Das Erbe der Auseinandersetzungen des fünfzehnten
Jahrhundert um die ars memorativa war nicht nur von den
Exponenten der Magie und des Hermetismus des sechzehnten und des
Beginns des siebzehnten Jahrhunderts übernommen worden. Auf einem
anderen Terrain, dem einer rigorosen Durcharbeitung der Themen der
Dialektik und der Rhetorik, war in verschiedenen Kreisen, die
aufmerksam die logischen Dispute verfolgten und an den
Entwicklungen der Mathematik und Geometrie interessiert waren,
langsam von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an der
ramistische Versuch gereift, die mit der Memoria und den Regeln der
Mnemotechnik zusammenhängenden Probleme in eine umfassendere
Forschungsaktivität zur Reform der Methoden der Invention und
Kommunikation {R:trasmissione} des Wissens einzubringen. Die
Frage der "Hilfsmittel der Memoria" wird auf diese Weise eine
bemerkenswerte Resonanz auch in den Werken erreichen, die in der
ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts der Reform der Methode
gewidmet waren. Bacon wird in der ministratio ad memoriam
ein konstitutives Element der neuen Methode der Wissenschaften
sehen; Cartesius wird in Bezug auf die Enumeration von einer
kontinuierlichen Bewegung des Denkens sprechen, die den natürlichen
Gebrechen der Memoria abzuhelfen zum Ziel hat.
Die ciceronianische Tradition, die sich in ganz
Europa an dem Werk des Peter von Ravenna inspirierte, hatte in
Italien, wie wir gezeigt, ihre erfolgreichste und
aufsehenerregendste Weiterentwicklung gefunden. Was Frankreich
angeht, so können Werke wie die Memoria artificialis von
Campanus und die Ars memorativa von Leporeus (Paris 1515 und
1520) vernachlässt werden, da sie sich darauf beschränken, lustlos
das Werk des Ravennaten wiederzugeben. Hingegen sollte die Position
in Erinnerung gebracht werden, welche die größten Exponenten der
logischen und rhetorischen Forschungen jener Periode der
französischen Kultur einnahmen. Statt die mnemonische Kunst als
autonome Technik zu behandeln, beschäftigt sich Petrus
Ramus mit den
Beziehungen zwischen der "Memoria" auf der einen und der Dialektik
und Rhetorik auf der anderen Seite. Seine Reform will die Memoria
von der Rhetorik trennen, der eine säkulare Tradition sie
zugeschrieben hatte, und sich ihrer als eines konstitutiven
Elementes der Dialektik oder Neuen Logik bemächtigen.
Ramus liebte es, seine Reform als Rückkehr zu den
Lehren der klassischen Philosophie und als Vereinfachung und
Klärung der aristotelischen Lehre darzustellen, die seiner Meinung
nach durch die terminologischen Konfusion der Scholastiker und
durch die von Quintilian abhängige rhetorische Tradition
korrumpiert worden war. Der Philosoph, der in einer brillianten
Magisterarbeit beabsichtigt hatte, die
Falschheit aller aristotelischen Lehrsätze zu zeigen, erklärt ohne
Umschweife: "Bewahren wir die Bücher der Alten und greifen wir auf
sie zurück, wenn uns danach verlangt: lehren wir die reine und
wahre Philsophie, die in ihren Büchern versammelt
ist." Auf
Aristoteles läßt er übrigens auch die Verbindung von Philosophie
und Eloquenz zurückgehen, von der eine berühmten Rede von 1546
handelt: "Aristoteles verband die Weisheit des Geistes mit der
Fruchtbarkeit der Rede: auf seinen morgendlichen Spaziergängen
unterrichtete er allein die Philosophie, auf den nachmittäglichen
auch die Rhetorik." Um die wahre Bedeutung der
aristotelischen Lehre zu rekonstruieren und um die Wahrheiten, die
in den aristotelischen Werken enthalten sind, ans Licht zu bringen,
ist es laut Ramus notwendig, jede Vermengung von Grammatik,
Dialektik und Rhetorik zu verwerfen: erstere soll für die Probleme
der Etymologien zuständig sein, die zweite für die Kunst der
Invention und des Urteils {R:giudizio} ; die dritte soll sich auf die
Behandlung der Techniken des "Stils" und des "Vortrags"
beschränken: auf die Fähigkeit, das von der Dialektik produzierte
Material auszuschmücken und zu kommunizieren
{R:trasmettere}.
In die Geschichte der Logik und der Rhetorik hat
sich laut Ramus ein Irrtum eingeschlichen, der den Sinn beider
denaturiert hat. Mit Aristoteles hatte man angenommen und mit
Cicero und der Scholastik danach bekräftigt, daß es möglich wäre,
zwei verschiedene Logiken zu entwikeln, die eine in der Sphäre der
Wissenschaft gültig, die andere im Reich der Meinung
und der populären Rede, die eine geeignet für die Weisen,
die andere für das Volk. Diese Duplizität wird von Ramus verworfen:
die Theorie der inventio und der dispositio ist eine
einzige, die in allen Sphären und in jedem Diskurs gilt. An die
Existenz zweier Logiken geglaubt zu haben, hat zu einer hybriden
Vermischung von Begriffen geführt, ähnlich jener, für die
Quintilian verantwortlich ist, der Dialektik und Rhetorik
durcheinandergebracht und schließlich die Situation noch
verschlimmert hat, indem er die Themen der Rhetorik mit denen der
Ethik vermischte:
Die dem Menschen von der Natur zugeteilten
allgemeinen und universalen Begabungen sind zwei: Vernunft und Rede
{CU:ratio et oratio}. Die Lehre {CU:doctrina} von
jener ist die Dialektik, von dieser die Grammatik und Rhetorik. Die
Dialektik untersucht die allgemeinen Kräften der menschlichen
Vernunft im Denken und Ordnen /Disponieren der Dinge
{CU:generales humane rationis vires in cogitandis et disponendis
rebus}; die Grammatik beurteilt die Reinheit der Rede in
Etymologie und Syntax mit dem Ziel des richtigen Sprechens und
Schreibens. Die Rhetorik zeigt den Schmuck der Rede in den Tropen
und Figuren sowie in der Würde des Vortrags. Die anderen Künste
werden durch diese universalen Instrumente erzeugt... Aristoteles
rief die allergrößte Konfusion hervor: er machte aus der Invention
den ersten Teil der Rhetorik, und das ist falsch, weil die
Invention, wie ich schon gesagt habe, zur Dialektik gehört....
Quintilian behauptet, daß Gegenstand der Rhetorik alle die Dinge
sind, die zur Rede gehören... und teilt die Rhetorik in fünf Teile:
inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio.
Man muß sich wundern, wie wenig Ahnung Quintilian von Dialektik
hatte: indem er die Dialektik mit der Rhetorik verwechselte, konnte
er nicht erkennen, daß zur Dialektik die Invention, die Disposition
und die Memoria gehören; zur Rhetorik jedoch nur die Elokution und
die Aktion //der Vortrag.
Beständig unterstreicht Ramus die Trennung von
Dialektik und Rhetorik. Gegenüber dem Einwurf, daß der Redner sich
nicht der von der Dialektik ausgearbeiteten Argumente bedienen
könne, antwortet er, daß die Verbindung Dialektik-Rhetorik eine
Unterscheidung zwischen der Theorie der Dialektik und der
Rhetorik nicht nur nicht ausschließt, sondern geradezu
fordert.
Geometrie, Musik und Astrologie können nicht ohne
die Zahlen existieren: diese Künste müssen deshalb die Zahlen
erklären und in ihren Dienst nehmen. So sind in der Praxis die
Künste, wie ich schon so oft gesagt habe, eng untereinander
verbunden. Die Regeln der einzelnen Künste indes dürfen indes nicht
verwechselt werden, sondern sollen in getrennten Untersuchungen
erklärt werden.
Die artes logicae umfassen also für Ramus
Dialektik oder Logik und Rhetorik: jene gliedert sich
in inventio und dispositio, diese in elocutio
und pronuntiatio. Indem er auf den Spuren von Quintilian und
Cicero die dispositio mit dem iudicium identifiziert
(das als Secunda pars Rami bekannte zweite Buch der
Dialectica handelt De iudicio et argumentis
disponendis), läßt er jene Teile der Dialektik wieder in die
Behandlung der dispositio eintreten, die sich auf die Axiome
oder Propositionen, auf den Syllogismus und die Methode
beziehen:
Die Logik hat zwei Teile: die Topik für das
Auffinden der Argumente {CU:topica in inventione
argumentorum} d.h. (wie im Organon gesagt wird), der
mittleren Prinzipien der Elemente und die Analytik für ihre
Disposition... Die Disposition ist die richtige Anordnung
{CU:collocatio} der aufgefundenen Dinge... Und dieser Teil
ist es, der richtig Urteil {CU:iudicium} genannt wird, da
der Syllogismus die allgemeine Regel ist, um alles zu beurteilen
... Die Kunst der Dialektik hat zwei Teile: Invention und
Disposition. Denn wenn einmal die Frage gestellt ist, die es
abzuhandeln gilt, werden die Beweise und Argumente gesucht; wenn
diese dann methodisch und geordnet disponiert sind {CU:via et
ordine dispositis}, expliziert sich die Frage
selbst.
In einer der vorhin zitierten Stellen ist der
Begriff memoria neben dem der inventio und der
dispositio als eines der konstitutiven Elemente der
Dialektik aufgetreten ("zur Dialektik gehören die Invention, die
Dispositon, die Memoria; zur Rhetorik nur die Elokution und die
Aktion //der Vortrag"). Der memoria kommt laut Ramus eine
präzise Aufgabe zu: sie bildet das Instrument, um Ordnung in
das Wissen und den Diskurs einzuführen. So kann sie nicht
ausgelassen oder vernachlässigt werden:
Du sagst, daß drei Dinge von einem Redner bedacht
werden müssen: was er sagen soll, wo er es sage und auf welche
Weise. Du begreifst unter dem ersten Punkt die Invention, unter dem
zweiten die Ordnung {CU:collocationem}, unter dem dritten
die Elokution und den Vortrag. Aber wo ist die Memoria geblieben?
