DRITTES KAPITEL
Die Welttheater

1. Symbolismus und Ars memoriae
Nicht wenige Exponenten der Kultur des späten sechzehnten Jahrhunderts identifizierten die lullianische Kombinatorik mit einer memorativen Logik. Diese präsentiert sich einerseits als ars ultima oder instrumentum universale, das alle Prinzipien der Einzelwissenschaften einer Prüfung zu unterwerfen in der Lage ist, andererseits als ein System der ars reminiscendi, das das Fundament eines vollständigen mnemonischen Systems oder einer Enzyklopädie des Wissens bildet. In dieser Hinsicht kann auch die ars memoriae rhetorischer oder "ciceronianischer" Herkunft - neben der Kombinatorik und der Mnemotechnik lullianischer Herkunft - als wesentliches Element für die Konstruktion der Pansophie erscheinen. Der neuen Logik mit ihrer Macht, die Strukturen der Welt widerzuspiegeln, mußte eine universale Enzyklopädie oder ein universales Theater als ihr natürliches Komplement entsprechen. Gemeinsame Vorausaussetzung dieser Logik und dieses universalen Theaters ist eine "spektakuläre" oder "spekulare" Lehre von der Wirklichkeit: die These einer perfekten Korrespondenz zwischen termini und res, zwischen Logik und Ontologie.
Im vorigen Kapitel habe ich versucht, die Grundlinien der Entwicklung der Tradition des Lullismus während des sechzehnten Jahrhunderts nachzuzeichnen. Auch innerhalb der komplexen Tradition der rhetorischen und "ciceronianischen" Mnemotechnik (deren Verbreitung sich gleichzeitig mit der des Lullismus vollzieht) treten zwischen den letzten Jahren des fünfzehnten und den ersten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts einige entscheidende Mutationen ein. Diese betreffen nicht den technischen Apparat der mnemonischen Kunst, der in der Substanz unverändert bleibt (auch wenn er sich um zahlreiche Kunstgriffe erweitert), sondern die Bedeutung, die Kunst allmählich innerhalb der kulturellen Welt annimmt.
Jene ars memoriae, die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert als ein für die Prediger nützlicher Kunstgriff oder als eine von Politikern, Gelehrten und Juristen benutzbare Technik angesehen worden war, wird zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts in einigen Kreisen eine ganz andere Bedeutung annehmen. In den Werken von Bruno erscheint sie zum Beispiel verbunden mit einer exemplaristischen und neoplatonischen Metaphysik, mit Motiven der Kabbala, mit Diskussionen über die Beziehungen Logik-Rhetorik, mit den Idealen der Pansophie und mit den Bestrebungen des Lullismus. Indem sich die ars memoriae mit diesen Bewegungen und Strömungen verbündete, begann sie sich mit metaphysischen Bedeutungen aufzuladen und wurde sie verschiedenen Ansprüchen des {neuen} Denkens angepaßt. Jene Durchsichtigkeit des Ausdrucks und jene Klarheit, die die Texte von Cicero, Quintilian, von Albertus, Thomas und Peter von Ravenna charakterisiert hatten, verschwinden in der Traktatliteratur nach der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts; eine Vorliebe barocken Typs für Hieroglyphen, Alphabete, Symbole, Bilder und Allegorien wird nun beherrschend. Zwischen den Werken aus dem fünfzehnten Jahrhundert über die Memoria oder denen des Peter von Ravenna auf der einen Seite und Schriften von Bruno auf der anderen besteht in dieser Hinsicht ein unüberbrückbarer Abstand. Im ersteren Fall wohnen wir dem Versuch bei, mit rationalen Mitteln eine auf der Untersuchung der mentalen Assoziationen gegründete rhetorische Technik zu entwickeln; im zweiten befinden wir uns einem komplexen Symbolismus gegenüber, der als Schleier für eine verborgene und nur durch die Ambiguität der Embleme und die Allusivität der Bilder, der Siegel und der Impresen hindurch erreichbare Weisheit dient. An die Stelle eines im Hinblick auf praktische Ziele konstruierten Instruments ist die Suche nach einer Chiffre oder nach einem Schlüssel getreten, der in das letzte Geheimnis der Dinge einzudringen erlaubt.
Um die Mitte des Jahrhunderts beschäftigen sich nicht mehr nur die Theoretiker der Rhetorik oder die Erforscher der Dialektik mit der ars memoriae : Cornelius Agrippa, Giulio Cesare Camillo, Giovambattista Della Porta, Cosma Rosselli und Giordano Bruno sehen in den Regeln der Memoria Mittel zu viel umfassenderen Zielen als denen der Rhetorik oder Dialektik. Bei jedem dieser Autoren entdecken wir die Themen des Lullismus und der Kabbala, der Magie und der Astrologie, so wie die Erbschaft der Ars notoria, der hermetischen Texte und der Werke von Pico und Ficino. Als Kommentator von Lullus und Erneuerer der Ars memoriae sieht Bruno die Theologie des Scotus Eriugena, die Kombinatorik, die Mysterien des Cusanus und die Medizin des Paracelsus aus einer "gemeinsamen Quelle" entspringen. Das waren zu seiner Zeit schon weit verbreitete Positionen und Hinweise: in der Mitte des Jahrhunderts hatte in Paris De usu et mysteriis Notarum Liber (1550) das Licht erblickt; verfaßt hatte es Jacques Gohory (Leo Suavius), Advokat am Pariser Parlament und Diplomat, großer Kommentator der paracelsischen Werke und Übersetzer des Principe und der Discorsi von Machiavelli, sowie Erforscher der Alchemie, der Botanik und der Musiktheorie. In seiner Erörterung der Zeichen verweist er beständig auf die Magie des Trithemius, auf die christliche Kabbala, auf die Ars notoria, auf die Werke von Pico und Ficino, auf die ars memoriae, auf die lullianische Kombinatorik und auf das Theater der Welt von Giulio Camillo. Seine Position ist bezeichnend für jenen von uns erwähnten Bewertungswandel. Doch bevor Schlußfolgerungen gezogen werden, sollten wir die Verbreitung einiger besonders erfolgreicher italienischer Werke verfolgen; sollten wir einige jener Theater der Welt betrachten, in denen die Themen der Kabbala und die eines Enzyklopädismus auf metaphysischer Grundlage sich den originären mnemo-rhetorischen Intentionen überlagern; sollten wir schließlich uns bei den Werken aufhalten, in denen die Themen der lullianischen Kombinatorik und die der mnemonischen Kunst in ganz offensichtlicher Weise zusammenfliessen.
