Gegenüber den vielen Schriften, die Bruno zwischen
1582 und 1591 der ars combinatoria und der ars
reminiscendi widmete, haben nicht wenige Forscher eine
außerordentliche Verständnislosigkeit gezeigt. Einer Analyse von
Themen, die, obwohl heutzutage "tot", deswegen nicht weniger
"vital" waren, werden schnelle Liquidationen oder geradezu
explizite Verdammungen vorgezogen. Olschki und De Ruggiereo zogen
den brunianischen Lullismus in die Sphäre von "Bizarrerien" und
"grobe Illusionen", während Singer öfters ihr Mitleid für einen in
den Problemen der Kombinatorik untergegangenen Bruno zum Ausdruck
gebracht hat. Eine ganz andere Sensibilität hatte sich bei jenen
positivistischen Historikern gezeigt, die, wie Tocco, sich nicht
nur den Problemen des brunianischen Lullismus, sondern auch der mit
ihm verbundene Frage nach der Beziehungen zwischen den Schriften
über die Memoria auf der einen und den italienischen und
lateinischen Werken auf der anderen Seite gestellt hatten. Auch in
dieser Frage sind gerade jene Wissenschaftler, die im Namen einer
größeren historiographischen Treue auf "rationalistische",
"modernistische" und "avantgardistische" Interpretationen des
Denkens von Bruno verzichtet haben, zu viel beachtenswerteren
Resultaten gelangt: In dieser Richtung hat Cesare Vasoli unter
Berufung auf die Beobachtungen von Yates, A. Corsano und E. Garin
das Problem des brunianischen Lullismus und Symbolismus
aufgegriffen. Seine richtigen Folgerungen sollen hier unterstrichen
werden: "die Themen und Motive der brunianischen Mnemotechnik sind
eine wichtige Hilfe zum Verständnis des historischen und
philosophischen Standpunkts von Bruno, seiner reformatorischen
Ideale, seiner Hoffnungen, mit Mitteln und Methoden von größter
pragmatischer Effizienz tief auf die intellektuelle Situation
seiner Zeit einzuwirken; sie lassen uns jene Erneuerung begreifen,
von der seine italienischen Schriften ein so klares Zeugnis
ablegen... Man braucht nur an die Kontinuität dieser
mnemotechnischen Forschungen zu denken, die sich von 1582 an (dem
vermutlichen Datum der verlorenen Clavis Magna) bis 1591
(als er De imaginum signorum et idearum compositione
veröffentlichte) parallel zu der Entwicklung seiner gesamten
metaphysischen Reflexion entfalteten, um die organische Verbindung
zwischen philosophischer und technischer logisch-mnemonischer
Forschung zu begreifen. Wenn Bruno sich über so viele Jahre
bemühte, seine mnemotechnische Lehre mit so großer Sorgfalt zu
entwickeln und zu vollenden, geschah dies sicher nicht nur, um
einer Zeitmode zu folgen oder der pragmatischen Illusion einer
Wissenschaft zu frönen, die oft an praktische Magie oder
kabbalistische Erleuchtung zu grenzen schien, sondern viel eher um
einige zentrale Prinzipien seiner Lehre in eine Methode von
leichter und unmittelbarer Wirksamkeit zu umzusetzen."
Sowohl Corsano als auch Vasoli haben zu Recht die
Bedeutung betont, welche die mnemotechnischen Schriften des Peter
von Ravenna für die philosophische Bildung des jungen Bruno hatten.
In einem Passus der Triginta sigillorum explicatio
versicherte Bruno, noch in jungen Jahren auf die Kunst des
Ravennaten gestoßen zu sein:
Das war ein kleiner Funke, der in einer
ununterbrochen fortschreitenden Meditation einen großen Brand
entfachte. Mögen aus diesen aufzüngelnden Flammen viele Funken
sprühen. Wenn sie eine gut geeignete Materie erreichen, werden sie
wohlduftende Lämpchen anzünden.
In dem großen, von diesem kleinen Funken
entfachten Feuer verbrannten viele der Ergebnisse, zu denen Bruno
im Kontakt "mit den Peripatetikern" gelangt war, "die ihn in der
Jugend erzogen und ernährt hatten". Gegen die deduktiven
Verfahrensweisen der Scholastik setzt Bruno einen Prozeß
stufenweiser Annäherung an die Sphäre des rationalen Wissens durch
den Gebrauch der Imagination und der Memoria. Gegen die rigide
Verkettung der Argumente setzt er die Flüchtigkeit der Bilder.
Gegen die Reduktion des gesamten Wissens auf die Sphäre des
Intellekts setzt er die radikale Vielfalt der Sphäre der
Sinne:
Nur Dummköpfe können glauben, die sinnlichen Dinge
unter dengleichen Erkenntnisbedingungen zu erfassen, unter denen
die rationalen und intelligiblen Dinge begriffen werden. Die
sinnlichen Dinge sind nicht nach einem gleichen universalen Maße
wahr, sondern vielmehr nach einem ähnlichen, besonderen, eigenen,
veränderlichen und veränderbaren. Universelle Definitionen der
sinnlichen Dinge als sinnliche geben zu wollen ist dasgleiche wie
auf sinnliche Art die intelligiblen Dinge definieren zu
wollen.
Die Verwendung von Bildern und der Geschmack an
der Darstellung durch Embleme und Devisen ist mit Annahmen dieser
Art verbunden. Aber das Gefallen Brunos an Symbolen, Hieroglyphen,
Siegeln und an sinnlich verkörperten Ideen kann nicht von der viel
umfassenderen intellektuellen Konstruktion getrennt werden, die in
den vorangehenden Kapiteln dieses Buches untersucht worden ist. In
ihr hatten sich, wie wir gesehen haben, die aus den Werken des
Ravennaten und der anderen Vertreter der ciceronianischen
Mnemotechnik stammenden Themen mit denen des Lullismus, des
Symbolismus, des metaphysischen Exemplarismus, mit der
kabbalistischen Literatur, den Idealen der Pansophie, der Erbschaft
der dialektisch-rhetorischen Diskussionen des Humanismus und mit
dem Streben nach einer religiöse Reform verflochten.