Du sagst, daß sie vielen Künsten gemeinsam ist und deswegen
ausgelassen wurde. Aber in Wahrheit, sage ich dir, sind auch die
Invention und die Disposition vielen Künsten gemeinsam. Also, warum
werden jene anerkannt und diese verachtet?
Vergegenwärtigt man sich diese der Memoria
zugeschriebene ordnende Funktion, wird die Identifikation
der Memoria (die in der Tradtion eine der fünf für die Rhetorik
konstitutiven "großen Künste" war) mit der Lehre von dem Urteil,
das zur Dialektik oder Logik gehört, signifikant. Dispositio,
iudicium und memoria werden auf diese Weise in vielen
ramistischen Werken austauschbare Begriffe: dem Urteil fällt
genau die Aufgabe zu, die res inventas nach einer
"rationalen" Ordnung anzuordnen oder zu disponieren
{R:collocare o disporre}:
Wir weisen dem Dialektiker zu Recht die Invention,
die Disposition und die Memoria zu; wir lassen dem Redner die
Elokution und den Vortrag... Wir definieren das Urteil als die
Lehre, die aufgefundenen Dinge zu ordnen und nach dieser Ordnung
über die proponierte Sache zu urteilen: diese Lehre ist sicherlich
ebenso die von der Memoria (wenn es von dieser irgendeine Disziplin
geben kann) und sie ist die wahrhaftigste und sicherste, denn ein
und dieselbe ist die Regel der beiden höchsten Kräfte des Geistes:
des Urteils und der Memoria .. Zweierlei gehört zur Vernunft: die
Invention der Argumente und ihre Beurteilung in der Disposition
{CU:eorumque iudicium in dispositione}... und die Memoria
ist eine Art von Schatten der Disposition... Deshalb gehören jene
drei Teile, die Invention, die Disposition und die Memoria zur
dialektischen Kunst.
Trotz der von Ramus vorgebrachten Zweifel an der
Möglichkeit einer Disziplin der Memoria als autonomer Kunst, ja
vielmehr gerade kraft dieser Zweifel ist seine Konzeption der
Methode als systematische und geordnete Disposition der
Begriffe in der Lage, viele "Regeln" der Mnemotechnik zu
absorbieren. Die Absorbierung der Memoria durch die Logik und die
Identifikation der Aufgabe der Methode mit jener der Memoria
bezeichnete den Geburtsakt der Konzeption der Methode als
klassifikatorische Funktion gegenüber der Wirklichkeit, eine
Funktion, die allergrößten Erfolg im europäischen Denken der
folgenden Jahrhunderte haben wird. Diese Art von Erwägung nahm die
Einstellung Bacons vorweg und näherte die Position von Ramus
derjenigen Melanchtons an, der in den Erotemata dialecticae
in der Methode gesehen hatte:
einen Habitus oder eine Wissenschaft oder Kunst,
die mit sicherer Methode {R:con metodo sicuro; CU:certa
ratione} einen Weg einrichtet, d.h. durch unwegsame Orte und
die Verwirrung der Dinge einen Weg findet und erschließt und die
zum Thema {CU:ad propositum} gehörigen Dinge herausfindet
und geordnet vorbringt {CU:eruit ac ordine
promit}.
Es gibt einige Ziele, die vielen Autoren gemeinsam
sind, sei es daß sie der Tradition der ciceronianischen ars
memoriae, sei es der des Lullismus angehören. Zum Beispiel die
systematische Anordnung der notiones und der
argumenta, die geordnete collocatio der Orte, die
Konstruktion von Enzyklopädien und die Einrichtung einer
universalen Topik. Die Tatsache, daß ein junger böhmischer
Gelehrter wie Johannes von Nostiz an eine neue, auf den Lehren von
Lullus, Ramus und Giordano Bruno gegründete Logik denken konnte,
ist ein schlagender Beweis für jene fundamentale Einheit der
Intentionen.
Um zum Schluß zu kommen: was vor allem an der
Position von Ramus unterstrichen werden muß, ist der Versuch, die
mit der Memoria verbundenen Probleme in einen umfassenderen Diskurs
einzubauen, der nicht nur auf die Entwicklung einer für Redner,
Advokaten und Poeten nützlichen Technik zielt, sondern auch Fragen
der Methode und Logik betrifft. Mehr als auf die Werke der modernen
Philosophiehistoriker, die sich lange in der Bedeutung der
ramistischen Reform getäuscht haben, sollte man sich auf die
Erklärung des Omar Talon (Audomarus Talaeus), des großen
Theoretikers der Rhetorik des sechzehnten Jahrhunderts und
ergebenen Schülers und Mitarbeiters von Ramus berufen: "letzterer -
schrieb er - hat die Theorie der inventio, der
dispositio und der memoria zur Logik, zu der sie
eigentlich gehören, zurückgeführt." Auch sollte, um mögliche
Mißverständnisse zu klären, das Urteil von Pierre Gassendi wieder
gelesen werden:
Nachdem er [Ramus] festgestellt hat, daß die
Rhetorik gemeinhin in fünf Teile aufgeteilt wurde: Invention,
Disposition, Elokution, Memoria und Aktion oder Vortrag, stellte er
fest, daß allein zwei von ihnen zur Rhetorik (nämlich die Elokution
und die Aktion oder der Vortrag) und daß zwei Künste zur Logik
gehörten: die Invention und die Disposition. Da nun diese beiden
sich der Memoria bedienen, konnte diese auch den beiden anderen
zugeschrieben werden. Er teilt also die Logik oder Dialektik ... in
zwei Teile: Invention und Urteil {CU:iudicium} (er zieht
nämlich diesen Begriff dem der Disposition vor). Er erklärte
folglich die gesamte Kunst in zwei Büchern.
Auf die revolutionäre Tragweite einer anscheinend
so inoffensiven Reform für die Geschichte der Logik ist man in
jüngerer Zeit langsam aufmerksam geworden. Im Hinblick auf unsere
begrenzten Ziele mag folgende Feststellung genügen: die von Ramus
eingeschlagene Richtung bedeutet eine radikale Wende. In dieser
seiner Richtung einer Absorbierung der Lehre von den
Hilfsmitteln der Memoria durch die umfassenderen Bereiche der Logik
und der Methode werden sich, wenn auch mit verschiedenen und
manchmal abweichenden Absichten, Bacon, Cartesius und später
Leibniz bewegen.
Bacon publizierte 1605 das Advancement of
Learning, das Novum Organum (dessen Niederschrift um
1608 begonnen worden war) und De augmentis scientiarum 1620
beziehungsweise 1623. Die Cogiationes privatae von Cartesius
sind von 1619, die Regulae ad directionem ingenii wurden
zwischen 1619 und 1628 verfaßt, der Diskurs über die Methode
1637 publiziert. In diesem Trentennium gelangten der englische und
der französische Philosoph im Hinblick auf die combinatoria
und die ars memoriae zu Ergebnissen, die eine beträchtliche
Übereinstimmung zeigen.
Sowohl in den Texten Bacons wie in denen von
Cartesius läßt
sich sich eine direkte Kenntnis der Werke über die
memorative Kunst aus dem sechzehnten Jahrhundert nachweisen. Bacon
erwähnt mehrfach die "Sammlungen von Orten", die "Syntaxen", die
ihm zu lesen passiert war, sowie die "künstliche Memoria";
ausdrücklich bezieht er sich auf die "Lehre von den Orten", die
"Kollokationen der Bilder" und die "Typokosmie" lullianischer
Herkunft. Cartesius, der sehr viel geiziger mit expliziten
Hinweisen ist und das Zitieren nicht schätzt, erwähnt dennoch seine
Lektüre der Ars memorativa von Schenkelius, verweist
mehrfach auf die ars memoriae und auf die Funktion der
"sinnlich wahrnehmbaren Bilder" für die Darstellung der
intellektualen Begriffe, spricht in einer charakteristischen
Terminologie von catena scientiarum, interessiert sich
lebhaft für die Entdekungen eines unbekannten Anhängers des Lull
und wendet sich an den Freund Beeckmann, um Auskünfte über die
lullianischen Werken Agrippas und über Bedeutung und tatsächliche
Möglichkeiten der Kunst zu erhalten. Diese Themen und Interessen
haben also eine beträchtliche Anziehungskraft auf das Denken Bacons
und des jungen Descartes. Darüber hinaus aber wirken einige der aus
der Tradition der ars memorativa und der ars
combinatoria entnommenen Elemente tief im Innern selbst von
Bacons und Descartes' Formulierung einer neuen Methode und einer
neuen Logik.
Davon mehr weiter unten. Was hier hervorgehoben zu
werden verdient, ist die Bedeutung der Absage Bacons und Cartesius'
gegenüber den zu intellektuellen Spielzeugen herabgesunkenen
memorativen Techniken, überfrachtet mit Anleihen bei jener
magischen Mentalität, gegen die beide Philosophen Position bezogen.