2. Verbreitung der Ars memoriae in England und Deutschland
Nach gehöriger Unterweisung durch die Dame Logik setzt der Held des ungewöhnlichen allegorisch-didaktischen Gedichts, der Pasttime of Pleasure von Stephen Hawes, seine Aufstieg im Turm der Doctrina fort und tritt in das Zimmer der Dame Rhetorik ein. Nachdem diese akkurat die fünf Teile der Rhetorik aufgezählt und die Verbindungen zwischen ihnen und den verschiedenen Fakultäten der Seele erhellt hat, drückt diese gelehrte Dame sich hinsichtlich der Memoria wie folgt aus:
Yf to the orature many a sundry tale
One after other treatably be tolde
Than sundry ymage in his closed male
Eache for a mater he doth then well holde
Lyke to the tale he doth than so beholde
And inwarde a recapitulacyon
Of eche ymage the moralyzacyon
Whiche be the tales he grounded pryvely
Upon these ymages sygnyfycacyon
And whan tyme is for hym to specyfy
All his tales by demonstracyon
In due ordre maner and reason
Than eche ymage inwarde dyrectly
The oratoure doth take full properly
So is enprynted in his propre mynde
Every tale with hole resemblaunce
By this ymage he dooth his mater fynde
Eche after other withouten varyance
Who to this arte wyll gyve attendaunce
As thereof to knowe the perfytenes
In the poetes scole he must have intres.
In diesem 1509 in London publizieren Werk wurde zum ersten mal in englischer Sprache die Lehre der klassischen Rhetorik formuliert. Auch wenn im Hinblick auf eine "Poetik" formuliert, konnte der Hinweis auf die Lehre von den Orten und Bildern nicht bestimmter sein. Der Versuch, die Terminologie der Rhetorica ad Herennium den besonderen Erfordernissen der Ars poetica anzupassen, war in England nicht ohne Vorläufer; in dieser Hinsicht bildet (wie Howell gezeigt hat) die Poetria Nova, die von Geoffrey of Vinsauf zwischen 1208 und 1213 verfaßt worden war, eine der Hauptquellen des Gedichtes von Hawes. Die Bedeutung, die Hawes der ars reminiscendi im Hinblick auf die Bildung des Poeten zuweist, kann eine substantielle Veränderung in den Bewertungen der Funktion bestätigen, die die ars memoriae innerhalb der ars rhetorica ausübt. Dergleichen Veränderung als Anzeichen für das Auftauchen eines neuen Interesses an den Techniken der Memoria können wir begegnen, wenn wir die dritte Ausgabe (1527) des Mirrour of the World von William Caxton sowohl mit den beiden vorangehenden Ausgaben (1481 und 1491) vergleichen, als auch mit dem Livre de clergie nommé l'ymage du monde (1245?), dessen mehr oder weniger getreue Übersetzung das Werk Caxtons ist. In dieser dritten Ausgabe finden wir neben einer ganz kurzen Abhandlung von der Invention, der dispositio und vom Stil und neben weitläufigeren Erörterungen der pronuntiatio eine detaillierte Darstellung der memorativen Techniken, in der mit einer Fülle von Details wohlbekannte Themen wieder auftauchen: der Vergleich zwischen der Ars und der Schrift, die Lehre von den Orten und Bildern und die Verweis auf die "körperlichen" Bilder.
Das Interesse an dieser Art von Erörterungen ist eng mit dem Wiederaufblühen der großen Tradition der klassischen Rhetorik im englischen Humanismus verbunden, ein Wiederaufblühen, das in vieler Hinsicht mit rapiden Veränderungen der englischen Gesellschaft verbunden ist: mit dem Auftauchen der Juristen auf der politischen und kulturellen Szene, mit den Debatten über die Wirksamkeit der religiösen Predigen und mit den parlamentarischen Kontroversen. An den Schulen und colleges nimmt zwischen der Mitte des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts der Unterricht in der Rhetorik und in der "Methode der Übermittlung des Wissens" eine alles beherrschende Position ein. Ein grundlegendes Werk, die Pleusant and Persuadible Art of Rhetorique von Leonard Cox, wurde 1532 als ein für Advokaten, Botschafter, Lehrende und für all jene unentbehrliches Werk präsentiert, die vor einer Versammlung zu sprechen hätten. Der Verbreitung des Ideals des Höflings und des Edelmannes (ein Experte sowohl in "Courtoisie" als auch in "Politik") entspricht die Vervielfältigung der Handbücher für Rhetorik und die Intensivierung einer Diskussion, die zusammen mit den "guten Manieren" auch Probleme in Bezug auf die "Persuasion", die "Toleranz" und das bürgerliche Zusammenleben betraf. Nur wenn man sich diese Atmosphäre vergegenwärtigt, kann die Bedeutung der scharfen und lebhaften Polemik klar werden, die sich in den letzten Jahren des Jahrhunderts zwischen ramistischen Reformatoren und hartegesottenen Anhängern der scholastischen Logik und der ciceronianischen Rhetorik entwickeln wird.
Viele der Motive, die wir in den Schriften von Hawes und Caxton vorgefunden haben, waren zweifelsohne aus klassischen und, wenn auch nur teilweise, mittelalterlichen Quellen geschöpft. Aber es fehlte auch in diesem besonderen kulturellen Bereich nicht an einer direkten italienischen Einwirkung: sie zeigt sich nicht nur in dem Einfluß, den die Nova Rhetorica von Guiglielmo Traversagni da Savona (1479) in England ausübte, sondern auch in der um 1548 erfolgten Veröffentlichung einer Art of Memory That Otherwise Is Called The Phoenix. Von Robert Copland als Übersetzung einer anonymen französischen Schrift vorgestellt, war dieses Büchlein in Wirklichkeit (wie schon Howell festgestellt hat) die Übersetzung des wohlbekannten Phoenix von Peter von Ravenna.
Copland (B 3 r.)
And for the foundacion of this fyrst conclusyon I wyll put foure rules. The fyrste is this: The places are the wyndowes set in walles, pyllers and anglets, with other lyke. The II rule is. The places ought nat to bere nere togyther not to fare a sonder. The III rule is suche: But it is vyne as me semeth...
Ravenna (3 r.-3 v.)
Und als Fundament dieser ersten Konklusion stelle ich vier Regeln auf. Die erste ist diese: die Orte sind in den Wänden angebrachte Fenster {fenestrae in parietibus positae}, Säulen, Winkel und so weiter. Die zweite Regel ist: die Orte dürfen einander nicht zu nahe oder zu weit sein. Die dritte Regel ist, wie mir scheint, sinnlos {vana} ...