Innerhalb des umfassenderen Rahmens des Lullismus
wurde die einschlägige Thematik der ars reminiscendi auf
eine metaphysische Ebene gehoben. So gesehen erscheinen die
Ansichten Brunos schließlich in vieler Hinsicht denen Rossellis und
der Erbauer der Welttheater des sechzehnten Jahrhunderts ähnlich:
die Kunst ist keine auf die Ziele des rhetorischen Diskurses
beschränkte Technik, sondern ist, in erster Linie, das Instrument
zur Errichtung einer Architektur, deren Strukturen die
Widerspiegelung der Strukturen der Realität bilden. Die Regeln der
Memoria finden ebenso wie die kombinatorischen Techniken ihre
Rechtfertigung in dem deutlich ausgesprochenen Postulat einer
vollen Korrespondenz zwischen den simboli und den
res, zwischen den Schatten und den Ideen, zwischen den
Siegeln und den Formen {ragioni, im Sinne von Formursachen}
welche die Artikulationen der realen Welt bestimmen. Auf diesem
Terrain hatten die Rhetoriken, die sich als Spiegel oder Theater
der Welt verstanden (Camillo), einen Berührungspunkt mit jenen
Reformen der lullianischen Maschine gefunden, die das
platonisch-exemplaristische Postulat fest bewahrt hatten, das dem
Versuch des Raimundus Lullus zugrunde lag. Diesen Rhetoriken und
lullianischen Kommentaren erscheint Bruno sehr nahestehend, wenn er
den ganzen Mechanismus der Kunst als Übersetzung der idealen
Verknüpfungen, welche die Textur des Universums bilden, in die
Sphäre der Sensibilität und der Imagination auffaßt: der
Anspielungsreichtum der Bilder, die Schatten und die "verworrenen
Spezies" erlauben schon jetzt, sich jener Relationen zu bemächtigen
(und ein anderer Weg ist dem Menschen nicht gegeben), zu denen
später eine Erforschung rationaler Art gelangen kann.
Dieser an exemplaristische Voraussetzungen
gebundenen Ansatz schließt überhaupt nicht aus, daß bei Bruno, wie
übrigens schon bei Lull und des Lullisten des 16. Jahrhunderts,
lebhafteste Interessen "praktischer" Art an einer Reform des
Wissens, an einer pädagogischen Funktion der Kunst, an einer
Ausbildung der Memoria und der inventiven Fähigkeiten, an einer
schnellen Übermittlung und Ausbreitung der neuen Kultur und an
einer von den fragmentarischen Ansätzen der einzelnen
Wissenschaften ausgehenden Rekonstruktion einer totalen
Enzyklopädie oder Systematik vorlagen. Diegleiche brunianische
Reform wird als das Projekt einer wunderbaren Kunst präsentiert,
welche die Herrschaftsmöglichkeiten des Menschen grenzenlos
auszuweiten erlaubt. In dieser Form wurde sie in jenen
platonisierenden Pariser Kreisen aufgenommen und geschätzt, in
denen (wie Yates gezeigt hat) die Interessen an dem Kopernikanismus
und an der ramistischen Reform der Logik mit denen an der Kabbala
und am Lullismus zusammengingen. So wird die von Bruno vorgenommene
Einfügung der "rhetorischen" Techniken der Memoria in die große
lullistische Tradition nicht verfehlen, außer in französischen auch
in englischen, deutschen und böhmischen Kreisen dauerhaften Einfluß
zu gewinnen. Paris. London, Prag, Wittenberg und Frankfurt waren,
wie wir gesehen haben, Diffusionszentren des Lullismus und der
ars reminiscendi gewesen. In diesen Kreisen hatten sich
Peter von Ravenna und Bovillus, Wilson, Spangerbergius und
Lavinheta bewegt.
Von den drei 1582 in Paris veröffentlichten
Schriften ist De umbris idearum zurecht die bekannteste. Der
Versuch, "mit genuin metaphysischen Gründen" die technischen
Elemente der Kunst "zu rechtfertigen", erscheint hier besonders
deutlich: 1) der Aufstieg der Seele aus der Dunkelheit zum Licht
vollzieht sich durch die Apprehension der Schatten der ewigen
Ideen: durch diese Schatten hindurch enthüllt sich der im Körper
gefangenen Seele irgendwie die Wahrheit; 2) die Ideen-Schatten, in
denen sich die Textur des Seins spiegelt, erscheinen in der Sphäre
der Sensibilität und Imagination: sie erscheinen als Phantasmen und
Siegel; 3) über die künstliche Retention der "Ketten" oder
Relationen, die unter den Schatten herrschen, gelangt man wie durch
eine stufenweise Reinigung zu einer Rekonstruktion der
Verknüpfungen unter den Ideen, um schließlich auf der Höhe der
Ratio zum Verständnis jener Einheit zu gelangen, die der
zerstreuten Pluralität der Erscheinungen zugrunde liegt
Diese drei Thesen sind das Fundament der
brunianischen Reformation der Kombinatorik und der besonderen
Verwendung, der er die Regeln der Kunst der Memoria
ciceronianischen Ursprungs anpaßt. Wie schon in der Sintaxes
von Gregoire und im Opus aureum von De Valeriis erscheint
bei Bruno die Vorstellung von der Einheit des Wissens unmittelbar
in die der Einheit des Kosmos umsetzbar:
Da in allen Dingen Ordnung und Verknüpfung ist und
da eins ist der Körper, eins die Ordnung, eins die Regierung, eins
der Beginn, eins das Ende und eins das primum des
Universums, müssen wir mit allen Kräften dies versuchen: angesichts
der im erhabenen Wirken des Geistes geformten Stufenleiter der
Natur uns bemühen, durch inneres Wirken von der Bewegtheit und
Vielheit zur Ruhe (status) und Einheit zu gelangen. ... Du
wirst wahrnehmen, wahrhaftig einen solchen Aufstieg erreicht zu
haben, wenn du aus der verwirrten Vielheit heraus der deutlichen
Einheit nahekommen wirst. Das hat nichts zu tun mit dem Aufbauschen
der logischen Universalien, die von den untersten deutlichen
Spezies aus die mittleren undeutlichen ergreifen und von diesen aus
die noch undeutlicheren obersten. Vielmehr besteht es in einem
Angleichen der vielen und formlosen Teile an ein Ganzes und
Geformtes an sich selbst. ... Da von den Teilen und Spezies des
Universums keines getrennt und ohne Ordnung ist (welche die
allereinfachste, vollkommenste, und von dem entsprechend dem Grad
nach in der ersten Mens ist): was werden wir nicht, wenn wir
denkend Ding mit Ding verbinden und mit Vernunft vereinigen,
denken, begreifen, erinnern und schaffen können? Ein Einziges ist
es, was alle Dinge bestimmt. Ein Einziges ist in allen Dingen der
Glanz der Schönheit. Ein einziger Glanz bricht aus der Vielheit der
Spezies hervor.