Die Bewertung der lullianischen Kunst, die wir einerseits in dem
Brief an Beeckmann von 1619 und in dem Discours de la
méthode, andererseits im Advancement of learning und in
De augmentis vorfinden, ist in dieser Hinsicht sehr
bedeutsam. Gegenüber dem alten Anhänger der ars brevis, der
sich rühmt, eine ganze Stunde lang über jedes beliebige Thema reden
zu können, um dann für weitere zwanzig Stunden im Reden über
dasgleiche Thema in immer wechselnder Form fortzufahren, hat
Cartesius, obwohl er an der Frage {R:al problema} sehr
interessiert ist, den Eindruck einer auf ganz und gar
bibliothekarischer Gelehrsamkeit gegründeten Geschwätzigkeit und
einer Aktivität, der es nicht um die Wahrheit, sondern um die
Erregung der Bewunderung des Pöbels geht. Dieser cartesianische
"Verdacht" verwandelt sich achtzehn Jahre später im Discours sur
la méthode in Sicherheit: Statt unbekannte Wahrheiten zu
erkennen oder bekannte zu vermitteln, dient die Kunst des Lull nur
dazu, ohne jede Vernunft von dem zu reden, wovon man in
Wirklichkeit nichts weiß. Zu identischen Ergebnissen war Bacon in
dem 1623 ins Lateinische übersetzten Werk von 1605 gelangt: die
lullianische Methode, die große Gunst bei einigen Charlatanen
genießt, ist der Bezeichnung Methode nicht würdig; sie ist auf
Ostentation aus statt auf Wissenschaft und läßt unwissende Menschen
gelehrt erscheinen; auf einer chaotischen Masse von Worten
gegründet, setzt sie die Kenntnis von Begriffen an die Stelle
tatsächlicher Kenntnis der Künste und und ähnelt einem Trödelladen,
in dem sich viele Dinge finden, von denen keines großen Wert
hat:
Bacon, De augmentis, VI,2,
Man kann die Tatsache nicht mit Schweigen übergehen, daß
einige eher aufgeblasene als gelehrte Individuen sich mit einer
Methode abgemüht haben, die dieses Namens nicht würdig ist, da sie
in Wirklichkeit eine einigen Schwindlern höchstwillkommene Methode
zum Betrügen ist. Diese Methode nimmt einige Schlückchen aus
irgendeiner Wissenschaft, dergestalt daß ein Ignorant den Anschein
eine nichtvorhandene Gelehrsamkeit erwecken kann. Solcher Art war
die Kunst des Lullus, solcher Art die Typokosmie, die irgendjemand
erdacht hat. Die eine und die andere sind nur eine Anhäufung von
Begriffen aus allen Künsten und sollen bewirken, daß der, der mit
diesen Begriffen vertraut ist, als jemand geschätzt wird, der sie
kennt. Ein Anhäufung dieser Art ist gut für den Laden eines
Trödlers wo sich viele alte Hadern {R:vecci stracci;
CU:praesegmina} finden, aber keine von irgendwelchem
Wert. |
Cartesius, an Beeckmann, 29.4.1619 und
Discours.
Vorgestern traf ich in einer Herberge in Dordrecht einen
gelehrten Mann, mit dem ich über die ars parva von Lullus
sprach .. Er war ein etwas geschwätziger Alter und seine aus
Büchern geschöpfte Gelehrsamkeit {R:cultura;
CU:eruditio} kam ihm mehr aus dem Mund als aus dem Gehirn.
Ich habe den Verdacht, daß er mehr sprach, um die Bewunderung der
Unwissenden zu erregen als um die Wahrheit zu sagen [...].
Was die Logik angeht, dienen die Syllogismen und der größte
Teil ihrer anderen Techniken {CU:instructions} eher dazu,
anderen Dinge zu erklären, die man schon kennt, oder sogar, wie die
Kunst des Lullus, ohne Verstand {CU:sans jugement} von jenen
zu reden, die man nicht kennt, statt sie zu erlernen. |
Der gegen die lullianische Kombinatorik gerichtete
Vorwurf der "Ostentation" erhält an Stellen wie diesen eine
herausragende historische Bedeutung : hier will man genau jene
Reduktion der Kunst auf das Niveau der Magie treffen, auf welcher
viele Kommentatoren des sechzehnten Jahrhunderts lang und breit
herumgeritten waren. Diese Anklage war in Wirklichkeit nicht neu,
aber neu ist die Bedeutung, die sie in den in einer harten Polemik
gegen die magisch-okkultistische Tradition engagierten Schriften
von Bacon und Cartesius annimmt. Die in Bacons Werk von 1623
ausgesprochene Bewertung, die vielleicht in Beziehung zu der
späteren im Discours de la méthode ausgesprochenen gesehen
werden könnte, scheint genau dem Urteil eines der großen
Kommentatoren des Lullus nachgezeichnet zu sein, der aus seiner
Sympathie für die magischen Künste keinen Hehl gemacht hatte.
Cornelius Agrippa schrieb:
In einer Sache muß ich euch ermahnen: diese Kunst
dient eher dem Pomp des Ingeniums und eher der Schaustellung des
Wissens als seinem Erlangen: statt voller Wirksamkeit ist sie
voller Unverschämtheit.
Bis jetzt haben wir uns mit der Kombinatorik
beschäftigt, aber auch im Hinblick auf die ars memorativa
können die von Bacon und Cartesius bezogenen Positionen mit Gewinn
verglichen werden. Cartesius zögert nicht, die Ergebnisse, zu denen
Schenkel in einem Werk von 1595 über die Memoria gelangt war, als
"Dummheiten" zu bezeichnen. In dessen Werk erschienen neben den
gewohnten Regeln der ars reminiscendi die bekannten Verweise
auf die aristotelischen und thomistischen Quellen, auf die
galenische Medizin, die Hinweise auf Simonides, Themistokles und
Ciro, auf Augustinus und Pico della Mirandola, auf Peter von
Ravenna und auf den Lullisten Bernardo di Lavinheta. Den Autor dieses Buches sieht
Descartes ohne Umschweife als "Charlatan": dieser falschen und den
Wissenschaften unnützen Kunst setzt er das Wissen um die Ursachen
gegenüber. Nicht unähnlich, wenn auch sehr viel reicher an
Verweisen, ist die Position von Bacon: er leugnet nicht, daß es
durch die Pflege des künstlichen Memoria möglich sei, zu
wunderbaren Resultaten zu gelangen; auch behauptet er nicht (wie es
gewöhnlich geschieht), daß die memorativen Techniken das natürliche
Gedächtnis negativ beeinflussen könnten. In der Art indes wie die
Kunst angewandt wird erscheint sie ihm steril: sie dient dazu, sich
in ein glänzendes Licht zu stellen, und ist doch bar jeder
Nützlichkeit. In der Lage sein, sofort und in der gleichen Ordnung
eine große Anzahl ein einziges Mal vorgetragener Worte zu
wiederholen oder eine große Anzahl von extemporierten Versen über
ein Thema ad libidum zu komponieren ist durch die Kultivierung
einiger natürlicher Fähigkeiten möglich, die durch wiederholte
Übungen auf ein wunderbares Niveau gebracht werden können. Aber auf
dies alles - fährt Bacon fort - achten wir nicht mehr als auf die
Beweglichkeit der Seiltänzer und die Geschicklichkeit der Gaukler.
Unter den Methoden und unter den Syntaxen von Allgemeinplätzen, die
mir vor Augen gekommen sind - schreibt er - ist keine einzige, die
irgendeinen Wert hätte; schon die Titel dieser Traktate riechen
mehr nach der Schule als nach der wirklichen Welt, und die
pedantischen Aufteilungen, derer sich ihre Autoren bedienen,
dringen in keinster Weise zum Mark der Dinge vor.
Der Passus, auf den wir uns bezogen haben, klingt
zweifellos wie eine Verdammung. Dennoch wird eines unmittelbar
deutlich: Bacon ist der Überzeugung, daß es möglich sei, von den
Gedächtniskünsten einen anderen als den traditionellen Gebrauch zu
machen. Anstatt sich dieser Künste zu bedienen, um mit der
wunderbaren Höhe zu prangen, zu der eine Fähigkeit entwickelt
werden kann, und statt sie den Zielen von Charlatanen
unterzuordnen, wird es möglich sein, sich ihrer im Hinblick auf
ernsthafte und konkrete Zwecke zu bedienen: es wird sogar möglich
sein, die schon existierenden Techniken der Memoria im Hinblick auf
dieses neue Ziel zu verbessern und zu vervollkommnen. Die Memoria -
schreibt er im selben Kapitel von De augmentis (und deser
Passus wird im entsprechenden Kapitel des Advancement
fehlen) - ist bis jetzt träge und kraftlos erforscht worden. Es
fehlt nicht an Schriften, die sich mit der Erweiterung und Stärkung
der Memoria abgeben, und dennoch könnte sowohl die Theorie wie die
Praxis der ars memorativa durch die Enwicklung neuer Regeln
verbessert werden. Eine in den Methoden verbesserte und in den
Zielsetzungen erneuerte memorative Kunst erscheint in zwei Gebieten
notwendig: in dem der "alten und populären " Wissenschaften und in
jenem "vollständig neuen" der wissenschaftlichen Methode der
Erforschung der Natur. Diese Unterscheidung zwischen den
verschiedenen Funktionen oder Anwendungsfeldern der memorativen
Kunst wird in einem Abschnitt von De augmentis erörtert.
Dort finden wir die allen Theoretikern der Mnemotechnik
liebgewordene Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher
Memoria. Zu behaupten, daß bei der Interpretation der Natur -
schreibt Bacon - die nackten und angeborenen Kräfte der Memoria
genügen könnten, ohne daß sie selbst durch geordnete Tafeln
{R:tavole ordinate} unterstützt würde, hieße behaupten, daß
ein Mensch ohne Hilfe irgendeiner Schrift und nur im Vertrauen auf
die Memoria die Berechnungen für ein Buch der Ephemeriden lösen
könnte. Aber abgesehen von der interpretatio naturae, die
eine vollständig neue Lehre ist, kann eine solide Stütze
{R:amminicolo} der Memoria auch in den alten und populären
Wissenschaften von größtem Nutzen sein.