Angesichts dieser Vorgängerschaften erscheint es leicht begreiflich, wie eins der erfolgreichsten und bedeutendsten Werke der Kultur des sechzehnten Jahrhunderts, die Arte of Rhetorique von Thomas Wilson (1553), sich auf italienische Quellen beziehen konnte, indem es einen Typ von Exemplifizierung entwickelte, der, während er auf der einen Seite mehr an die Werke des Ravennaten erinnert, auf der anderen mit dem beständigen Gebrauch von Bildern mythologischer Gestalten einige typische Konstruktionen von Giordano Bruno vorwegzunehmen scheint:
Ich werde zum Beispiel folgende Orte in meinem Zimmer einrichten: Eine Tür, ein Fenster, ein Tisch, ein Bett, ein Kaminchen. In die Tür stelle ich Caco den Räuber, in das Fenster Venus, auf den Tisch den berühmten Vielfraß Apico, auf das Bett Richard III von England oder einen anderen berühmten Mörder, neben den Kamin den schwärzlichen Smith oder einen anderen berühmten Verräter.
Mehr noch als in England fand die ciceronianische Kunst der Memoria im Lauf des sechzehnten Jahrhunderts in Deutschland weite Verbreitung. Hier gab es außer dem gewohnten Einfügen der memorativen Technik in die allgemeinen Abhandlungen zur Rhetorik eine regelrechte Blüte von einschlägigen Werken: 1504 kam in Straßburg eine Ars memorativa S. Thomae, Ciceronis, Quintiliani, Petri Ravennae heraus, die den Peter endgültig unter die Klassiker der Ars versetzt; 1505 veröffentlichte Sibutus in Köln eine Ars memorativa; von 1510 ist der in Leipzig veröffentlichte Ludus artificialis oblivionis von Simon Nikolaus aus Weiden {?,Weida} : in Venedig erschien zehn Jahre später ein erfolgreiches, ganz nach dem Werk des Ravennaten modelliertes und später in Italien in der Übersetzung von Ludovico Dolce verbreitetes Büchlein: das Congestiorium artificiosae memoriae von Johannes Romberch ; in Straßburg publizierte 1525 Fries eine Ars memorativa; ebenfalls in Straßburg erblickten 1541 und 1568 jeweils die Memoria artificialis von Riff und die Praecepta de naturali memoria confirmanda von Mentzinger das Licht; schließlich kam 1570 in Wittenberg, das das Zentrum der Verbreitung der Lehre des Ravennaten gewesen war, das Libellus artificiosae memoriae in usum studiosorum von Johannes Spangerbergius heraus. Es wurde öfters wiedergedruckt und 1610 in das Gazophilacium von Schenkel aufgenommen, einer Textsammlung, die in ganz Europa zirkulierte.
Die scharfe Polemik des Cornelius Agrippa gegen Anwendung und Mißbrauch der mnemonischen Künste erscheint leicht erklärbar, wenn man sich die regelrechte Invasion von mnemotechnischen Werken in das deutsche kulturelle Leben des sechzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigt. Indem er Cicero, Quintilian, Seneca, Petrarca und Peter von Ravenna die Verantwortlichkeit für diese "frenetischen Manie" zuschob, wetterte Agrippa nicht nur gegen eine Art von Unterricht, die die Schüler in gymnasiis unterdrückte, sondern auch gegen eine Technik, die es, statt auf die wahre Weisheit, auf den "kindischen Ruhm der Schaustellung" abgesehen hatte; aber er wiederholte dabei nur mit besonderer Nachdrücklichkeit das alte Argument aller Gegner der Mnemotechnik, dasgleiche Argument, gegen das fünfzig Jahre später Bruno erbittert polemisieren wird:
Die künstliche Memoria ist nicht im geringsten in der Lage, ohne die natürliche zu bestehen, und letztere wird häufig so sehr durch monströse Bilder verstopft , daß oft eine Art von Manie und Frenesie im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit der Memoria entsteht; so kommt es dann, daß die Kunst, indem sie die natürliche Memoria mit unzähligen Bildern für Worte und Dinge überlädt, jene in den Wahnsinn führt, die sich nicht mit den von der Natur gesetzten Grenzen abfinden können .
Das war eine seltsame Stellungnahme angesichts der Tatsache, daß diese Gegenüberstellung der Rechte der Natur und der gottlosen Anmaßungen der Kunst von einem der wärmsten und leidenschaftlichsten Anhänger der lullianischen Ars stammte, von einem Mann, der nicht wenige seiner Energien einer "Vervollkommnung" des komplizierten Gerüsts der ars magna gewidmet hatte.
Das Werk Agrippas stammt von 1530. Zwei Jahre danach nahm in den Rhetorices elementa der größte Theoretiker der Logik und Rhetorik der Reformation, Melanchton, gegenüber der ars memoriae eine nicht unähnliche Position ein. Auch ohne die scharfe Polemik Agrippas denunzierte Melanchton die substanzielle Sterilität jeder Technik zur Vervollkommnung der natürlichen Memoria. "Die Dinge, die inveniert und geordnet disponiert worden sind, werden schließlich durch die Worte ausgedrückt. Mit diesen drei Teilen erschöpft sich jede Kunst. Zu den anderen zwei Teilen bieten wir keine Vorschriften, weil der Memoria kaum von der Kunst geholfen werden kann."
Indem er auf der einen Seite auf der Verbindung zwischen der cogitatio und der dispositio bestand und auf der anderen auf der Funktion der topica im Hinblick auf eine Ordnung der ursprünglich in magno acervo verstreuten Begriffe, berief sich Melanchton genau auf jene doppelte These von der Ordnung und von der Begrenzung, auf die die Lehre von den Orten und folglich die gesamte Mnemotechnik gegründet war. In Wirklichkeit besteht, wie Bacon scharfsinnig bemerken sollte, zwischen der als Mittel der Ordnung der Begriffe verstandenen topica und der Lehre der Kunst der Memoria eine ziemlich enge Verbindung . Aber davon weiter unten mehr. Was hier hervorgehoben werden soll, ist die geringe Wirkung, die Stellungnahmen von der Art Agrippas und Melanchtons auf die deutschen Kreise hatten: nicht nur werden sich in Deutschland die der ciceronianischen Mnemotechnik gewidmeten Traktate weiterhin verbreiten, sondern nach dem Zusammenfließen der "klassischen" Tradition und der des Lullismus wird dieser Typ von Produktion im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts neue Kraft schöpfen, indem es ihm gelingt, einige der größten Persönlichkeiten der deutschen Kultur heimzusuchen.
