzehnten Jahrhundert vergegenwärtigt, muß auch die im letzten Teil der Explicatio ausgearbeitete Thematik der Memoria besonders interessant erscheinen. Bernhard nimmt sich auf diesen Seiten vor, eine Kunst zu konstruieren, die gleichzeitig sowohl die von Lull erarbeiten memorativen Techniken wie auch jene schon weitläufig entwickelten benutzen kann, die aus den Werken von Cicero und Quintilian gewonnen worden waren.
Die Definition der natürlichen Memoria, derer sich Lavinheta bedient, ist von den lullianischen Werken und den mittelalterlichen Kommentaren zu De reminiscentia von Aristoteles geprägt:
Die natürliche Memoria ist jene Kraft, der eigentlich die Aufgabe zukommt, in den Geist zurückzurufen, und über deren Organ schon in der Abhandlung über natürliche Philosophie gesprochen wurde. Dieses Organ befindet sich im Hinterkopf in Form einer Pyramide und seine Kraft ist spirituell. Seine Aufgabe ist es, die mittels des Intellekts gewonnenen Spezies zu bewahren und ihre Bilder (similitudines) auf Befehl des Willens in den Intellekt zurückzurufen.
Was indes die artifizielle Memoria angeht, übernimmt Lavinheta fast in dengleichen Formulierungen die Vorstellungen, die Lull in dem unveröffentlichten Liber Liber ad memoriam confirmandam ausgedrückt hatte:
Lavinheta, Explanatio (Ausgabe 1612), S. 653
Die künstliche Memoria ist eine zweifache: die erste besteht aus Arzneien und Breiumschlägen die unser Doktor für sehr gefährlich hält, weil oft Arzneien verabreicht werden, die der Disposition des Individuums widersprechen und eine solche Erhitzung bewirken, daß sie das Gehirn austrocknen, und auf diese Weise geraten die Menschen in Wahnsinn und Verdummung.
Lullus, Monaco (Staatsbil.), 10593 f. 2v
Die andere ist die künstliche Memoria, welche eine zweifache ist, indem die eine aus Arzneien und Breiumschlägen besteht. Dieses halte ich für sehr gefährlich, weil oft Arzneien verabreicht werden, die der Disposition des Individuums widersprechen und oft überflüssig und von äußerster Roheit sind. Das Gehirn wird davon übermäßig ausgetrocknet und der Mensch wird dann durch Gehirnschaden in Wahnsinn gestürzt, wie wir es in vielen Fällen bemerkt und gesehen haben, und auf diese Weise ist es Gott mißliebig.

Dadurch daß Lavinheta jedoch eine Trennung einführt zwischen "den wahrnehmbaren Dingen, die von den Sinnen erfaßt werden, und den intelligiblen, die allein vom Intellekt erfaßt werden", eröffnete er kurz danach den Weg zur Unterscheidung zwischen zwei Arten von künstlicher Memoria: "Es gibt zwei Arten von künstlicher Memoria, und die erste ist viel leichter als die zweite." Die viel leichtere als die lullianische Methode, auf die Lavinheta sich bezieht, ist jene uns schon bekannte der "lokalen" oder "ciceronianischen" Memoria. Um die Dinge, die in die Sinne fallen, und die Produkte der Imagination zu erinnern, wird entsprechend den traditionellen Regeln auf die {räumlich} angeordneten Orte und die Plazierung der Bilder in den Orten zurückgegriffen. "Man muß bestimmte Orte in einem vertrauten Raum festlegen, etwa in einer Kirche, einem Kloster oder einem Haus der eigenen Stadt". Natürlich taucht wieder die Regeln zur Ordnung der Orte und zur Plazierung {R:collocazione} der similitudines oder Bilder in den Orten auf. Es erscheinen wieder die gewohnten Themen der Ikonologie, der die Aufgabe zugeschrieben wird, der Memoria die "intellektualen Dinge" zu repräsentieren und zurückzurufen. Um im Geist Sätze (zum Beispiel "Dominus est illuminatio mea et salus mea") zu fixieren, wird man sich ausgiebig der emblematischen Figuren bedienen: "man soll an dem bezeichneten Ort das feierliche Bild eines Mannes stellen, der gut gekleidet ist und in einer Hand ein Licht und in der anderen Salz hält, und obwohl sale und salute verschiedene Dinge bezeichnen, wird dennoch durch jene gewisse Ähnlichkeit, welche die beiden Begriffe in voce haben, die eine Sache zur Erinnerung der anderen führen".
Angesichts der Gegenstände der Spekulation, jener Dinge also, "die nicht nur von den Sinnen sondern auch von der Imagination weit entfernt sind", erweist sich die "ciceronianische" Technik der Memoria als unzureichend. In diesen Fällen muß man auf einen zweiten komplizierteren Typ von künstlicher Memoria zurückgreifen, nämlich auf die von Lull ersonnene ars generalis. Hier - so versichert Lavinheta, indem er die alte ciceronianische Terminologie einem neuen Gebrauch anpaßt - werden alle möglichen Gegenstände des Wissens "in wenigen Orten untergebracht", und mittels der Prinzipien, der Figuren, der Regeln und der questiones kann der Memorialartist sich auf dauerhafte Weise alles Wißbaren bemächtigen.