Von der Funktion, die die Hilfsmittel der Memoria
(ministratio ad memoriam) in der baconianischen Logik
übernehmen und von dem Einfluß der Renaissancetraktate über die
Mnemotechnik auf die baconianische Entwicklung der neuen Methode
der Wissenschaften (die interpretatio naturae) werden wir im
folgenden Abschnitt 4 sprechen. Wir wollen uns hier darauf
beschränken, die Hinterlassenschaft der Diskussionen der
Renaissance über die künstliche Memoria in jenem Teil der
baconianischen Untersuchung zu bestimmen, der sich auf die
traditonelle Logik bezieht. Letztere behält laut Baco ihren vollen
Wert im Bereich der Reden, Dispute, Kontroversen, der beruflichen
Tätigkeiten und des bürgerlichen Lebens; die andere, die induktive
Logik, ist indes unverzichtbar im Bereich der fortschreitenden
Eroberung der natürlichen Wirklichkeit durch den Menschen. Die
erstere der beiden Logiken existiert tatsächlich, wurde von
den Griechen geschaffen und danach viele Jahrhunderte hindurch
verbessert und und vervollkommnet; die andere stellt jedoch ein
noch nie versuchtes Projekt oder Unternehmen dar. Die wirksame
Ausführung dieses Projektes setzt voraus, daß die Einstellung des
Menschen gegenüber der Natur radikal verändert wird und damit die
Denfinition von "Philosophie" und "Wissenschaft" selbst. Aber im
Bereich der Ziele, die sich die traditionelle Philosophie setzt,
bedeutet die alte Logik kein Scheitern. Hierin ist Baco
ziemlich deutlich: wofern man nur die bestehenden Wissenschaften
pflegen und überliefern will; wofern man die Menschen lehren will,
schon erklärten Wahrheiten zu folgen und sie zu benutzen, oder
ihnen die Kunst beibringen will, Argumente zu erfinden und in den
Disputen zu triumphieren, erweist sich diese Logik als vollkommen
funktional, auch wenn sie noch der Vervollständigung und
Vervollkommnung bedarf. Wo er sich aber mit den Eigenschaften der
neuen Logik beschäftigt, erklärt Bacon immer wieder, sich hierbei
überhaupt nicht für die populären oder meinungsabhängigen Künste zu
interessieren, noch irgendwie zu behaupten, daß die neue Logik die
Ziele realisieren helfen könne, für die die traditionelle Logik
entwickelt wurde. In dem auf Meinung und wahrscheinlichem Urteil
gegründeten Wissen, in Fällen also, beteuert Bacon im Novum
Organum [1623], in denen es sich darum handelt nicht die Dinge,
sondern die Meinung zu bezwingen, ist der Gebrauch der
Antizipationen {R:delle anticipazioni} und der Dialektik gut
(bonus), während er vom Standpunkt der Neuen Logik aus
verdammenswert erscheint. Die augenblicklich gebräuchliche
Dialektik, so wird noch im Vorwort zur Instauratio magna
behauptet, ist absolut nicht in der Lage, die "Subtilität der Natur
erreichen", aber sie kann wirkungsvoll im "Bereich der bürgerlichen
Dinge und der Künste angewendet werden, die das Reden und Meinen
betreffen". Nur wenn man nicht über Gegner, sondern über die
Dunkelheiten der Natur triumphieren will, nicht zu wahrscheinlichen
Kenntnissen, sondern zu sicherem und bewiesenem Wissen gelangen
will, nicht Argumente erfinden will, sondern Werke, muß man die
interpretatio naturae anwenden, die von der anticipatio
mentis oder der gewöhnlichen Logik unendlich verschieden
ist.
Im Feld dieser gewöhnliche Logik haben die
memorativen Techniken eine präzise Funktion. Im fünften Kapitel des
fünften Buches von De augmentis, das der ars
retinendi gewidmet ist, tauchen denn auch die Themen der
"ciceronianischen" ars memorativa wieder auf: die Lehre von
den loci und den imagines, die These einer
notwendigen "Konvenienz" zwischen den Bildern und den Plätzen und
die Anerkennung der Notwendigkeit, Begriffe mithilfe von Bildern
und Emblemen sinnlich wahrnehmbar darzustellen. Das Thema einer
Topik oder systematischen Sammlung von Plätzen wurde in diesen
Passagen weiterentwickelt: gewöhnlich behauptet man - schreibt
Bacon -, daß die Sammlung der Orte dem Wissen schädlich sein kann;
die Mühe, die notwendig ist, solche Sammlungen herzustellen wird
aber ganz Gegenteil immer belohnt werden, weil es in der Welt des
Wissens nicht möglich ist, zu Resultaten zu gelangen, wenn die
solide Basis eines umfassen Wissens fehlt. Die Orte "liefern der
Invention Materialien und schärfen das Urteil, indem sie ihm
ermöglichen, sich auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren". Die
zwei Hauptinstrumente der Kunst der Memoria sind der
Vorbegriff und das Emblem {R:la prenozione e
l'emblema}. Jener hat die Aufgabe, einer Forschung Grenzen zu
setzen, die sonst ins Unendlich verlaufen würde. Er soll das Feld
der Begriffe begrenzen und Bereiche festlegen, innerhalb derer die
Memoria sich leicht bewegen kann. Die Memoria braucht nämlich vor
allem Begrenzungen: Ordnung und Einteilung
{R:distribuzione} der Erinnerungen, "schon im voraus
bereitete" Orte der künstlichen Memoria und Verse sind für
Bacon die wichtigsten dieser Begrenzungen. Im ersteren Fall soll
die Erinnerung mit der festgelegten Ordnung übereinstimmen, im
zweiten sich in spezifische Beziehung zu den benutzten Plätzen
setzen, im dritten soll sie eine Rede sein, die mit dem Vers
übereinstimmt. In die Formierung der Bilder führen die Plätze daher
Ordnung und Kohärenz ein, aber die Bilder ihrerseits können
leichter im Rückgriff auf Embleme konstruiert werden. Diese "machen
die intellekualen Dinge sinnlich wahrnehmbar, und da das Sinnliche
die Memoria stärker beeindruckt, prägt es sich ihr mit größter
Leichtigkeit ein". Ganz und gar ähnlich der von den Emblemen
ausgeübten Funktion ist die der Gesten und
Hieroglyphen: die Embleme haben also nicht eine auf den
speziellen Bereich der Memoria begenzte Funktion, sondern wirken
als richtige Kommunikationmittel. Bei den Gesten befinden wir uns
"transitorischen Emblemen" gegenüber; bei den Hieroglyphen
"schriftlich fixierten Emblemen". Die Beziehung Gesten-Hieroglyphen
ist in dieser Hinsicht identisch mit der zwischen gesprochener und
geschriebener Sprache. Während nun die Hieroglyphen, insofern sie
Embleme sind, immer etwas mit der bezeichneten Sache gemeinsam
haben (similitudo cum re significata), sind die
Realcharaktere oder Ideogramme ohne jede Emblematik. Ihre
Bedeutung hängt allein von der Konvention und von der langsamen
Gewöhnung an sie ab. Die Eigenschaft der Konventionalität verbindet
die Realcharaktere mit den Buchstaben des Alphabets, aber jene
beziehen sich im Unterschied zu diesen direkte auf die bedeuteten
Dinge, "sie repräsentieren nicht Buchstaben noch Worte, sondern
Dinge oder Begriffe". Ein in Realcharakteren verfaßtes Buch kann
daher von verschiedenen linguistischen Gruppen angehörenden und
verschiedene Sprachen sprechenden Personen, die die Bedeutungen der
verschiedenen Ideogramme nach Vereinbarung akzeptieren, gelesen und
verstanden werden.
Aber gerade mit den Diskussionen der künstlichen
Memoria hatten sich in der Renaissance die Debatten über die Gesten
und Hieroglyphen verbunden. Beim Ausloten der Frage der Bilder war
Giambattista della Porta in seiner Ars reminiscendi auf
Probleme solcher Art gestoßen. Nachdem er einmal das Bild als
"animiertes Gemälde" definiert hatte, das wir "in der Imagination
empfangen, um sowohl ein Faktum wie ein Wort darzustellen", fand
sich Porta einer großen Schwierigkeit gegenüber: nicht für alle
sprachlichen Begriffe, bemerkte er, ist die Konstruktion von
geeigneten Bildern möglich ("von Worten, die wir erinnern, haben
einige ihre Bilder, andere haben keine"). Im Fall von Worten, die
keine materiellen Dinge symbolisieren, wie "weil", "oder", "sehr"
usw, muß man die Bilder der Schrift entnehmen: nämlich den
einzelnen Buchstaben oder Buchstabengruppen, die ein Wort bilden,
geeignete Bilder entsprechen lassen. In anderen Fällen ist es
dagegen möglich, direkt auf das Signifikat zurückzugreifen,
und bei diesem Vorhaben zeigt sich die Parallele mit den
Hieroglyphen geeignet: weil die Ägypter "keine Buchstaben kannten,
mit denen sie die Begriffe aufschreiben konnten .. und um leichter
die nützlichen Spekulationen der Philosphie im Gedächtnis zu
behalten erfanden sie (wieder) {R:ritrovorno} das Schreiben
mit Gemälden {R:con pitture}, wobei sie sich der Bilder
{R:d'imagini} von Vierfüßlern, Vögeln und Fischen
bedienten... was wir für unsere Untersuchung so nützlich befunden,
daß wir unsererseits nur noch Bilder statt der Buchstaben benutzen
wollen, um sie in die Memoria zu malen". Andere Signifikate, fuhr
Porta fort, können durch Gesten ausgedrückt werden ("wir können
einige Bedeutungen von Wörtern ebenso gestisch ausdrüken").
Folgerungen dieses Typs finden sich in dem Thesaurus
artificiosae memoriae von Rosselli (1579) und im De memoria
artificiosa libellus von Johannes Austriacus (1610), der, genau
wie Bacon, Gesten und Hieroglyphen in die allgemeinere Kategorie
der "Zeichen" hatte wiedereintreten lassen.
Die Abhandlung von Bacon scheint also tief von
einer alten Literatur über die Zeichen und Bilder beeinflußt. Die
volle Breite der Übernahme des großen Renaissanceerbes der ars
memorativa seitens Bacons wird aber im Novum Organum
(II, 26) deutlich. Hier werden nicht nur die "technische" Resultate
übernommen, zu denen die Theoretiker der künstlichen Memoria gelang
waren, sondern die Abhandlung reichert sich auch mit
psychologischen Begriffen und neuen Regeln an:
Was untersucht werden soll, sei zum Beispiel die
Natur der Memoria oder dessen, was sie erregt und stärkt.