3. Spangerbergius
Das Libellus artificiosae memoriae in usum studiosorum collectus von Johannes Spangerbergius, 1570 in Wittenberg publiziert, kann als ein Beispiel für die Vitalität genommen werden, mit der in deutschen kulturellen Kreisen des späten sechzehnten Jahrhunderts die Thematik der Ars memorativa auftritt. Der Autor dieses kleines Werkes (das vielleicht die klarste Darstellung der ars reminiscendi des sechzehnten Jahrhunderts ist) stellt keine Ansprüche auf Originalität. "Ich habe diese kleine Abhandlung über die künstliche Memoria geschätzten Autoren entnommen und habe sie als Kompendium zusammengefaßt." Diese katechismusähnlichen Präsentation der Kunst sorgt sich um zwei Dinge: die Kunst klar und schnell erlernbar zu machen, und sie so abzuhandeln, daß sie neben den klassischen Quellen auch neuere, sowohl rhetorische wie auch medizinische berücksichtigt. Bei einigen der Definitionen und Regeln des Spangerbergius lohnt es sich zu verweilen, auch weil sie uns den Schlüssel zum Verständnis vieler der in den Werken von Giordano Bruno formulierten Positionen liefern. Neben den legendären "Heroen" der Memoria (Simonides und Themistokles, Crassus und Cirus, Cineas und Carneades) erinnert der Autor an Cicero, Quintilian und an Seneca und beruft sich auch auf Peter von Ravenna, den der häufig zitiert, wobei er seinen Namen neben den des Cusaners stellt. Der "Lullist" Cusanus wurde so zu einem der Meister der mnemonischen Kunst: die Vorstellung, daß die Ziele der ars Raimundi mit jenen der ars memoriae zusammenfielen, gewann offensichtlich an Kraft und sollte zu jener besonderen Wertschätzung der lullianischen Kombinatorik führen, die typisch für die Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts ist, um dann unverändert bis zur Historia critica philosophiae von Bruckner zu gelangen.
Nachdem Spangerbergius die Memoria als comprehensio earum que praeterierunt und als retentio und conservatio definiert und zwischen natürlicher und künstlicher Memoria unterschieden hat, nimmt er unmittelbar Stellung gegen die Anklage einer Unzulänglichkeit der Ars angesichts einmal der Vollkommenheit und dann der Unvollkommenheit der natürlichen Memoria: im ersten Punkt verneint er die Vollkommenheit der natürlichen Memoria, im zweiten setzt er ihre Perfektibilität durch die Kunst mit der größeren oder kleineren Vollkommenheit der angeborenen Gaben in Beziehung. Die künstliche Memoria dient sowohl dem Erlernen der Wissenschaften wie auch jenem vorübergehenden Behalten der Themen, das für den Poeten, den Unterrichtenden, den Redner und den Advokaten unabdingbar ist. Neben der normalen Vergeßlichkeit "der Spezies der vergangenen Dinge" (durch "Korruption" ) unterscheidet Spangerbergius zwei Arten von "pathologischer" Amnesie: die eine rührt von der Übermacht der Leidenschaften, der Krankheiten und des Alters her ({Amnesie} durch Diminution), die andere von der ablatio oder einer Verletzungen der zerebralen Organe. Während zur Vorbeugung gegen die corruptio die Benutzung der Orte und Bilder nützlich ist, müssen gegenüber der diminutio und ablatio die Vorschriften der Rhetorik vor denen der Medizin zurücktreten. Auf den Spuren der Rhetorica ad Herennium und des Phoenix des Ravennaten wird die Lehre der Orte und Bilder nach den traditionellen Regeln entwickelt: neben einer Unterscheidung der Orte nach drei Grundtypen zählt der Autor zehn "Regeln" über ihre Eigenarten auf, die in der Substanz der Schrift des von Ravenna entnommen sind. Auf diegleichen Werke geht die Theorie der Bilder zurück: neu ist nur die Unterscheidung zwischen imagines rerum und imagines vocum. Von einem "theoretischen" Teil der Mnemotechnik unterscheidet Spangerbergius, wie später Bruno, einen praktischen (praxis memoriae), in dem die Regeln der theoretischen Abteilung mithilfe die Entwicklung einer Reihe von Beispielen oder Modellen auf besondere Fälle angewandt werden. In seinem Bemühen um die Herstellung der Bilder konstruiert Spangerbergius in dichotomischer Manier die folgende Tabelle aller möglichen Arten von dictiones.
Omnis dictio
aut est ignota aut
nota aut est res invisibilis aut
visibilis vel est accidens vel
substantia
vel est inanimata
vel animata
est nomem commune
vel proprium
Der erste der sechs Fälle ist jener der dictio ignota : an die Stelle der dictio, deren Bedeutung unbekannt ist, kann man, indem man auf eine vocalis similitudo zurückgreift, eine dictio nota setzen, die ein sichtbares Ding in lautlicher Ähnlichkeit bezeichnet (wie wenn man ein "palam instrumentum" {oder etwa einen "Hauptmann" in Uniform} benutzt anstelle von "praepositio palam" {oder von "Hauptwort"}), oder man kann in den Fällen, in denen die Möglichkeit einer vokalen oder lautlichen Ähnlichkeit fehlt, per inscriptionem vorgehen, indem man nämlich an die Stelle eines jeden Buchstaben, die den Begriff bilden, ein vorher vereinbartes Bild setzt. Der zweite Fall ist jener der dictio nota rei invisibili (z.B. der Begriff "Gerechtigkeit"); man kann sich hier außer des figmentum und der inscriptio auch der comparatio und der similitudo bedienen, wobei man das benutzt, was in moderner Sprache Assoziationsgesetze heißt ("das Schwarze führt zur Kenntnis des Weißen, das Tintenfaß ruft den Schriftsteller ins Gedächtnis"). Der dritte Fall ist jener der dictio nota einer res visibilis, die ein accidens ist: hier greift man auf das subiectum principale zurück ("also auf das Weiße für den Schnee" usw.). Der vierte Fall ist jener der dictio nota einer res visibilis die eine substantia inanimata ist: diese ist durch das Bild einer Person ausdrückbar, "die diese Sache handhabt". Der fünfte Fall ist die dictio nota einer res visibilis, die eine durch ein nomine comune ausgedrückte substantia animata ist: das Bild wird nach den "ciceronianischen" Regeln durch den Hinweis auf eine "persona nota" konstruiert. Der sechste Fall schließlich ist jener der dictio nota einer res visibilis, die substantia animata ist, ausgedrückt durch ein nome proprio: im Rückgriff auf die Ikonologie findet hier das Bild eines Mannes in besonderem Habit und besonderer Positur seinen Platz (mit Schlüsseln: im Falle von Petrus; mit einem Schwert in der Hand: im Falle von Paulus).