In dem Augenblick, wo er eine "Reform" der
lullianischen Kombinatorik vornimmt und dabei dreißig Subjekte und
Prädikate an die Stelle der neun von Lull erdachten setzt und die
Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Prädikaten fallen
läßt, greift Bruno weitläufig auf die ciceronianische Tradition
zurück und verändert ihre Terminologie: den Orten der
Mnemotechnik entsprechen die subiecta (erste Subjekte); den
Bildern entsprechen die adiecta (zweite oder nächste
Subjekte). Der uralte Vergleich der Mnemotechnik mit der Schrift
kann auf diese Weise in verändertem Sinn wieder aufgenommen werden:
"Scriptura enim habet subjectum primum chartam tamque locum; habet
subiectum proximum minium {Zinnober als Mal- und Schreibstoff} et
habet pro forma ipsos characterum tractus". Neben diesem Vergleich
kehrt in den brunianischen Werken der größere Teil der Regeln der
Memoria wieder, die wir in den Werken des fünfzehnten und
sechzehnten Jahrhunderts vorgefunden hatten. In den ersten Absätzen
der Ars memoriae erscheinen wieder die Diskussionen über die
Ars und ihre Natur, über die produktive Natur der künstlichen
Instrumente, über die Beziehungen zwischen dem Zeichen und dem
bezeichneten Objekt, und tauchen wieder auf die Hinweise auf
Simonides und die Vorschriften bezüglich der mäßigen Größe, der
angemessenen Distanz und der richtigen Helligkeit der Orte. Gerade
die brunianische Auffassung des Ortes, die Tocco "viel
weiter" vorgekommen ist als die traditionelle, stammt in
Wirklichkeit aus weitverbreiteten Werken. Die Idee, sich "belebter
Gegenstände" zu bedienen, um die Orte darzustellen, ist ganz und
gar nicht neu: sie findet sich schon in einem hundert Jahre älteren
Werk, dem De omnibus ingeniis augendae memoriae von Michele
Alberto da Carrara.
Auch in dem 1582 in Paris veröffentlichten
Cantus Circaeus sind durch den gewundenen Satzbau und den
barocken Zuschnitt der Bilder hindurch wohlbekannte Themen
erkennbar. Im zweiten Dialog des Cantus (der im folgenden
Jahr in London etwas verändert unter dem Titel Recens et
completa ars reminsicendi wiederaufgelegt wurde) wird die in
De Umbris abgehandelte Materie mit größerem Interesse an
einer Verbreitung als Handbuch dargestellt. Indem die Kunst sich
als eine Technik zur Verbesserung des natürlichen Zustandes des
Menschen durch geeignete künstliche Mittel präsentiert, wird sie
jedermann zugänglich. Bezeichnenderweise zählt Bruno gerade diese
vollendete Technifizierung der Kunst zu seinen Verdiensten.
Es ist unsere Absicht, mit Billigung des
göttlichen Willens einen methodischen und von der Kunst gesicherten
Weg zu verfolgen: die Mängel der natürlichen Memoria zu
korrigieren, ihrer Schwäche abzuhelfen und ihre Kraft zu stärken,
bis jeder (vorausgesetzt er sei im Besitz von Vernunft und mit
einem mittleren Urteilsvermögen begabt) in ihr Fortschritte machen
kann und solchermaßen niemand von dieser Kunst ausgeschlossen wird.
Das, was die Kunst nicht aus sich selbst noch von den Anstrengungen
der Vorgänger hat (deren Erfindungen uns angespornt haben), haben
wir in täglicher Meditation verbessert, sei es mit Blick auf die
Leichtigkeit, die Sicherheit oder auf die Kürze.
Ausdrücke dieser Art sollten nicht irreführen.
Wenige Zeilen zuvor zeigt sich wieder das typisch hermetische Thema
einer notwendigen Geheimhaltung der Kunst:
Im Euthydemes ermahnt Plato die Philosophen, daß
sie die erhabenen und arkanen Dinge bei sich behalten und sie nur
wenigen Würdigen mitteilen sollen.... Dasgleiche verlangen wir von
all denen, in deren Hände diese Dinge gelangen: daß sie nicht die
Gnade und das Geschenk mißbrauchen, das ihnen gespendet worden ist.
So laßt uns bedenken, was durch Prometheus bedeutet wird: daß er,
nachdem er den Menschen das Feuer der Götter gezeigt hatte, bei
ihnen in Ungnade fiel.