Konstitutive Fälle sind Ordnung und Einteilung als sichere
Hilfsmittel der Memoria, ebenso Orte für die künstlichen
Memoria; diese können Orte im eigentlichen Sinn sein, wie Tür,
Ecke, Fenster und ähnliches; sie können auch vertraute und bekannte
Personen sein, oder was sonst immer beliebt, wenn nur in in einer
bestimmten Ordnung disponiert, wie Tiere und Kräuter; aber auch
Worte, Buchstaben, Charaktere, historische Persönlichkeiten und so
weiter, wenngleich einige geeigneter sind als andere. Solche
Orte stärken die Memoria außerordentlich und steigern sie
weit über ihre natürliche Fähigkeit. Auf diegleiche Weise prägen
sich Verse leichter ein und lassen sich leichter als Prosa lernen.
Diese Gruppe von drei Fällen, nämlich Ordnung, Orte der künstlichen
Memoria und Verse, bildet eine einzige Art von Hilfe für die
Memoria. Diese Art kann zu Recht Unterbrechung der
Unendlichkeit genannt werden. Will nämlich einer sich auf etwas
besinnen oder es in die Memoria zurückrufen, ohne irgendeinen
Vorbegriff von dem zu Suchenden zu haben, so sinnt er nach und irrt
umher von hier nach da bis ins Unendliche. Wenn er aber dagegen
einen bestimmten Vorbegriff davon hat, wird das unendliche Rennen
sofort unterbrochen und das Umherlaufen der Memoria führt nicht in
die Ferne. In den genannten drei Fällen ist dieser Vorbegriff
evident und sicher: im ersten Fall ist etwas gegeben, das mit einer
sicheren Ordnung übereinstimmt; im zweiten Bilder, die eine
Beziehung oder Übereinstimmung mit jenen festgelegten Orten haben;
im dritten Worte, die einen Vers bilden. Auf diese Weise wird das
Unendliche unterbrochen. Andere Fälle ergeben eine zweite Art:
danach unterstützt all das die Memoria, was etwas Geistiges den
Sinnen eindrückt (und diese Methode ist von großem Nutzen für die
künstliche Memoria). Andere Fälle führen zu einer wieder anderen
Art: alles was starke Gefühle erweckt und Furcht, Bewunderung,
Scham und Freude erregt, ist der Memoria von Nutzen. Weitere Fälle
ergeben weitere Arten: alles was sich dem reinen oder gereinigten
Geist einprägt, wie das, was man in der Kindheit lernt oder was
einem kurz vor dem Einschlafen in den Sinn kommt oder was sich zum
ersten Mal ereignet, prägt sich stärker der Memoria ein.
Weniger explizit, und daher schwieriger zu
bestimmen sind die Verbindungen mit der Tradition der Kombinatorik.
Auf Lullus verweist Bacon nur ein einziges Mal in einem Satz, der
ihn - wir haben es gesehen - ausdrücklich verdammt. Dennoch führen
einige Themen seiner Philosophie auf jenen universalen
Syntaxen lullianischer Herkunft zurück, auf die er mehrfach
hinweist. Mit dem lullianischen Bild des arbor scientiarum,
das im dritten Buch von De augmentis gegenwärtig ist,
verbindet sich das Projekt einer Universalen Wissenschaft oder
Ersten Philosophie oder Weisheit (Scientia universalis,
Philsophia prima, sive Sapientia), die streng von der
traditionellen Metaphysik unterschieden ist. Letzere erweist sich
als eine "auf der Historia naturalis gegründete generalisierte
Physik", die einerseits auf die Bestimmung der Formen und
andererseits auf die der finalen Ursachen {R:cause finali}
zielt. Die Erste Philosophie indes betrifft jenen Teil des Baumes
der Wissenschaften, der wie ein "gemeinsamer Teil des Weges" ist,
welcher den Auf- und Unterteilungen der verschiedenen Zweige des
Wissens vorangeht. Die Axiome, die vielen Wissenschaften gemeinsam
sind, können nicht auf einfache Ähnlichkeiten reduziert werden: sie
verweisen auf Zeichen und Spuren der Natur selbst:
Gilt nicht die von den Musikern befolgte Regel,
von den herben und dissonierenden Akkorden zu den süßen oder
konsonierenden überzugehen, ebenso für die Gefühle? Und
korrespondiert nicht die Regel, die Kadenz zu beschleunigen, der
rhetorischen Regel, die Erwartung zu frustrieren?... Die
Sinnesorgane, sind sie nicht etwa den spiegelnden Instrumenten
verwandt, das Auge dem Spiegel, das Ohr einem konkaven und engen
Instrument? Das sind nicht nur Ähnlichkeiten, wie es Menschen von
beschränktem Verständnis erscheinen könnte, sondern die Zeichen und
Fußstapfen der Natur, die sich in verschiedene Materien und
Subjekte einprägen.
Durch diese organische Sammlung der Axiome, deren
Abwesenheit Bacon beklagt, wäre es möglich, die Einheit der
Natur ans Licht zu bringen.
Um zum Schluß zu kommen: die harte baconianische
Polemik gegen die Seiltänzer der Gedächtniskunst trifft nicht die
memorativen Techniken als solche, sondern die Versuche, sie auf das
Niveau der okkulten Künste und der Magie zu reduzieren. Den
allerernstesten Zielen der Rhetorik angepaßt und in die Logik der
Persuasion eingefügt, behält ars memorativa in der neuen
Enzyklopädie der Wissenschaften noch eine Funktion. Das
baconianische Projekt einer scientia universalis, mater
reliquarum scientiarum zeigt sich, wie schon in der
lullianischen Tradition der Fall, auf die Bestimmung einer Einheit
des Wissens gerichtet, die ihre Rechtfertigung und ihr Fundament in
der Einheit der Welt hat.
Zu den Erörterungen der Bilder und Symbole in in
einigen cartesianischen Werken sind viel scharfsinnige, wenn auch
nicht immer historisch exakte Dinge geschrieben worden. Anläßlich
der Stellen der Olympica über die Darstellung der
"spirituellen Dinge" durch sinnenhafte Körper hat ein bedeutender
Descartesforscher von einer unangefochtenen "aristotelischen
Vorstellung von Philosophie" gesprochen; ein anderer hat im
Hinblick auf eben diese Stellen versucht, deren "innere und tiefe
Resonanz" zu erfassen und hat in ihnen den Ausdruck eines Menschen
gesehen, "der auf der Suche nach der reinen Inspiration ist"; ein
dritter schließlich hat mit Blick auf das cartesianische Bild des
Baums der Wissenschaften sich lang und breit über die Gründe der
Wahl des Bildes einer lebendigen Wirklichkeit und über den in
diesem Baum pulsierenden "Kreislauf des Lebens"
ausgelassen. Wenn man
das Vorhaben aufgibt, dem Sinn von inneren Resonanzen nachzuspüren,
und sich statt dessen die Resultate vergegenwärtigt, zu denen die
Enzyklopädisten und Rhetoriker des sechzehnten Jahrhunderts gelangt
waren, kann man (wenn auch mit bescheideneren Ergebnissen) einige
besonders dunkle Texte erhellen und vielen Behauptungen und
Beobachtungen des jungen Cartesis einen genauen Sinn geben.
Eines kann gleich festgehalten werden: die
cartesianische "Verdammung" der Künste der Memoria, auf die wir im
vorhergehenden Abschnitt hinwiesen, ist (in gleicher Weise wie die
baconianische) sehr viel weniger entschieden als es auf den ersten
Blick erscheint. In einem zwischen 1619 und 1620 geschriebenen
Text, der sich der Kommentierung und Kritik der Ars
memorativa von Schenkelius widmet, übernimmt Cartesius
scheinbar Terminologie und Ansatz der Erörterung der Memoria aus
der Literatur "ciceronianischer" Herkunft: nicht nur schreibt er
der Imagination dieselbe Funktion zu wie die Theoretiker der
künstlichen Memoria, sondern erkennt, daß diese als solche nicht
ohne Nutzen ist. Der Ars memorativa von Schenkelius stellt
er eine wahre Kunst der Memoria gegenüber, deren Grundregeln
er so formuliert:
Als ich aufmerksam die einträglichen Flausen
{R:le utili frottole; CU:lucrosas nugas} des Lambert
Schenkel (in dem Buch De arte memoriae) erwog, dachte ich,
daß ich leicht in der Imagination alles hätte erfassen /vollenden;
{R:abbracciare; CU: cogitavi facile me
omnia...complecti} können, was ich entdeckt hatte: durch die
Rückführung der Dinge auf ihre Ursachen. Denn da alle Ursachen sich
letztlich auf eine zurückführen lassen, ist es klar, daß in allen
Wissenschaften überhaupt keine Memoria nötig ist. Wenn jemand die
Ursachen begreift, werden sich dank des Eindrucks der Ursache im
Gehirn alle die entschwundenen Bilder {CU:elapsa omnino
phantasmata} von neuem bilden. Das ist die wahre Kunst der
Memoria: ganz und gar entgegengesetzt der Kunst jenes Wirrkopfes.
Nicht weil seine Kunst ganz wirkungslos wäre, sondern weil sie sich
nicht auf der richtigen Ordnung gründet und das ganze Papier zu
besseren Dingen hätte benutzt werden können. Die richtige Ordnung
aber besteht darin: daß Bilder geformt werden, die in
wechselseitiger Abhängigkeit untereinander stehen {CU:imagines
ab invicem dependentes}. Ich habe eine andere Art erdacht: wie
aus Bildern von Dingen nicht ohne Verbindung untereinander neue,
allen gemeinsame Bilder gewonnen werden können, oder wenigstens von
allen ein einziges Bild. Und dabei beachte man nicht nur das
nächstliegende Bild, sondern auch die anderen, dergestalt daß das
fünfte sich mit dem ersten durch eine zur Erde geschleuderte Lanze
verbinde, das mittlere durch die Leiter, über die sie hinabsteigen,
das zweite durch einen auf es geschleuderten Pfeil, das dritte auf
irgend eine analoge Weise, nach einer wahren oder fiktiven Art des
Bedeutens.