Die Klassifikation ist in Wirklichkeit viel komplizierter als aus dieser Übersicht hervorgeht: einmal werden die verschiedenen Arten von similitudo und figmentum unterschieden , dann findet sich die wirkliche Ausübung der praxis mnemonica komplizierteren Fällen als den gerade vorgestellten gegenüber, die aus der Verflechtung verschiedener Typen von dictio in einem und demselben Satz oder Diskurs resultieren. Aber man sollte nach so vielen Schemata doch auf die Lebhaftigkeit der Bilder verweisen, denn hier zeigt sich noch einmal die Beziehung zwischen der Praxis der ars memorativa und der "Vision" bekräftigt, zwischen der Lehre von den Orten und Bildern und jener Ikonologie, jenen Symbolen, jenen Emblemen, an denen sich Bruno und mit ihm die Kultur eines ganzen Jahrhunderts delektieren wird. "Wenn du dich dieser Namen erinnern möchtest: Peter, Peitsche, Hund, Schwein, Wasser, Wurm, Sand, formst du diese imaginöse Verkettung: Petrus schlägt einen Hund mit der Peitsche, der Hund, darob verärgert, beißt ein Schwein. Das Schwein wirft auf der Flucht einen Krug um, auf dessen Grund sich Würmer befinden, die sich im Sand verstecken." Vielleicht sollte man auch diese Art von Werken berücksichtigen, wenn man anläßlich der Kultur des späten sechzehnten Jahrhunderts vom "Barock der Bilder" spricht.
4. Die mnemonische Medizin des G. Gratarolo
Auf eine ganz andere, von Aristotelismus, Magie und okkulter Medizin durchtränkte Atmosphäre beziehen sich die der Memoria gewidmeten Kapitel des Arztes und Gelehrten Guglielmo Gratarolo aus Bergamo {Lombardei}, dem von verschiedenen Gesichtspunkten aus Church und Thorndike ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben. Nachdem er nach seiner Konversion zum Protestantismus nach Basel geflohen war, veröffentlichte Gratarolo 1553 in Zürich und dann 1554 in Basel seine (Maximilian gewidmeten) Opuscula , die neben einem Traktat über Physiognomie und einer Abhandlung zu den prognostica tempestatum ein Manual der ars memoriae enthielten. Nachdem es 1555 ins Französische und 1563 in Englische übersetzt, 1558 neu aufgelegt und 1603 in die Introductiones apotelesmaticae des Johannes ab Indagine eingefügt worden war, sollte das Büchlein von Gratarolo großen Erfolg haben, indem es sich in die Traktalliteratur der mnemonischen Medizin einordnete, die sich auf Avicenna und Averroës berief. Obwohl er an der Veröffentlichung von magischen und alchemistischen Texten interessiert war (Gratarolo wurde Herausgeber von pseudolullianischen Werken, von Arnold von Villanova und von Giovanni Rupescissa), vermied unser Arzt jeden Hinweis auf die ars notoria und berief sich, wie üblich, einerseits auf Albertus Magnus und Averroës, andererseits auf die Rhetorica ad Herennium. In Wirklichkeit - was Thorndike nicht bemerkt hat - plündert Gratarolo umfassend eine italienische Abhandlung von 1481 aus: De omnibus ingeniis augendae memoriae von Giovanni Michele Alberto da Carrara. Die zwanzig allgemeinen Vorschriften der Kunst im sechsten Kapitel des kleinen Werkes von Gratarolo (philosophica consilia, canones, et reminiscentiae praecepta) und fast das ganze siebte Kapitel sind in der Tat mit kleinen stilistischen Abweichungen dem schon erwähnten Werk von Carrara entnommen. Man sehe zum Beispiel die Definition der vier "Bewegungen", die die Memoria konstituieren und den gemeinsamen Verweis auf Cicero und Thomas:
Carrara (f. 70 r, 73 r)
Beim Erinnern kommen vier Bewegungen ins Spiel: die Bewegung des Geistes, der die Figuren aus der kogitativen Region in die memorative transportiert; das Bild und die Fixierung der Figuren in eben der Memoria; das Zurückbringen (durch die Geister) aus dem memorativen Region in die kogitative; der Akt des Wiedererkennens, in dem eigentlich das Erinnern besteht... Die künstliche Memoria besteht, wie Cicero im zweiten Ad Herennium sagt, aus Orten, die wie das Wachs und das Täfelchen sind, und aus Bildern, die wie die Figuren der Lettern sind. So kann es geschehen, daß wir, als ob wir lesen würden, das restituieren, was wir aufgenommen haben. Cicero glaubte, daß hundert {Orte} genügen würden, der selige Thomas meint, daß man mehr haben solle.
Gratarolo
Beim Erinnern kommen vier Bewegungen ins Spiel: die erste ist die Bewegung des Geistes, der die Spezies oder Figuren aus der kogitativen Region in die memorative transportiert. Die zweite ist das Bild oder die Fixierung der Figuren in eben der Memoria. Die Dritte ist das Zurückbringen (durch die der Geister) aus der memorativen Region in die kogitative oder rationative. Die vierte ist der Akt, der wiedererkennt, und in dem eigentlich das Erinnern besteht... Die künstliche Memoria besteht, wie Cicero im zweiten Ad Herennium sagt, aus Orten, die wie das Wachs und das Täfelchen sind, und aus Bildern, die wie die Figuren der Lettern sind. So pflegen wir, als ob wir lesen würden, das zu restituieren, was wir aufgenommen haben. Cicero glaubte, daß hundert {Orte} genügen würden, der selige Thomas meint, daß man mehr haben solle.

Die Verweise auf Albertus und Averroës verlieren angesichts einer solchen Quelle viel von ihrer Bedeutung. An Eigenem bleiben gegenüber dem Traktätchen von Carrara außer einem flüchtigen Hinweis auf die Anatomie von Vesalius die zahlreichen und sonderbaren Rezepte zur Stärkung der Memoria: "Es nützt der Memoria und den Augen sehr, sich die Füße häufig in warmen Wasser zu waschen, in dem wir Melisse, Lorbeer und Kamille gekocht haben"). Diese Art von Plünderung von Werken war eine bei den Traktatisten der lokalen Memoria weit verbreitete Aktivität. 1562 (und noch einmal 1586) wurde in Venedig der Dialog, in dem darüber räsonniert wird, wie man die Memoria stärken und erhalten kann von Ludovico Dolce veröffentlicht, einem der fruchtbarsten Polygraphen des sechzehnten Jahrhunderts: es handelt sich trotz der pompösen Präsentation durch Dolce nur um eine Popularisierung des Werkes von Romberch über dengleichen Gegenstand.