Viel interessanter ist der Versuch, die
Terminologie der Ars von der in anderen Wissensfeldern
gebräuchlichen wohl unterschieden zu halten. Der Begriff
subiectum, erklärt Bruno, hat in diesem Fall eine andere
Bedeutung als die diesem Begriff in der Logik oder Physik
zugeschriebene. Das subiectum wird hier "in einer
zweckmäßigen, nämlich technisch, und das heißt künstlich gemeinten
Bedeutung" verstanden. Es ist nicht das Subjekt der formalen
Prädikation, das in der Logik dem Prädikat entgegengestellt wird,
noch das einer substantiellen Form, genannt Hyle oder
materia prima. Es ist nicht das subiectum der akzidentiellen
Formen noch das der künstlichen, die den natürlichen Körpern
inhärieren: "es ist das Subjekt der phantastischen, zufügbaren und
entfernbaren, umherschweifenden und vergehenden Formen, je nachdem
wie es die wirkende {R:operante} Phantasie und das
Denkvermögen wollen". Auf dieselbe Art wird der Begriff
forma nicht als Synonym für Idee gebraucht, wie es in
der platonischen Metaphysik, noch als Synonym für Essenz,
wie es in der peripatetischen geschieht; er bezeichnet nicht, wie
in der Physik, die substanzielle oder akzidentielle Form, welche
die Materie informiert; noch zeigt er in der technischen Bedeutung
eine "den physischen Dingen hinzugefügte intentio
artificalis" an: Das Universum des Diskurses des Begriffes
forma ist für Bruno das einer nicht rationalen, sondern
phantastischen Logik: "Der Begriff forma wird in einem
logischem Sinn angenommen, aber nicht in dem einer rationalen
Logik, sondern einer phantastischen, wobei der Begriff Logik in
einer umfassenderen Bedeutung angenommen wird."
Diese Erweiterung der traditionellen Logik und
diese Konstruktion einer logica fantastica ist eines der
zentralen Motive des brunianischen Diskurses. Wer, wie Tocco, bei
der brunianischen Produktion die mnemotechnischen Werke streng von
den lullianischen trennt, indem er den "psychologischen" Charakter
der ersteren dem "metaphysischen" Charakter der letzteren
entgegensetzt, hat künstlich unterschieden, was bei Bruno organisch
verbunden ist. Die substantiell neue Richtung, die Bruno gegenüber
der Tradition der rhetorischen Mnemotechnik und der Erbschaft des
Lullismus vertritt, wird eben von dem Versuch bestimmt, einen
Konvergenzpunkt oder ein gemeinsames Terrain zu finden (oder wenn
man will, eine "Synthese" zu bewirken) zwischen zwei Techniken, die
aus verschiedenen Erfahrungen geboren waren und sich seit langem
auf divergierenden Linien entwikelt hatten. Soweit er Lull folgt,
transferiert Bruno die für den Lullismus charakteristischen
metaphysischen Ansprüche ins Innere der Kunst der Memoria. Als
Reformator der ars reminiscendi zögert er nicht, sich der
Kunstgriffe und Regeln - wobei er sie den traditionellen annähert -
zu bedienen, welche die Anhänger der Kombinatorik theoretisch
entwikelt hatten. Auf diesen Grundlagen führt er seine Polemik
gegen seine Vorläufer und auf diesen Grundlagen gelingt es ihm,
seine Position von den anderen abzusetzen: 1) verwirft er die
Beziehung vom konventionalem Typ, welche die Theoretiker der
ars memoriae zwischen den Orten und den
Bildern gesetzt hatten: gegen diese Position vertritt er die
Notwendigkeit einer realen Verbindung (die eine Assoziation oder
eine Verbindung logischer Art sein kann) zwischen dem
subjectum und dem adjectum; 2) substituiert er auf
der Basis dieser Forderung den traditionellen Verzeichnissen der
hausgemachten Bilder der Gebrauchsgegenstände aus den Werken des
fünfzehnten Jahrhunderts komplizierte mythologische und
astrologische (der hermetischen Tradition entnommene) Bilder, die
ihm die Möglichkeit einer visuellen Darstellung nicht nur des
Subjekts, sondern auch der Beziehungen zwischen dem Zentralsubjekt
und allen mit ihm entsprechend einer systematischen Ordnung
verbundenen Charakteren und Begriffen bieten; 3) begreift er die
von Lull erdachten rotierenden Figuren als Instrumente der
artifiziellen Memoria: auf den verschiedenen Rädern können mittels
lateinischer, griechischer und hebräischer alphabetischer Lettern
alle konstitutiven Elemente der Kunst symbolisiert werden.
Während die hundertdreissig Fundamentalorte, die
aus den verschiedenen Kombinationen gewonnen werden können,
wesentlich für die vollständige Verwirklichung des künstlichen
Gedächtnisses sind, bezeichnen sie zugleich auch die in jedem
beliebigen System logischer Relationen enthaltenen Elemente.
Zwischen Logik und Kunst der Memoria gibt es für
Bruno keine substantiellen Unterschiede. Die logica
memorativa, die den Gipfel seiner Aspirationen bildet, hat eine
sehr enge Verwandtschaft mit der Metaphysik: "die Kunst ist ein
gewisser Habitus der denkenden Seele, der sich von dem, was der
Ursprung des Lebens der Welt ist, bis zum Ursprung des Lebens aller
Einzelwesen ausdehnt."
Bei der Untersuchung der Werke der großen
Renaissance-Kommentatoren der Ars magna hat sich schon
gezeigt: 1) daß das Problem einer memorativen Technik mit Bäumen,
Rädern und Tafeln als Werkzeugen wesentlich für die Entwicklungen
der Kombinatorik ist; 2) daß diese Idee einer memorativen Logik eng
mit jener enzyklopädischen Interpretation des Lullismus verbunden
ist, die am lullianischen Bild des Baumes ansetzt und viele
lullianische Kommentare in regelrechte Enzyklopädien verwandelt.