Bei diesem Projekt einer neuen memorativen Technik
ist Cartesius offensichtlich von den Ergebnissen der ars
reminiscendi beeinflußt. Mit diesen Interessen an der Kunst,
die sich nicht in einer einfachen intellektuellen Neugierde
erschöpfen, müssen die als Cogitationes privatae bekannten
Tagebuchstellen verbunden werden. In ihnen taucht eine Lehre wieder
auf, die allen Traktatisten der künstlichen Memoria lieb ist: die
von dem Gebrauch der körperlichen oder sinnenhaften Bilder in
Hinblick auf die Darstellung der abstrakten Begriffe oder
"spritiuellen Dinge": "wie die Imagination Figuren benutzt, um die
Körper zu erfassen, so bedient sich der Intellekt einiger
sinnenhafter Körper, wie des Windes oder des Lichts, um die
geistigen Dinge darzustellen ... Sinnenhafte Dinge sollen die des
Olymps verstehen helfen: Wind bedeutet Geist, Bewegung in der Zeit
Leben, Licht Wissen, Wärme Liebe, spontane Aktivität
Schöpfung". Die
Tatsache, daß Cartesius im reifen Alter jeden Symbolismus verwarf,
enthebt den Historiker nicht der Aufgabe, die häufig an "dunkle"
Themen gebundenen Ursprünge einer Philosophie aufzuspüren, die sich
später im Zeichen von Deutlichkeit und rationaler Klarheit
entwickelte. Gerade in den Jahren, in denen er eine neue memorative
Technik ersann, schien Cartesius die Resultate der Imagination und
der Poesie denen der Philosophie und Vernunft vorzuziehen; er
ergötzte sich, wie vor ihm viele "Magier" des sechzehnten
Jahrhunderts, an dem Bau von "Automaten" und "Gärten der Schatten";
er informierte sich über die Bedeutung der lullinaischen Kommentare
von Agrippa; er interessierte sich für den ordo locorum
und er
betonte wie schon vor ihm die Kommentatoren des Lull die Einheit
und Harmonie des Kosmos: "Eine einzige aktive Kraft, Liebe, Güte
und Harmonie ist in den Dingen... Jede körperliche Form wirkt durch
Harmonie". Es handelte sich nicht nur um jugendliche Zugeständnisse
an eine philosophische Mode. Viele Jahre später, 1639, nachdem er
den Pansophiae Prodromus von Comenius gelesen und überdacht
hatte, beharrte Descartes noch immer (obwohl er den komenianischen
Plan verwarf) auf dem engen Parallelismus zwischen einem "einzigen,
einfachen, kontinuierlichen und auf wenige Prinzipien reduzierbaren
Wissen" und der "einen, einfachen, kontinuierlichen Natur", der
gegenüber sich das Wissen als ein "Bild oder "Spiegel" setzt.
Gott ist einer und schuf die Natur als eine,
einfache, kontinuierliche, überall kohärente und sich selbst
konforme aus ganz wenigen Prinzipien und Elementen. Ihnen entnahm
er die Dinge, die fast unendlich und dennoch in sicherer Ordnung
und Abstufung der drei Reiche, des mineralischen, vegetabilischen
und animalischen unterschieden sind. Die Erkenntnis dieser Dinge
muß, ähnlich dem einen Schöpfer und der einen Natur, eine einzige
sein, einfach, kontinuierlich, nicht unterbrochen, aus wenigen
Prinzipien bestehend (vielmehr aus einem allerersten Prinzip), von
dem alle anderen Dinge bis zu den speziellsten in unzertrennlicher
Verbindung und weisester Ordnung abgeleiteten abhängen, so daß
unsere Kontemplation der universellen und der einzelnen Dinge einem
Bild oder einem Spiegel gleicht, der mit absoluter Genauigkeit das
Bild des Unversums und seiner Teile repräsentiert.
Wie auch immer die Bedeutung dieser
cartesianischen Äußerungen zu verstehen ist, sicher ist, daß das
Programm des jungen Cartesius - eines Mannes, der noch keine
"Entscheidung über die Fundamente der Physik" getroffen hat -
demjenigen außerordentlich ähnelt, das wir in den Syntaxen
und den lullianischen Enzyklopädien des späten sechzehnten
Jahrhunderts finden: hinter der Vielfalt der Wissenschaften
verbergen sich eine tiefe Einheit, eine gesetzmäßige Verbindung und
eine gemeinsame Logik. Sind einmal die einzelnen Wissenschaften von
ihrer Maske befreit, wird die catena scientiarum
erkennbar, innerhalb derer die einzelnen Wissenschaften mit
dergleichen Leichtigkeit im Gedächtnis behalten werden
können, mit der man sich der Reihe der Zahlen erinnert:
Jetzt sind die Wissenschaften maskiert. Einmal die
Maske gelüftet, würden sie in all ihrer Schönheit erscheinen. Wer
die Kette der Wissenschaften sähe, könnte sie ebenso leicht Geist
behalten wie die Reihe der Zahlen.
Das Problem der Enzyklopädie erscheint hier
noch einmal mit dem der Memoria verbunden. Diegleichen Ausdrücke
und Begriffe werden Cartesius im Commentaire ou remarques sur la
Methode de R. Descartes von Poisson zugeschrieben, während
Cartesius selbst in der ersten der Regulae behauptet, daß
die zwischen den einzelnen Wissenschaften bestehende Verbindung so
eng ist, daß sie das Erlernen aller Wissenschaften zusammen
leichter macht als die Trennung einer einzelnen von den anderen:
das Band der Vereinigung und wechselseitigen Abhängigkeit unter den
Wissenschaften macht es unmöglich, eine einzelne Wissenschaft zu
wählen, um die Wahrheit zu erfahren:
Man muß glauben, daß alle Wissenschaften
untereinander so sehr verbunden sind, daß es viel leichter ist, sie
alle zusammen zu erlernen, als eine einzige von den anderen zu
trennen. Wer ernsthaft die Wahrheit der Dinge suchen will, darf
nicht irgendeine einzelne Wissenschaft wählen: alle sind nämlich
untereinander verbunden und voneinander abhängig.
Wenn wir uns den Werken des Lullismus des
siebzehnten Jahrhunderts zuwenden, also Werken weit entfernt von
der "cartesischen" Atmosphäre, durchdrungen von Magie und
Okkultismus, auf die Begründung der universalen Medizin und der
totalen Enzyklopädie gerichtet und voller Bezüge zur hermetischen
Tradition, finden wir dieselbe Betonung der catena
scientiarum, der scheinbaren Vielfalt der Wissenschaften und
der Korrespondenz zwischen einem geordneten Wissen und einer
harmonischen Natur. Der Arzt und Magier Jean d'Aubry, Anhänger und
Übersetzer des Lullus, verwies genau auf diese Vorstellungen,
während er sich gegen die Anklage verteidigte, mit Mitteln der
Magie operiert zu haben. Zur catena scientiarum berief er
sich auf Picos nach den Lehren der Kabbala durchgeführten Kommentar
zur Genesis:
P. Poisson, Commentaire, p. 73
Es ist ein ich weiß nicht wie beschaffenes Band, welches
bewirkt, daß eine Wahrheit die andere enthüllt und daß es genügt,
den Beginn des Fadens zu finden, um ohne Unterbrechung zu einer
anderen zu gelangen. Das sind ungefähr die Wort von Descartes, die
ich in einem seiner handschriftlichen Fragmente gelesen habe: alle
Wissenschaften sind verkettet und man kann von ihnen keine
vollkommen besitzen, ohne daß die anderen spontan folgen und die
ganze Enzyklopädie auf einen Schlag erlernt wird. |
Jean D'Aubry, Apologie, 1638
Die Teile des Wissens (die die Dummen und Unwissenden
Wissenschaften nennen, als ob es viele Wissenschaften gäbe) sind
miteinander so verkettet, daß es nicht möglich ist, den
allerkleinsten zu erkennen ohne eine volle Erkenntnis aller zu
haben. Das zeigt euch der Heptaplus von Pico della Mirandola
über die Tage der Schöpfung und die Armonia del mondo von
Paolo Veneto. |
Das Studium der Verbindungen zwischen Cartesius'
Projekt einer "ganz und gar neuen Wissenschaft" und seinen (in den
Briefen an Beeckmann von 1618 deutlich ausgesprochenen) Interessen
an einer Mathematisierung der Physik überschreitet die Grenzen der
gegenwärtigen Untersuchung. Die Gegenüberstellung der zwei gerade
zitierten Passagen kann indes den sehr simplizistischen Charakter
der - oft wiederholten - Versuche zeigen, die cartesianische
mathesis universalis mit einer simplen Erweiterung der
mathematischen Methode auf aller Felder des Wissens zu
identifizieren. Die neue Wissenschaft soll "die ersten
Rudimente der menschlichen Vernunft enthalten und die Wahrheit aus
welchem Subjekt auch immer heraustreten lassen": sie ist die
Quelle alles anderen menschlichen Wissens. Das
cartesianische Projekt, später so reich an komplexen Entwicklungen,
hatte sich ganz wie das von Bacon aus einem präzisen historischen
Terrain genährt: dem Enzyklopädismus lullianischer Herkunft, der
die Kultur des sechzehnten Jahrhunderts durchtränkt hatte und
gerade im siebzehnten Jahrhundert seine höchste Blüte erreichte. In
den lullianischen Kommentaren von Agrippa, in des Syntaxes
von Gregoire, im Opus aureum von De Valeriis, in der
Explanatio von Lavinheta, sowie später in der Regina
scientiarum von Morestel und in den Schriften von d'Aubry hatte
man sich auf die Suche nach einem allen Wissenschaften gemeinsamen
"einzigartigen Instrument" gemacht, nach einer einzigartigen
"Entschlüsselung" oder "Sapienz", die absolute Sicherheit und
absolute Wahrheit garantieren, unfehlbare Lösungen liefern und die
Regel alles möglichen Wissens sein könnte. Der weiten Verbreitung
dieser berühmten und gefeierten, oft übersetzten und in den
Hauptzentren der europäischen Kultur wieder aufgelegten Werken und
der direkten oder indirekten Kenntnis, die Bacon und Cartesius von
ihnen hatten, entspringt das beiden Philosphen gemeinsame Bild des
arbor scientiarum. Von diesem Terrain ging auch ihre später
sehr verschieden orientierte Suche nach einer scientia
universalis oder sapientia aus, Mutter und Quelle und
unitäre Wurzel jeden Zweigs des Wissens:
Bacon, De Augmentis, III, 1.