5. Lullismus und Kabbala in den "Welttheatern"
Außer bei Bruno gibt es nichts in Italien, was der neuen Wendung entspräche, die Petrus Ramus in Frankreich dem Problem der Memoria gegeben hatte. Dennoch muß man sich bei der Würdigung der wirren und komplizierten Konstruktion von Giulio Camillos (genannt "Delminio") Idea del Theatro (1556) die enthusiastische Zustimmung vergegenwärtigen, die diesem Werk ein Mann wie Patrizi gab, der gerade in dem Theater den Versuch einer "Erweiterung" der Rhetorik und ihrer "Ausdehnung" auf Logik und Ontologie sah: "wegen ihrer {der Rhetorik} Größe verstand er sie nicht in den engen Begriffen der Vorschriften der Meister der Rhetorik, sondern ging über diese hinaus und erweiterte sie, indem er sie auf all die überaus grandiosen Orte des Theaters der ganzen Welt ausdehnte". Indem die Rhetorik sich mit den höchst charakteristischen Themen des Hermetismus, des Neoplatonismus und der Kabbala verflocht, wurde sie hier wahrhaftig, wie bemekrt worden ist, "der Versuch, die rhetorische Artikulationen des Diskurses mit den fundamentalen Strukturen des Seins in Korrespondenz zu setzen". Zweifelsohne kann die nebelhafte Konstruktion des Camillo, den großen Werken der Rhetorik des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gegenübergestellt, nicht anders erscheinen als "die Parodie von allem, was die Renaissancetheoretiker auf strenge Weise versucht hatten." Und dennoch: auch wenn die durch das Erscheinen dieser "Parodie" hervorgerufenen leidenschaftlichen Polemiken und das Interesse von François I sowie die Begeisterung von Patrizi und Bartolomeo Ricci für die Maschine des Camillo als Modeerscheinung verstanden werden können, ist es doch nicht möglich, den Erfolg des Delminio ganz und gar in einer Sittengeschichte aufgehen zu lassen. Während die Idee eines Theaters, "in dem über Stellen {lochi -» Zitate} und Bilder alle jene Orte disponiert werden sollen, die notwendig sind, um alle menschlichen Begriffe sowie alle Dinge aller Welt im Geiste zu behalten und zu verwalten", sich auf die ziemlich verwandte Idee der ars reminiscendi bezieht, zeigt sie zugleich, wie gerade durch die zweideutige Annäherung an die Lehren der Kabbala eben diese ars reminiscendi sich schließlich einem doppelten Projekt verbindet, das vor allem im folgenden Jahrhundert voller ungeahnter Entwicklungen sein wird: dem einer "Universalmaschine" oder eines "Schlüssels" zur Realität und dem einer organischen und geordneten Sammlung aller Begriffe und aller natürlichen Phänomene. Der Gebrauch der Bilder wurde von Camillo mit dem alten magisch-alchemistischen Thema eines geheimen Wissens in Verbindung gebracht : "und wir bedienen uns bei unseren Dingen der Bilder als Bezeichner all jener Dinge, die nicht entweiht werden dürfen." Die Erörterung der Memoria verband sich über die Kabbala mit dem Projekt des Erlangens einer "wahren Weisheit". Aus der Rhetorik den "Spiegel der Welt" zu machen hieß, sich auf eine Zerstörung der memorativen Kunst und dieser Rhetorik selbst hinzubewegen. An die Stelle der Entwicklung einer diskursiven Technik trat das Gebaren des Propheten und Magiers:
Salomon sagt im neunten der Proverbien, die Weisheit habe sich ein Haus gebaut und habe es auf sieben Säulen gegründet. Diese Säulen, die die unverrückbare Ewigkeit bedeuten, haben wir als die sieben Sephirot der überhimmlischen Welt zu verstehen, die die sieben Grade des Gebäudes des Himmlischen und Unteren sind... in denen die Ideen aller Dinge enthalten sind, die dem Himmlischen und dem Unteren angehören. Unser hohes Bemühen ist es also gewesen, in diesen sieben Graden eine Ordnung zu finden, weiträumig, ausreichend und deutlich, die immer den Sinn wach hält und die Memoria durchdringt und nicht nur das Amt versieht, die ihr anvertrauten Dinge, Worte und Künste zu bewahren, sondern die uns auch aus den Quellen die wahre Weisheit gibt, durch die wir zur Erkenntnis der Dinge nach ihren Gründen und nicht nach ihren Wirkungen gelangen.
Indem er die traditionellen Orte der ciceronianischen Mnemotechnik durch "ewige Orte" ersetzte, voll der Kraft, "die ewigen Gründe aller Dinge" auszudrüken, gelangte Camillo also zur Konstruktion eines mnemotechnischen Systems auf astrologisch-kabbalistischer Basis. Das große Amphitheater mit den Sieben Toren präsentierte sich nicht als ein leeres Schema zur Ordnung der Elemente der Realität zu rhetorischen Zwecken. Die Suche nach den planetarischen Charakteren und den "sieben Graden des Baues des Himmlischen und Unteren, in denen die Ideen aller Dinge enthalten sind, die sich im Himmlischen und im Unteren befinden", verwandelte eine Abhandlung über die Kunst der Memoria in eine kosmologische und metaphysische Konstruktion. Wie sich später bei Bruno zeigen wird, treten die "rhetorischen" Ziele entschieden in den Hintergrund.
Wenn nun die alten Redner bei der täglichen Kollokation der Teile der zu rezitierenden Orationen hinfällige Dinge hinfälligen Orten anvertrauten, ist es nur billig daß wir, wenn wir auf ewig die ewigen Gründe aller Dinge bewahren wollen, für sie ewige Orte finden. Unser hohes Bemühen ist es also gewesen, in diesen sieben Graden eine Ordnung zu finden ... Aber in Erwägung, daß es Hand an allzu beschwerliche Dinge legen hieße, andere vor diese allerhöchsten Grade bringen zu wollen, die unserer Erkenntnis so unzugänglich sind, daß sie nur von Propheten bisher im Geheimen erlangt worden sind, werden wir an ihrer Stelle die sieben Planeten nehmen ... aber wir werden sie nur so verwenden, daß wir sie nicht als Grenzen ansehen werden, über die man nicht hinausgelangen darf, sondern als jene {Wesenheiten}, die dem Geist der Weisen immer die sieben überhimmlischen Grade bedeuten.
Diese Verwandlung der "Orte" der künstlichen Memoria in "ewige Orte" der hermetischen Weisheit war sicher von den Anregungen begünstigt worden, die die Werke des Lullismus und der christlichen Kabbala auf das Denken Camillos ausgeübt hatten. Was den Lullismus angeht, haben wir eine genaues Zeugnis für die Interessen Camillos an der Ars: "Guilio Camillo ... versicherte mir, diese Kunst des Raimundus umfassend studiert zu haben". In De usu et mysteriis notarum setzte Jacques Gohory den Namen des Delminio neben die der größten Kommentatoren und Anhänger des Lull. Andererseits waren, als Camillo 1550 seine Idea del Theatro veröffentlicht hatte, schon die grundlegenden Werke der christlichen Kabbala erschienen und hatten sich weit über Europa verbreitet: die Epistola de secretis von Paulus de Heredia (etwa 1486), die Conclusiones und der Heptaplus von Pico, De verbo mirifico und De arte cabalistica von Reuchlin (1494- 1517), De arcanis catholicae veritatis von Galatin (1518), das Psalterium von Giustiniani (1516), die Werke von Paolo Ricci (1507-1515), De Harmonia mundi von Francesco Giorgio Veneto (1525) sowie die Werke von Agrippa (1532).