7. Die memorative Logik.
Für Lavinheta ist die Kombinatorik von Lullus gleichzeitig Logik und Mnemotechnik. Auf der einen Seite ist sie das "Universalinstrument", durch das alle Prinzipien der Einzelwissenschaften überprüft werden können; auf der anderen wird sie mit der ars reminiscendi als einem großen System identifiziert, das viel weitreichendere Anwendungsmöglichkeiten als die ars memoriae ciceronianischer Herkunft bietet. Positionen dieser Art konnten in verschiedenen Bereichen tiefgreifende große Auswirkungen haben. Dreißig Jahre vor der Veröffentlichung des Werkes von Lavinheta, um 1510 herum, hatten sich an der Universität Krakau die Vertreter des akademischen Lehrkörpers versammelt, um die Stichhaltigkeit der Anklage auf Magie zu überprüfen, unter die der Franziskaner Thomas Murner gestellt war, Autor einer 1509 veröffentlichten Logica memorativa, chartiludium logicae sive totius dialecticae memoria. In dieser Schrift, welche die Kombination eines Systems von Begriffen mit einem parallelen System bildhafter Symbole propagierte, waren die lullianischen Einflüsse evident . Der von Johannes von Glogau verfaßte Abschlußbericht über das Verhör ist ein Dokument, das würdig ist, in Erinnerung gebracht zu werden. Besser als jeder lange Vortrag gibt uns dieser Bericht einen genauen Eindruck von der weiten Verbreitung (auch in den akademischen Milieus) dieser Art von Diskussionen und vermag uns zugleich das Vorhandensein jener Verbindung zwischen Logik und Mnemotechnik zu zeigen, die sich vor allem an den deutschen Universitäten der Renaissance immer mehr festigte:
Ich, Magister Johannes von Glogau, Mitglied des Kollegiums der Universität von Krakau, bezeuge, daß der Pater Thomas Murner, Deutscher, ... bei uns dieses chartiludium eingerichtet, vorgetragen und zu solcher Vollendung gebracht hat, daß im Zeitraum von einem Monat Menschen, die vorher roh und unwissend waren ... so gelehrt und erinnerungskräftig wurden, daß in uns, was den schon genannten Pater betrifft, ein starker Verdacht entstand: daß dieser, statt die Vorschriften der Logik zu unterrichten, etwas weitergegeben habe, was mit der Magie zu tun hat.
Die Idee einer logica memorativa oder wenigstens einer substantiellen Affinität zwischen Logik und Kunst der Memoria liegt all den in der europäischen Kultur vom Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bis zu Leibniz immer wieder unternommenen Versuchen zugrunde, das lullianische Erbe zu benutzen, um eine ars generalis zur Vereinheitlichung des Wissens und ein mnemonisches System oder eine Enzyklopädie aller Wissenschaften zu konstruieren. Die Reform der Logik durch Bruno und der Enzyklopädismus von Alsted bewegen sich in dieser Hinsicht auf gemeinsamen Terrain. Es ist sicher kein Zufall, daß sich unter den Quellen der "Charakteristik" von Leibniz neben den Haupttexten des europäischen Lullismus nicht wenige erstrangige Werke der ars reminiscendi finden.
Etwas anderes soll schließlich noch unterstrichen werden: der Verdacht auf Magie, der den guten Murner getroffen hatte, war zumindest teilweise vollauf gerechtfertigt. Die memorative Logik, die Kombinatorik, die ars inveniendi und die ars reminiscendi verbanden sich häufig zu Projekten der Gründung einer Wunderkunst, die wie durch einen Geheimgang schnellstens in die verborgenen Schlupfwinkel der Natur zu führen konnte. Auch die Logik oder Ars von Bruno, die tief mit dem Lullismus, mit der "memoria", der Kabbala und der Emblematik verbunden war, wird einem Produkt der Magie ähnlich erscheinen: Pius V, Heinrich III von Frankreich, der spanische Botschafter am Hofe von Rudolf II und Giovanni Mocenigo werden in Bruno den Erfinder und Inhaber einer Geheimkunst sehen, welche die Macht hat, die Herrschaftsmöglichkeiten des Menschen ins Grenzenlose zu erweitern. Vom Verdacht der Magie wird diese Art von "Logik" sich erst ziemlich spät befreien. Noch Leibniz bemühte sich in der Historia et commendatio linguae charactericae universalis, indem er die "wahre" von der "falschen" Kabbala unterschied, die Kombinatorik von dem Vorwurf der Magie zu befreien. "Schon seit Pythagoras waren die Menschen überzeugt, daß die größten Geheimnisse in den Zahlen verborgen liegen. Und man darf glauben, daß Pythagoras mit vielen anderen Dingen diese Meinung aus dem Orient nach Griechenland eingeführt hatte. Aber da sie den wahren Schlüssel des Geheimnisses nicht kannten, sind die Neugierigsten auf die Nichtigkeiten und abergläubischen Meinungen hereingefallen, aus denen jene gewisse von der wahren weitab liegende vulgäre Kabbala und die vielfältigen bücherfüllenden Lappalien unter jenem gewissen falschen Namen Magie entstanden sind."