Die Einteilungen der Wissenschaften sind nicht verschiedenen
Linien ähnlich, die sich in einem Winkel treffen, sondern den
Zweigen der Bäume, die sich in einem Stamm vereinigen (der für eine
gewisse Strecke, bevor er sich in Zweige aufteilt, glatt
{CU:integer} und kontinuierlich ist); darum verlangt es die
Sache, daß, bevor wir die Glieder der ersten Einteilung verfolgen,
eine Universalwissenschaft konstituiert werde, als Mutter aller
anderen und die im Pfad des Wissens als ein Teil des gemeinsamen
Weges betrachtet werden kann, bevor sich die Straßen trennen und
unterscheiden. Wir verleihen dieser Wissenschaft den Namen Erste
Philosophie oder Weisheit. |
Descartes, Regulae, IV und Vorwort zu den
Prinzipien.
Wer meine Art des Denkens {CU:meum sensum} aufmerksam
betrachtet, wird leicht sehen, daß ich an nichts weniger gedacht
habe als an die gewöhnliche Mathematik, sondern daß ich eine
gewisse andere Disziplin darlege, von der [die Figuren und die
Zahlen] eher die Hülle als die Teile sind. Eine solche Disziplin
soll nämlich die ersten Rudimente der menschlichen Vernunft
enthalten und sich auf alle aus jedem beliebigen Subjekt
gewinnbaren Wahrheiten erstrecken. Offen gesagt bin ich überzeugt,
daß sie wichtiger ist als alle anderen uns menschlich überlieferten
Kenntnisse, da sie die Quelle aller anderen ist....
So ist die ganze Philosophie wie ein Baum, dessen Wurzeln die
Metaphysik sind, der Stamm die Physik ist, und die Zweige, die von
dem Stamm ausgehen alle anderen Wissenschaften sind. |
Wenn man sich die ramistische Lehre
vergegenwärtigt, derzufolge die memoria sich als einer der
Teile oder Sektionen der Dialektik präsentiert, gewinnt die
baconianische Einteilung der Logik, wie sie im Advancement of
Learning von 1605 dargelegt und in De augmentis
scientiarum von 1623 wieder aufgenommen wird, einen genaueren
Sinn. Die Logik umfaßt vier Teile oder Sektionen,
Verstandeskünte {R:arti intellettuali} genannt. Eine
solche Vierteilung ist auf den Zielen oder Zwecken gegründet, die
der Mensch realisieren will. Der Mensch: a) findet, was er
gesucht hat; b) beurteilt, was er gefunden hat; c) behält,
was er beurteilt hat; d) kommuniziert {R:trasmette},
was er behalten hat. Wir finden uns also vier Künsten
gegenüber:
1) die Kunst der Forschung {???} Inquisition (als
peinliche Befragung der Natur);
{R:ricerca} (art of inquiriy or
invention);
2) die Kunst der Prüfung oder des Urteilens
(art of examination or judgement);
3) die Kunst des Bewahrens oder der Memoria
(art of custody or memory);
4) die Kunst der Elokution oder Kommunikation
(art of elocution or tradition)
Bei dieser Klassifikation beruft sich Bacon
einerseits auf die traditionellen Einteilungen der Rhetorik,
andererseits auf ramistische Positionen: er entfernt sich von
beiden, wenn er dem Begriff "Invention" eine viel weitere Bedeutung
als die traditionelle gibt, indem er zwischen der Invention der
Argumente und der Invention der Wissenschaften und
Künste unterscheidet. In letzterem Bereich stößt Bacon auf die
allergrößten Mängel: während für die Invention der Argumente die
traditionelle Logik mehr als ausreichend ist, muß, um dem Menschen
die Invention neuer Künste (und damit die Herrschaft über die
Natur) zu ermöglichen, eine Reform der wissenschaftlichen Methode
vorgenommen und dem Wissen ein neues Organon oder
Instrument geschaffen werden. Die interpretatio
naturae oder neue Induktion, die Bacon im zweiten Buch
des Novum Organum erörtert, ist also nur einer der beiden
Teile, in denen sich die Kunst der Invention
artikuliert, die ihrerseits einen der vier Teile bildet, in
die sich die baconianische Logik unterteilt.
Die Reform der wissenschaftlichen Induktion ist
daher nur ein Teil der allgemeinen Restauration des Wissens, die
Bacon verwirklichen will. Auf der Ebene der "alten und populären
Wissenschaften" oder der "gewöhnlichen Logik" hatte Bacon - wie wir
gesehen - versucht, die Funktion der Memoria und der memorativen
Künste im Bereich jenes Teils der ars inveniendi
klarzustellen, der sich darauf beschränkt, Argumente für die
Persuasion zu finden //invenieren. Das Problem der ars
memorativa und der Funktion der Memoria stellt sich indes für
Bacon auch im Bereich der interpretatio naturae oder der
neuen Logik.
Die von Bacon in der Delineatio
entwickelten Überlegungen zur totalen Verschiedenheit der
gewöhnliche Logik von der Logik der Wissenschaft hindern ihn also
nicht, sich im Falle der ministratio ad memoriam (die
integraler und konstitutiver Bestandteil der Neuen Logik ist) auf
eine Art von Erwägungen zu berufen, die der ziemlich ähnlich ist,
auf die er sich im Bereich der "Künste des Diskurses" oder der
"gewöhnlichen Logik" bezogen hatte. Im Fall der Diskurse und der
Invention der Argumente entstanden die Schwierigkeiten angesichts
einer Vielfalt von Begriffen und Argumenten; im Fall der
Werke {R:opere} und der wissenschaftlichen Methode
angesichts einer unendliche Vielfalt von Fakten. Die in der
Delineatio entwickelte und später im Novum Organum
wieder aufgenommene Lehre von den Hilfsmitteln der Memoria
ergibt sich aus einer Anpassung der Regeln, welche die Invention
der Argumente anleiten und die Kunst ihres Erinnerns und Andordnens
bilden, an diese ganz neue Situation.
Um kohärente und persuasive Diskurse zu erreichen
und um Argumente zu finden, war es laut Bacon notwendig: 1) über
eine umfassende Sammlung von Argumenten zu verfügen
(promptuaria); 2) über geeignete Regeln zu verfügen, ein
unendliche Feld einzugrenzen und ein spezifisches und begrenztes
Feld des Diskurses zu bestimmen (topica). Die der Kunst der
Memoria zugeschriebene Aufgabe bestand in der Entwicklung einer
(auf dem Gebrauch der Vorbegriffe, der Embleme, der Ordnung, der
Orte, der Verse, der Schrift usw. gegründeten) Technik, die den
Menschen in die Lage versetzten sollte, konkret die soeben
angezeigten zwei Voraussetzungen zu erfüllen.
Bei der wissenschaftlichen Methode
(interpretatio naturae) lagen für Bacon die Dinge nicht viel
anders:
Die Hilfsmittel der Memoria dienen folgendem Ziel:
aus der immensen Menge der Einzelfakten und der Masse
{CU:acervo} der allgemeinen Historia naturalis wird eine
bestimmte Historie herausgetrennt, deren Teile in einer solchen
Ordnung disponiert werden, daß das Denken {R:intelletto;
CU:iudicium} mit ihnen arbeiten und seine eigentliche
Funktion ausüben kann... Zunächst werden wir zeigen, welches die
Dinge sein sollen, die zu einem gegebenen Problem zu suchen sind:
was in etwa einer topica gleichkommt. Zweitens in welcher
Ordnung sie auf Tafeln zu disponieren und einzuteilen sind
{CU:in tabulas digeri} ... An dritter Stelle werden wir
zeigen, auf welche Weise und wann die Forschung
{CU:inquisitio} vervollständigt werden und die vorangehenden
Karten oder Tafeln {CU:chartae sive tabulae} in neue Karten
zu übertragen sind... Die ministratio ad memoriam gliedert
sich daher in drei Lehren: die Invention der loci, die
Methode der Tabulation {CU:de methodo contabulandi} und die
Art der Instauration der Forschung.
Die sich selbst überlassene Memoria, das wird noch
einmal in der Delineatio bekräftigt, ist nicht nur unfähig,
die Unmenge der Fakten zu erfassen, sondern nicht einmal in der
Lage, die spezifischen Fakten zu anzugeben, die für eine spezielle
Forschung notwendig sind. Gegenüber der allgemeinen Historia
naturalis (die dem entspricht, was in der Rhetorik das
Promptuarium oder die unterschiedslose Sammlung von
Argumenten ist), sind Regeln notwendig, um das Feld der
Forschung zu einzugrenzen und die Inhalte dieses Feldes zu
ordnen. Um der natürlichen Schwäche der Memoria abzuhelfen
und sie in Stand zu setzen, als Erkenntnisinstrument zu
funktioneren, beruft man sich hier also : 1) auf eine Topik
oder Sammlung von Orten, die darüber zu informieren hat, welcher
Art die Fakten sein sollen, die in Bezug auf ein vorgegebenes
Forschungsvorhaben zu untersuchen sind; 2) auf die tabulae,
die die Aufgabe haben, die Fakten so zu ordnen, daß der Intellekt
sich nicht einer chaotischen und verworrenen sondern einer
organisierten Realität gegenüber befindet.