Die lullianische Kombinatorik und die großen kosmologischen Konstruktionen der Kabbala werden sich im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts auf einer gemeinsamen Ebene treffen: der des Symbolismus, des Allegorismus und des exemplaristischen Mystizismus. In einem berühmten Passus hatte schon Pico die ars combinatoria jenem erhabensten Teil der natürlichen Magie angenähert, der sich mit den oberen Wesenheiten der supracoelestischen Welt beschäftigte: die von Lull initiierte alphabetaria revolutio war ihm mit jener Buchstaben- und Namensmystik verbunden erschienen, die integraler Bestandteil der kabbalistischen Konstruktion ist. Diese These des Pico wird im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts von nicht wenigen Anhängern der christlichen Kabbala wiederaufgenommen: schon zu Ende des Jahrhunderts wurde der Ausdruck Kabbala benutzt, um die Kunst des Lullus zu bezeichnen. Die Annäherung war nicht nur äußerlich und hing nicht nur von der Zweideutigkeit des Begriffs Kabbala ab, unter dem - wie François Secret erhellt hat - in den Jahrhunderten der Renaissance ziemlich diverse Dinge verstanden wurden. Viele (besonders unter den Exponenten der bedeutenderen religiösen Orden) wandten sich der Kabbala als einer religiösen Tradition zu, aus der sich apologetische Themen schöpfen ließen. Die Buchstaben und die Bilder, die Figuren und ihre Kombinationen verwiesen - in der Kabbala wie im Lullismus - auf das Buch des Universums, das zu lesen und zu interpretieren die Aufgabe des Weisen ist.
In der Encyclopaediae seu orbis disciplinarum epistemon nahm Paolo Scaligero 1559 das Projekt von Pico wieder auf. In seinen tausendfünfhundertdreiundfünfzig "göttlichen, angelischen, philosophischen, metaphysischen, physischen, moralischen, rationalen, doktrinalen, sekreten und infernalischen Konklusionen" präsentierte er das unitäre Bild eines symbolischen Universums, mit dessen Hilfe es möglich gewesen sei, die mirakulöse Kunst des Lullus mit Hilfe der kabbalistischen Weisheit zu erneuern und zur Vollendung zu bringen.
Wenn wir die Plagiate von Ludovico Dolce und die spärlichen und konventionellen Hinweise auf die Memoria in der berühmten Retorica von Cavalcanti und in der Retorica di Cicerone ad Erennio ridotta in alberi von Toscanella (1562 bzw. 1561) übergehen, so ist es doch angebracht, der Ars reminiscendi von Giovambattista Della Porta eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen. Zur Unterscheidung zwischen Memorialmedizin und ars memorativa, zu den gewohnten Hinweisen auf Quellen und Personen der klassischen Welt, zu den nun bekannten Versuchen von Synthesen zwischen der aristotelicotomistischen und der "ciceronianischen" Tradition treten hier nicht ganz uninteressante Erwägungen über die Hieroglyphen und über die Gesten : zwei Themen, denen sich lang und breit das Denken Bacons und Vicos widmen wird. Zur Erörterung dieser Fragen gelangte Porta über das Thema der Imagines, "jener animierten Bilder, die wir im Vorstellungsvermögen empfangen, um sowohl ein Faktum wie auch ein Wort zu repräsentieren". Bei Begriffen, die keine materiellen Dinge darstellen wie "deshalb", "oder", "sehr" usw, ist es notwendig, die Bilder aus der Schrift zu gewinnen, also sich über angemessene Bilder auf die einzelnen Buchstaben oder Buchstabengruppen, die den Begriff bilden, zu beziehen. In vielen anderen Fällen ist es indes möglich, sich auf das "Signifikat" zu beziehen: in diesem Fall kommt die Parallele mit den Hieroglyphen gelegen.
Hierzu werden wir das Verfahren der Ägypter benutzen, die, da sie keine Buchstaben hatten, die Begriffe ihre Geistes niederzuschreiben, und damit sie leichter die nützlichen Spekulationen der Philosophie im Gedächtnis behielten, das Schreiben mit Bildern {er-}fanden, indem sie sich der Bilder der Vierfüßler, der Vögel, der Fische, der Steine, der Kräuter und ähnlicher Dinge anstelle der Buchstaben bedienten: eine Sache, die wir als sehr nützlich für unsere Nachforschungen befunden haben, so daß wir unsererseits nur Bilder anstelle der Buchstaben benutzen wollen, um sie in die Memoria malen zu können.
Viele der illustren Exponenten der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts waren von dem Thema der hieroglyphischen Schrift und später von dem der Ideographie der Chinesen wie gebannt. Die zeitgenössische "Explosion" des Ägyptenkultes in der europäischen Kultur und der Manie für die Embleme ist bezeichnend für ein bestimmtes kulturelles Klima: um das deutlich zu machen, dürfte es genügen, einige der unzählbaren Ausgaben der Hieroglyphica des Horapoll aufzuzählen (die griechische Handschrift wurde 1419 von Cristoforo de' Buondelmonti erworben, im griechischen Text 1505 in Venedig veröffentlicht, 1515, 1521, 1530, 1551 in der lateinischen Version in Paris, 1534 in Basel, 1538 in Venedig, in Lyon 1542 und 1597 in Rom) oder der voluminöse Abhandlung Hieroglyphica sive de sacris Egyptiorum aliarumque gentium von Pietro Valeriano (Basel und Florenz 1556; 1567, 1575 und 1576 in französischer Übersetzung; 1579, 1595 und 1602 in Lyon auf Latein und in Venedig auf Italienisch), zu der am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts Morhofius schrieb, daß das Buch "in aller Hände ist". Die Emblemata von Alciati sind von 1531 (nach ihrer Publikation in Basel werden sie mehr als zweihundertfünzig Ausgaben, zahlreiche Übersetzungen und verschiedene kommentierte Editionen erfahren). Einer der Hauptanhänger des Alciati war der Bologneser Achille Bocchi, ein Freund von Valeriano; die Symbolicarum Quaestionum Libri V sind von 1555. Von 1572 sind die Imprese illustri von Ruscelli, von 1603 die äußerst erfolgreiche Iconologia von Cesare Ripa. Man muß dieser Art von Buchproduktion, in der Themen neoplatonischer und kabbalistischer Herkunft Ausdruck fanden, und in der sich eine charakteristische hermeneutische Methode manifestierte, als kulturellen Hintergrund berücksichtigen, wenn man die Linien einer "spekulativen" Praxis wie der des Lullismus und der ars reminiscendi nachzeichnen will. Auf der einen Seite schien die Tatsache, daß es in anderen als der europäischen Zivilisation möglich gewesen war, eine systematische Repräsentation und Kommunikation der Begriffe statt durch die Buchstaben des Alphabets durch Hieroglyphen oder immagini zu erreichen, in gewisser Weise jene Möglichkeiten zu bestätigen, auf der die ars memoriae und der Lullismus ausführlich insistiert hatten; auf der anderen Seite kam sie dem weit und tief verwurzelten Bedürfnis nach einer Universalsprache entgegen, die unabhängig von den durch Zeiten, Umstände, Nationalitäten und historischen Situationen bedingten Sprachunterschieden "gelesen" und "verstanden" werden könnte. Wenn man die Tatsache in Erwägung zieht, daß die Technik der Kunst der Memoria und die Regeln des Lullismus sich als unabhängig von den besonderen Sprachen präsentierten (die "Technik" oder "Kunst" sieht von der Formulierung der Regeln in dieser oder jener Sprache ab), kann man besser die Beziehungen begreifen, die zwischen anscheinend so verschiedenen kulturellen Phänomenen bestehen wie der Kunst der Memoria, der Wiedergeburt des Lullismus, dem Interesse an den Hieroglyphen, der Leidenschaft für die Ikonologie und dem Kult der Symbole und Embleme.