Wer sich diese Ergebnisse vergegenwärtigt, wird sich weder über das
brunianische Beharren auf den mnemotechnischen Aspekten des
Lullismus wundern können, noch über seine Versuche einer
Beschreibung der konstitutiven Elemente des Universums durch den
Verweis auf die neun subjecta der Kunst.
Im Lichte dieser Erwägungen erscheint auch die
These von Tocco nicht haltbar, nach der ein Werk wie De
progressu et lampade venatoria logicorum von 1587 "ein
Kompendium der aristotelischen Topik" und völlig unabhängig von den
Kommentaren zur lullianischen Ars wäre. Die Verwendung der Bilder
des Feldes, des Turmes und des Jägers machen es möglich, diese
Untersuchung zur Dialektik mit den Traktaten zur Memoria in
Beziehung zu setzen, während der explizite Verweis auf die Figuren
einen Vergleich mit der Thematik des Lullismus zuläßt. Dabei
handelt es sich nicht allein um "interne" Gründe; in vielen Werken
des Enzyklopädismus des sechzehnten Jahrhunderts (man denke zum
Beispiel an die Schrift In Rhetoricam Isagoge von 1515)
erscheint der Lullismus stark mit Themen der Kosmologie und der
Rhetorik verflochten. Nicht zufällig war auch Bruno stark an der
Möglichkeit einer "Applikation" der Ars auf die Rhetorik und die
Physik interessiert: im Artificium perorandi (1587 in
Wittenberg diktiert und von Alsted 1610 veröffentlicht) versucht er
eine Anwendung der lullianischen Mnemotechnik auf die verschiedenen
Typen des rhetorischen Diskurses, während er in der Figuratio
aristotelici physici auditu von 1586 eine Übersetzung der
zentralen Begriffe der aristotelischen Physik in Bilder unternimmt.
In den Londoner Texten von 1583 wurden die komplexen Bilder der
Siegel von Bruno nicht benutzt, um direkt die zu erinnernden
Gegenstände anzuzeigen, sondern die Regeln der Kunst selbst. Mehr
als bei diesen übrigens sehr bedeutenden Werken ist es indes
angebracht, die in De lampade combinatoria von 1587
vorgenommene Einschätzung des Lullismus zu unterstreichen: Agrippa
gelang es nicht, in die beweistechnische Kraft der Kombinatorik
einzudringen, und er bediente sich der Ars, um eher sich selbst als
die lullianischen Werke zu feiern; beachtenswert waren die Versuche
von Lefèvre und Bovillus; aber allein durch die brunianische Reform
ist die ars magna zu ihrer höchsten Vollendung und zum
höchsten Grad ihrer Perfektion gelangt: "wir haben auf solche Weise
diese von Raimondo Lullo erfundene Kunst vollendet, um sie von
aller anmaßenden Geringschätzung zu befreien ...und um jede weitere
Vervollkommnung unmöglich zu machen". In diesem schnellen Überblick
erhält der Hinweis auf die gemeinsame Quelle, aus der die
theologische Metaphysik des Scotus Eriugena, die lullianische
Kunst, die Mysterien des Cusanus und die Medizin des Paracelsus
stammen, ein besonderes Gewicht.
Die Gründe für diese Nachbarschaft waren schon
Tocco klar: Bruno betrachtet das Werk von Lullus als einen der
hauptsächlichsten Ausdrücke eines Neoplatonismus, der ausgehend von
der Identität des Idealen und Realen zu einer Rekonstruktion der
Realität durch die Bestimmung der Bewegung der Ideen gelangen zu
können glaubt. Während sie sich als eine Zurückweisung der
traditionellen Logik gestaltete und die Bilder an die Stelle
der Begriffe sowie die topica an die der
analitica setzte, bewegte sich die brunianische Ars auf
einem ganz anderen Terrain als die Dialektik, wies jede
Identifikation mit einer rhetorischen Technik zurück und wollte
Möglichkeiten zu prodigiösen Abenteuern und Totalkonstruktionen
eröffnen: "Einige Dinge erscheinen so sehr für die Kunst geeignet,
daß sie zweifelsohne auch in den natürlichen Dingen von Nutzen
sind: dies sind die Zeichen, die Noten, die Charaktere, die Siegel.
Durch sie hat die Kunst solche Macht, daß sie außerhalb der Natur,
über der Natur, und, wenn die Situation es verlangt, gegen die
Natur zu wirken scheint." Das Ziel der Kunst besteht nicht einfach
in einer Stärkung der Memoria oder in einer Potenzierung der
intellektuellen Fähigkeiten: sie "öffnet und weist der Entdekung
{invenzione} vieler Fähigkeiten {R:facoltá} den Weg."
In den bedeutendsten Werken der brunianischen Magie finden wir noch
den Rekurs auf die Siegel, Zeichen und Figuren, die den Gesten und
Zeremonien als konstitutiven Elemente jener mystisch-rituellen
Sprache angenähert werden, die den Weg zu göttlichen Kolloquien
öffnet: "an einer bestimmten Art von Gottheiten kann keine
Teilhabe sein außer durch Zeichen, Siegel, Figuren, Charaktere,
Gesten und andere bestimmte Zeremonien". In der brunianischen
Konzeption der Magie als Dienerin und Beherrscherin der Natur, in
der Vorstellung ihrer Fähigkeit, die heimlichen Korrespondenzen
unter den Dingen zu verstehen und die letzten Formeln der
Wirklichkeit zu erfassen, in Werken wie De Magia, Theses de
Magia und De Magia mathematica finden tatsächlich die in
den mnemotechnischen und lullianischen Werken debattierten Probleme
ihre Lösung. Das Bild eines unitären Universums, das durch die
Symbole dechriffiert wird, erreicht hier, wie schon im
Sygillus seine Vollendung:
Ein einziges Licht erleuchtet das Ganze und ein
einziges Leben belebt es... Jenen, die höher steigen, wird nicht
nur sichtbar werden das eine Leben in allem, das eine Licht, das in
allem ist, die eine Güte, und daß alle Sinne ein einziger Sinn und
alle Begriffe ein einziger Begriff sind, sondern auch daß alle
diese Dinge, also Begriff, Sinn, Licht und Leben, eine einzige
Essenz sind, eine einzige Kraft und ein einziges Wirken.
Um die brunianischen Magie und den grandiosen
Versuchs des Nolaners zu begreifen, eine Kunst zu entwickeln,
welche die Menschen einander näher zu bringen vermag, indem sie
sich zum Werkzeug einer Reform der Religionen macht, wäre eine
analytisch geführte Untersuchung der Beziehungen zwischen dem
lullianischen und mnemotechnischen Bruno und jenem bekannteren der
Hauptwerke von großem Nutzen. Aus einer solchen Untersuchung
könnten sich auch nicht zu vernachlässigende Beiträge zu einem
Verständnis von Brunos Sprache und seines Stils ergeben. Es wäre
schwierig, weiterhin in dem konvulsivischen Rhythmus seiner
italienischen Prosa eine (wie es ein bedeutender
Literaturhistoriker will) "Hingabe an den Instinkt und das
Überfliessen der poetischen Ader" zu sehen. Die Aufgabe der einem
Subjekt zugeordneten Bilder besteht darin, "ähnlich
wie bei der Malerei und der Schrift zu präsentieren, bildlich
darzustellen, zu denotieren, zu indizieren, um auszudrüken und zu
bedeuten". Die Vielfalt der Bilder soll die impliziten und
expliziten Signifikate, die in den Ideen enthalten sind,
exhaurieren und mit ihnen eine untrennbare Einheit bilden.
Hinter der beständigen Wiederkehr der Bilder, der Fülle der
Wiederholungen und der Aufeinanderfolge der Symbole, welche die
Begriffe sinnlich darstellen, stehen in Wirklichkeit auch ganz
bestimmte philosophische Überzeugungen: "Die Philosophen sind
gewissermaßen Maler und Dichter, die Dichter Maler und Philosophen,
die Maler Philosophen und Dichter. Die wahren Dichter, die wahren
Maler und die wahren Philosophen lieben und bewundern sich
gegenseitig: es gibt in der Tat keinen Philosophen, es sei denn
einer, der imaginiert und malt...".
Die Suche nach einem Universalschlüssel zur
Dechiffrierung des "Alphabets der Welt" und das Streben nach einem
enzyklopädischen Theater als "Spiegel" der Wirklichkeit hatten also
die Techniken der künstlichen Memoria Zielen angepaßt, die von den
ursprünglichen verschieden waren. In den an initiatorischen Tönen
reichen Diskurs einer erneuerten Magie eingefügt, hatten die Regeln
der memorativen Kunst schließlich jeden Kontakt mit den Grundlagen
der Dialektik, der Rhetorik und der Medizin verloren: sie konnten
nun als ein mirakulöses Instrument zum Erlangen des totalen Wissens
oder der Pansophie erscheinen.
Auf diesem Terrain bewegten sich in der ersten
Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts nicht wenige der Vertreter und
Anhänger der mnemonischen Künste und des Lullismus. Zwischen 1617
und 1619, also genau in den Jahren, die den jugendlichen Cartesius
am Lullismus und an den Künsten der Memoria interessiert sahen,
wurden in Lyon die Werke von Johannes Paepp publiziert. Eines von
ihnen, der Schenkelius detectus seu memoria artificialis
hactenus occultata, war ein umfassender Kommentar der Ars
Memoriae Schenkels, eines Textes, der Cartesius wohlbekannt
war. In den Artificiosae memoriae fundamenta und in der
Introductio facilis in praxin artificiosae memoriae bemühte
sich Paepp, die aristotelischen, ciceronianischen und thomistischen
Lehren von der Memoria zu illustrieren, zeigte aber, daß er auch
die Einflüsse des Lullismus und seiner bedeutendsten Exponenten von
Bruno bis Alsted erfahren hatte . Auf den Spuren des Letzeren und
in Polemik gegen die Anschwärzer der Kunst vertrat er die
Angemessenheit einer engen Verbindung von Logik und Mnemotechnik:
erstere ist für einige Künste und Disziplinen notwendig, die zweite
ist unabdingbar für jede Form des Wissens . Indem er die mnemonische
Funktion der lullianischen Kreise unterstreicht und Winke
zur Dechiffrierung der Texte der ars notoria gibt
,
eliminiert Paepp jede Unterscheidung zwischen "Ciceronianern" und
"Lullisten" und versammelt in ein und derselben Aufzählung der
Gründer und Theoretiker der Kunst Quintilian und Cicero, Lullus und
Gratarolo, Pietro da Ravenna und Romberch, Rosselli und Giordano
Bruno, Schenkelius und Alsted. Viele Seiten seiner Schrift sind der
Erörterung der Lehren von Bruno gewidmet, und wie Bruno verwandelt
auch er seine Abhandlung in eine Auflistung ikonographischer Themen
und in eine Serie von Beschreibungen der Bildnisse der Götter. Eher
als an einer Diskussion der für die Rhetorik und Enzyklopädie
einschlägigen Themen ist Paepp stark an der Beschreibung der
Resultate interessiert, zu denen man mit Hilfe der Kunst gelangen
kann. Die Techniken der Kombinatorik und der ars
reminiscendi werden zu Zielen eingesetzt, die Berührungspunkte
mit denen der Magie und des Okkultismus zeigen: mithilfe der Ars
ist es möglich, einen Knaben schnellstens in einen Weisen zu
verwandeln, in den Besitz prodigiöser Kräfte zu gelangen und die
Bewunderung der Gelehrten und der Lenker des Gemeinwesens zu
erlangen.