Im Thesaurus artificiosae memoriae des Florentiners Cosma Rosselli (1579 in Venedig erschienen) tauchte wieder die Bewunderung für die Hieroglyphen als Ausdrücke nicht für Buchstaben sondern direkt für Begriffe auf ("Statt der Buchstaben, die in jenen Zeiten noch nicht erfunden worden waren, bedienten sich die Ägypter der Tiere und vieler anderer Gegenstände, die auch Namen und Begriffe anzeigten") und erschien wieder die Idee einer Umwandlung der ars memoriae in eine universale Enzyklopädie. Die Lehre von den Orten, die ursprünglich als beschränkt auf eine begrenzten Funktionalität innerhalb der Rhetorik aufgefaßt worden war, verwandelte sich in einen Apparat zur Beschreibung der Elemente der Wirklichkeit. Indem er die Hölle, das Purgatorium und das Paradies unter die loca communia amplissima versetzte, verwandelt der Dominikaner Rosselli seinen Traktat zunächst in eine theologische Enzyklopädie, dann in eine umfassende und minuziöse Beschreibung der himmlischen Elemente, der Sphären, des Himmels und des Empyreums, der Dämonen, der Instrumente der mechanischen Künste bzw. der künstlichen Figuren, der natürlichen Figuren (Gemmen, Mineralien, Pflanzen und Tiere), und schließlich der Schriften und der verschiedenen Alphabete (hebräisch, arabisch, chaldäisch).
Der Wunsch nach einer Ordnung der Elemente der natürlichen und himmlischen Realität beherrscht auch das berühmteste Theater des späten sechzehnten Jahrhunderts: das von dem großen Juristen und politischen Schriftsteller 1590 in Lyon veröffentlichte Universae naturae theatrum. Hier sind wir weit entfernt von der Atmosphäre des Lullismus und der Kabbala, hier herrschen die Ansprüche auf Klarheit und Strenge, die für die Anhänger des Ramus charakteristisch sind: die minuziöse tabellarische Aufteilung der natürlichen Ursachen, der Elemente, der Meteore, der Steine, der Metalle, der Fossilien, der lebenden Wesen und der himmlischen Körper erscheint auf der Identifikation der Methode mit der Ordnung und mit der apta rerum dispositio gegründet. Aber auch in dem Werk von Bodin ist zweifelsohne die Überzeugung einer vollständigen Kohärenz und einer totalen Kohäsion unter den Elementen gegenwärtig. Die Größe Gottes offenbart sich in seinem ordnenden Werk, durch das er die chaotisch verstreuten Teile der Materie in den angemessenen Orten plaziert. Nicht unterschieden von der göttlichen ist die Aufgabe, die dem Weisen zufällt, und es gibt nichts schöneres, nützlicheres und angemesseneres als jenes sorgfältige enzyklopädische Ordnen, das es dem Menschen erlaubt, in dem ihm zugestandenen Grenzen die Vollkommenheit des göttlichen Werkes zu reproduzieren. Jene, die dieses Forschen vernachlässigen, verhelfen, auch wenn sie zu subtilen Unterscheidungen fähig sind, einer nichtigen und unförmigen Wissenschaft zum Leben: sie vermischen die Körner des Getreides mit denen des Senfs und sie verlieren die Möglichkeit, wirksamen Gebrauch von ihrem Wissen zu machen. Das Theater als eine kohärente und strenge dispositio ermöglicht indes die Entdeckung "jenes unauflöslichen Zusammenhalts und jenes vollen Zusammenstimmens der Elemente des Realen", in dem alles allem korrespondiert.
Die ramistische Konzeption der Methode hatte auf das Denken von Bodin bemerkenswerten Einfluß gehabt. Die von Ramus verfochtene Identifikation der dispositio mit der memoria kann die Ähnlichkeit zwischen dem berühmten Theater von Bodin und den im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts von den Verehrern und Theoretikern der künstlichen Memoria konstruierten erschöpfenden Enzyklopädien erklären.
In den Werken Camillos und Rossellis haben sich also schließlich die enzyklopädisch-deskriptive Intention und das ehrgeizige Projekt einer totalen Enzyklopädie eindeutig den ursprünglichen Absichten der Kunst der Memoria überlagert. An die Stelle der summarischen und stringenten Auflistungen der Orte und Bilder aus den Werken der Theoretiker des fünfzehnten Jahrhunderts sind im Laufe des sechzehnten verwickelte enzyklopädische Maschinen getreten. Diese entstanden nicht nur aus der Beharrlichkeit charakteristischer Themen der mittelalterlichen Kultur, noch entstammten sie ausschließlich der Thematik des Lullismus oder dem Erblühen von Spekulationen über die Kabbala; sie entstanden auch aus der neuen Einstellung, die viele gegenüber der Tradition der ars reminiscendi einnahmen: die Orte und Bilder als Produktionsinstrumente einer Art von Spiegel oder von künstlichem Theater der Realität zu beschreiben, war viel wichtiger geworden als die theoretische Formulierung der Funktion der Orte und Bilder in genauen Regeln zur Entwicklung einer für die Kunst des Redens nützlichen mnemonischen Fähigkeit.
Genau in dieser Richtung wird Giordano Bruno, der begeisterte Verehrer des Lullismus und der Magie, die alten und neuen Werke über die Kunst der Memoria zu benutzen beabsichtigen.