Bei Bruno haben wir die Thematik des Lullismus und
der ars reminiscendi mit den Aspirationen und den Idealen
der Magie verbunden gesehen. Ähnliches ließe sich auch von
Campanella sagen, der sich ebenfalls als mit mirakulösen
Fähigkeiten begabt zu präsentieren schätzte. Dem Kardinal Odoardo
Farnese versicherte er, Naturphilosphie und Moral, Logik, Rhetorik,
Poetik, Politik, Astrologie und Medizin mit einer speziellen
Methode unterrichten zu können, die in einem Jahr zu besseren
Resultate käme als die gewöhnliche mit zehn Jahren normalen
Unterrichts. Dieselbe Vorstellung und dasgleiche Beharren auf der
Möglichkeit einer extraordinären "Fazilität" des Lernens finden wir
in der Città del Sole. Noch bevor sie zehn Jahre alt sind,
lernen die Knaben der Sonnenstadt "ohne Anstrengung" alle
Wissenschaften, indem sie sich der gigantischen Enzyklopädie
bedienen, die aus den auf die Wände der sechs Stadtmauern gemalten
Bilder besteht. Dem lullistischen Enzyklopädismus, der auf
Begriffen und "logischen" Prozeduren beruht, stellt Campanella
einen auf sinnlich erfahrbaren Bildern gegründeten gegenüber. In
dem zwischen 1587 und 1591 verfaßten, aber verlorenengegangenen
De investigatione rerum hatte Campanella auf eine Dialektik
ex solu sensu verwiesen, welche die Gegenstände der Sinne
nach neun Kategorien klassifizierte, "dergestalt, daß man über jede
Sache nicht nur mit Worten nach Art des Raimundo Lullo
argumentieren kann, sondern auch mittels sensibler Gegenstände".
Demgleichen Wunsch nach einem auf den Sinnen {senso} und den
Dingen gegründeten Wissen entsprechen die in De sensu rerum et
magia von 1620 entwikelten Beobachtungen über die Memoria als
"antezipierter Sinn"; die Kritik an den Thesen der peripatetischen
Medizin; die Versicherung, es sei mit den Entdeckungen der Medizin
möglich, auf die Memoria einzuwirken; sowie die mehrfach behauptete
Identität zwischen Memoria und Imagination. Wenn man
sich diese Erwägungen vergegenwärtigt, wird man begreifen, wie auch
Campanella die "lokale Memoria" mit Sympathie betrachten konnte.
Die Ergebnisse, zu denen die "ciceronianische" Mnemotechnik gelangt
war, erscheinen ihm als Bestätigung seiner Definition der Memoria
als "geschwächter Sinn": "die Kunst der lokalen Memoria
veranstaltet für diesen Sinn eine Ausstellung sinnlich
wahrnehmbarer und bekannter Dinge, wobei sie die Dinge nach ihrer
Verwandtschaft durch Ähnlichkeit anordnet; so zeigt sie, daß die
Memoria ein geschwächter Sinn ist, der sich auf diese Weise
erneuert und Kraft gewinnt."
Der Kunst der "lokalen Memoria" fehlt es auch im
Laufe des siebzehnten Jahrhunderts nicht an Verehrern: in den
Schriften von Filippo Gesualdo und von Gerolamo Marafioto, von
Johannes Austriacus und von Adam Bruxius, von Francesco Ravelli und
von Schenkel, von John Willis und von Velasques de Azavedo
tauchen
wieder die Themen und Regeln der "klassischen" Mnemotechnik auf,
werden die Werke über die Memoria von Aristoteles, Cicero,
Quintilian, Thomas und Peter von Ravenna diskutiert, werden
Kombinationen und Synthesen zwischen der ciceronianischen
Mnemotechnik und der Kombinatorik von Lullus versucht, werden
Theater und Enzyklopädien gebaut, werden neue und kompliziertere
Bilder ersonnen, wird über Zeichen, Gesten und Hieroglyphen
diskutiert. Diese Werke tragen dazu bei, eine schon weitbekannte
Thematik zu verbreiten und alte Diskussionen neu zu schüren.
Beachtenswerter sind andere Schriften, in denen die Magie nicht nur
- wie für Bruno und Campanella - den kulturellen Hintergrund
bildet, vor dem sich die Künste der Memoria situieren, sondern
tatsächlich deren Rechtfertigung liefert. In diesen Schriften wird
die Verbindung zwischen den magischen und memorativen Techniken
explizit erörtert und die ars reminiscendi als ein Produkt
der Magie dargestellt. In der Magia naturalis von Wolfgang
Hildebrand (1610) wird das Werk der artifiziellen Memoria als
Anwendung der Ars Magica auf eine besondere Form des Handelns
dargestellt .
In der Regina scientiarium und in der
Enciclopaedia reitet Pierre Morestel auf verbreiteten Themen
herum: die Königin der Wissenschaften, das ist die Kunst des Lull,
dreht sich nicht um einen bestimmten Gegenstand, sondern ist von
solcher Allgemeinheit und Gewißheit, daß sie autosuffizient und in
der Lage ist, das Erreichen der Wahrheit in jedem Zweig des Wissens
zu ermöglichen. Der auf der Lehre von den Orten und Bildern
gegründeten Kunst der Memoria der Alten setzt Morestel als Neue
Kunst der Memoria die lullianische Kombinatorik entgegen. In seinen
Schriften verbindet sich die Erörterung der Themen des Lullismus
und der Mnemotechnik mit jener der okkulten Philosophie der
Präsokratiker, mit der Interpretation der antiken Fabeln, mit der
Thematik der Kabbala, mit der Suche nach einem Universalschlüssel.
Auf die
mnemonische Medizin des Gratarolo hingegen, und das heißt auf die
Tradition des Aristotelismus, beruft sich der anonyme Autor einer
1631 in Frankfurt publizierten Ars magica, welcher der
Memoria und den zu ihrer Stärkung eingesetzten astrologischen
Bildern zwei Kapitel seines Traktates widmet. Im Pentagonum
philosophicum medicum, sive ars nova reminiscentiae (1639) von
Lazare Meyssonnier, Arzt des Königs von Frankreich und
Korrespondent von Cartesius, Förderer der astrologischen Medizin,
der Chiromantie und der Physiognomie, tauchen wieder die Themen der
Medizin der Memoria, des Lullismus und der Kabbala auf. In der
Belle magie ou science de l`esprit präsentiert er eine
"Methode zur Anleitung der Vernunft" und eine "natürliche Logik zur
Lösung aller Arten von Problemen" als Funktion der magischen
Medizin.
Dergleiche Anspruch auf eine Universalmethode gesellt sich in den
Werken von Jean d'Aubry über magische Medizin zu der Versicherung
einer supremen Wissenschaft, angesichts derer die
Einzelwissenschaften nur schattenhaften Charakters sind. Während er
die Grundlinien einer großen Enzyklopädie umreißt, insistiert
d'Aubry energisch auf der Einheit des Wissens und auf der
Künstlichkeit jeder Trennung zwischen den Disziplinen:
In den drei ersten Kapiteln wirst du alles Wissen
der Welt und eine Ordnung aller Dinge erblicken... Im dritten
Kapitel wirst du lernen, daß es nur eine einzige Wissenschaft gibt,
weil nur eine allein ohne jede Art von Divination Auskunft gibt...
Diese Wissenschaft gibt mir unfehlbare Lösungen und Auskünfte von
allem, denn sie ist die das Maß aller Wahrheit.
Auch in den Werken von Robert Fludd, welcher der
bekannteste und bedeutendste Exponent des Hermetismus und des
kabbalistischen Symbolismus des sechzehnten Jahrhunderts ist,
finden wir eine weitläufige, nach konventionellen Regeln
durchgeführte Abhandlung über die memorative Kunst.
In eine ganz und gar magische und hermetische
Atmosphäre versetzt uns auch der 1654 in Lyon veröffentlichte
Traicté de la memoire artificelle von Jean Belot, der als
Anhang den Familières instructions pour apprendre les sciences
de Chiromancie et Physionomie beigegeben ist. Die gesamte lullianische
Kombinatorik wird hier mit einer "künstlichen Memoria"
identifiziert; durch die mirakulöse Erfindung von Raimundus ist es
möglich, auf prodigiöse Weise den Weg der Wissenschaft abzukürzen
und anstelle der Mühen eines ganzen Lebens das schnelle Erlernen
der fundamentalen Prinzipien jedes Wissenszweiges zu setzen. Um die
Essenz der Ars zu enthüllen, die Lullus gewollt unter einer Reihe
von Geheimnissen verbarg; um die Errungenschaften von Bruno,
Agrippa, Alsted und Lavinheta zu übertreffen; um die Kunst in
Reichweite eines jeden zu bringen, von den Predigern bis zu den
Kaufleuten, schlägt Belot vor, die Kombinatorik mit der Chiromantie
zu verbinden, indem er anstelle der Figuren der Kombinatorik und
der Bilder der ciceronianischen Mnemotechnik die in der Kunst der
Chiromantie gebräuchlichen Begriffe setzt. Trotz der Ansprüche auf
Neuheit erscheinen die "Räder", deren sich Belot bedient, den
lullianischen Kommentaren Agrippas entnommen zu sein, wobei an
mehreren Stellen Anklänge an das brunianischen Verfahren nicht
fehlen. Gerade aus Agrippa und Bruno holt er sich nämlich die
Überzeugung - die später mit noch größerer Weitschweifigkeit in der
Rhetorique verfochten wird - von den Verbindungen zwischen
Rhetorik-Dialektik auf der einen und Lullismus und Arkankünsten auf
der anderen Seite. Das Titelblatt des Traktats ist in dieser
Hinsicht bezeichnend:
Die Rhetorik, mittels derer man von dem reden
kann, was in den Reden zu reden und von dem, was in der Dialektik
zu disputieren ist, nach der Subtilität der lullistischen Kunst und
anderer noch geheimerer Künste, die hier zu einer einzigen für alle
Wissenschaften unabdingbaren Lektion komprimiert werden .
Diese Ziele werden als diegleichen dargestellt,
die der alten hebräischen Weisheit und den Verfechtern der Kabbala
eigen waren:
Das was die Alten mit so großer Mühe gesucht
haben, ohne indes davon das vollkommene Wissen erreicht zu haben,
das gebe ich dir voll und ganz: es ist das, was Propheten, Magier,
Rabbiner, Kabbalisten, Masoreten und nach ihnen der gelehrte
H.C.Agrippa erlangen wollten.
Indem er Rhetorik und Dialektik in den Kreis der
"geheimen Künste" zieht, indem er die Kombinatorik mit der Kabbala,
der Astrologie und mit der magischen Medizin vermischt, indem er
den fünf Teilen der Rhetorik neue, der hermetischen Tradition
zugehörige Einteilungen entsprechen läßt, trieb Belot um die Mitte
des siebzehnten Jahrhunderts eine Diskussion zur Weißglut, die ihre
erfolgreichsten Manifestationen in den Werken von Agrippa, Bruno
und Giulio Camillo gefunden hatte. Die ersten Schriften des Belot
gehen auf 1620 zurück. Einige Jahre zuvor hatten Bacon und
Cartesius eine äußerst polemische Haltung gegenüber dieser Art von
Literatur eingenommen. Einen Punkt hatten sie übereinstimmend
hervorgehoben: auf dieser Ebene lösten sich die lullianische
Kombinatorik und die Künste der Memoria in ein unnützes Fabrizieren
von verblüffenden Spielzeugen auf, die den Pöbel täuschen, aber
nicht die Wissenschaften voranbringen konnten.