Wieviele Gelehrte hatten von Ramus bis zu
Melanchton, von Peter von Ravenna zu Rosselli, von Romberch bis zu
Gratarolo ihre Aufmerksamkeit einer Erörterung der mit der Topik
und der künstlichen Memoria verbundenen Probleme zugewandt und
gerade die Funktion der Orte als Mittel bekräftigt, ein
sonst unendliches Forschungfeld einzugrenzen und Ordnung in dieses
Feld zu bringen. Für Melanchton (aber viele andere Autoren könnten
an seiner Stelle zitiert werden) "lehren" die Orte:
wo die Materie zu suchen sei oder was aus einem
großen Haufen {CU:ex magno acervo} auszuwählen und nach
welcher Ordnung es zu verteilen sei {CU:quo ordine distribuendum
sit}. Denn die Orte der Invention (loci inventionis),
sowohl bei den Dialektikern wie bei den Rhetorikern, leiten nicht
dazu an, die Materie zu invenieren, sondern auszuwählen, nachdem
ein solcher Haufen gegeben worden ist.
Die Partis instaurationis secundae
delineatio, auf die wir uns gerade bezogen haben, geht etwa auf
1607 zurück; aber in den Werken seiner vollen Reife wird Baco
ebenso explizit sein: im zehnten Paragraphen des zweiten Buches des
Novum Organum sagt er : "Die Historia naturalis und
experimentalis ist so bunt und verstreut, daß sie den Geist
verwirrt und gleichsam zersetzt, wenn sie nicht in geeigneter
Ordnung eingerichtet und bearbeitet wird. Man muß deshalb Tafeln
und coordinationes instantarium dergestalt einrichten, daß
der Intellekt mit ihnen arbeiten kann". Die berühmten baconianischen
tabulae bilden, auch im Novum Organum, einen
integralen Teil der ministratio ad memoriam. Ihnen fällt
eine präzise Aufgabe zu: die Inhalte der Historia naturalis zu
organisieren und zu ordnen. Nachdem das Material in den drei
tabulae organisiert worden ist, steht der Intellekt vor
einer geordneten Reihe von Fakten und ist nicht mehr "wie vor den
Kopf geschlagen": von dieser Situation aus nimmt jenes Verfahren
seinen Ausgang, das Bacon die neue Induktion nennt.
Das ganze induktive Verfahren hat ohne Zweifel
seine Fundamente in der Lehre von den tabulae. Letzere
werden zum Zweck einer Ordnung der natürlichen Wirklichkeit
aufgestellt, die in die chaotische Vielfalt der physischen Fakten
eine solche Disposition und Ordnung einführt, daß das Denken sich
auf die Suche nach Verknüpfungen {R:connessioni} machen
kann. In diesem Sinn zeigt sich die Kompilation der tabulae
eng mit der Invention der natürlichen Orte verbunden, die
über lange Perioden Bacons Interesse anzieht. Der erste
einheitliche von Bacon unternommene Versuch, die Grundlagen für
eine Invention der natürliche Orte und eine Methode der Tabulation
zu legen, geht auf 1607-1608 zurück, und nicht zufällig benutzt
Bacon in diesen Jahren die Begriffe topica und
tabulae (oder chartae) als Synonyme. In den
Cogitata et visa von 1607 finden wir die den Tafeln
zugeschriebene Funktion angekündigt:
Nach einer langem und schwierigem Meditation habe
ich entschieden, daß es vor allem notwendig ist, die Tafeln der
Invention oder die Grundlagen einer legitimen Forschung
{CU:tabulas inveniendi sive legitimae inquisitionis
formulas} zu bestimmten Fragen einzurichten, das heißt eine
bestimmte für die Arbeit des Intellekts geordnete Materie. Und dies
als Exempel und gleichsam sichtbare Beschreibung des zu
verwirklichenden Werkes.
Im folgenden Jahr notiert er hastig im
Commentarius solutus: "The finishing the 3 tables, de motu,
de calore et frigore, de sono". Wenn wir die Notizen des
Commentarius betrachten, finden wir uns tatsächlich einem in
verschiedene Karten gruppiertem Verzeichnis waschechter
natürlicher Orte gegenüber. Nicht anders sind die drei kurzen
Werke strukturiert, die auf diese Zeit zurückgehen und die erste
Realisierung des in den Cogitata et Visa und im
Commentarius solutus angezeigten Programms sind: die
Inquisitio legitima de motu, die Sequela chartarum sive
inquisitio legitima de calore et frigore und die Historia et
inquisitio prima de sono et auditu.
Im Vorwort zum ersten dieser drei Werkchen
beleuchtet Bacon die wesentliche Funktion, die der Topik und den
Tafeln zufällt und unterscheidet zwei verschiedene Typen von
Tafeln: jene, welche die sichtbareren Fakten vereinigen sollen und
sich auf einen bestimmten Forschungsgegenstand beziehen (machina
intellectus inferior seu sequela chartarum ad apparentiam
primam) und jene, welche die höhere Aufgabe haben, dem
Intellekt zu helfen, das "was verborgen ist" zu erkennen und so bis
zur "Form" der Dinge durchzudringen (machina intellectus
superior sive sequela chartarum ad apparentiam secundam). Die
neunzehn von Bacon in der Inquisitio legitima de motu
aufgelisteten Tafeln bilden eine Topik oder "provisorische
Systematisierung", die den Übergang zu den Tafeln der zweiten
Gruppe ermöglichen soll. Diese (die machina superior) sind
nichts anderes als die tabulae presentiae, absentiae und
graduum des Novum Organum.
Das Bild des Universums als Labyrinth und
als Wald, die Überzeugung, daß die Architektur der Welt
"voller zweideutiger Wege /Scheidewege; {R:vie ambigue},
trügerischer Ähnlichkeiten, Zeichen, Knoten und verwickelter und
komplizierter Spiralen sei", bestimmt auf radikale Weise die
baconianische Lehre von der Methode. Eine der Aufgaben der Methode,
wenn nicht die fundamentale, ist für Bacon, Ordnung in diese
chaotische Realität zu bringen. In der Delineatio von 1607
finden wir eine in dieser Hinsicht überaus bezeichnendes
Zugeständnis: die Wahrheit "entsteht leichter aus der Falschheit
als aus der Verwirrung" {CU:citius enim emergit veritas e
falsitate quam e confusione}. Die wirklich fundamentale Aufgabe
einer Beseitigung dieser Verwirrung aber figurierte in diesem Werk
unter den Hilfsmitteln der Memoria.
"Die Verwirrung beseitigen", der Armut an
faktischen Kenntnissen durch Sammlungen von "sicheren Fällen"
{R:istanze; s.oben coordinationes instantiarum}
abhelfen: dies sind für Bacon die wesentlichen Aufgaben der Methode
der Interpretation der Natur. Gegenüber diesen Aufgaben erscheinen
ihm die tabulae selbst nicht anderes zu sein als einfache
Beispiele einer gigantischen Arbeit, die auf ihre Verwirklichung
harrt ("neque enim tabulas conficimus perfectas, sed exempla
tantum"). Die Niederschrift einer Logik des wissenschaftlichen
Wissens, der Bacon seine Anstrengungen seit den Jahren des
Valerius Terminus gewidmet hatte, wurde unvermittelt
unterbrochen, weil er fest überzeugt war, daß die Konstruktion der
perfekten Tafeln das entscheidende Element für die
Grundlegung eines Neuen Wissens sei. Die Historia naturalis, die
organisierte Sammlung der Fakten, die Limitation und Delimitation
der verschiedenen Forschungsfelder und die Konstruktion einer Reihe
von Verzeichnissen aus natürlichen, einem spezifischen Feld
zurhörigen Orten (die historiae particulares): all das
erschien ihm so bedeutend, daß es ihn veranlaßte, die Niederschrift
des Novum Organum zu unterbrechen und eben jene "logische
Maschine" teilweise abzuwerten, die für viele Jahre im Zentrum
seiner Interessen gestanden hatte.
Die geordnete Sammlung der Materalien, die
Konstruktion einer organisierten Enzyklopädie aller der in den
besonderen Historien gesammelten natürlichen Fakten, die
Bereitstellung einer Sammlung von Fakten oder "allgemeinen
Historien", die den besonderen Historien neue zu Materialien
liefern geeignet wären s(Sylva sivarum): all diese Projekte
werden Bacon, zumindest am Ende seines Lebens, viel wichtiger
erscheinen als alle der Perfektion der Methodologie der
Wissenschaften gewidmeten Forschungen. Jede der besonderen
Historien, an denen Bacon seit 1620 angestrengt arbeitete (sein
Projekt umfaßte 130 Historien) entspricht einer doppelten
Anforderung: sie sollen die traditionellen Meinungen eliminieren,
um ein Terrain gesicherter Fakten zu erreichen; sie sollen diese
Fakten innerhalb der einzelnen Felder so disponieren, daß eine
geordnete Sammlung möglich wird. Wenn man von einer allgemeinen
Betrachtung zu einer direkten Lektüre dieser baconianischen
"Historien" übergeht, erkennt man, daß sie tatsächlich
Sammlungen natürlicher Orte darstellen und daß diese der
Versuch sind, jene Sammelarbeit zur Vollendung zu führen, die schon
in der Inquisitio legitima de motu, in der Inquisitio de
calore et frigore und in der Historia et inquistio prima de
sono et auditu begonnen war.
Indem er an die Stelle der Sammlungen von
rhetorischen Orten eine Sammlung natürlicher Orte setzte, indem er
die Kunst der Memoria anderen als den traditionellen Zielen
anpaßte, und indem er die tabulae als Mittel der Ordnung der
Wirklichkeit verstand, durch welche die Memoria für die Arbeit des
Intellekts eine "organisierte Realität" präpariert, hatte Bacon in
seine Logik des wissenschaftlichen Wissens einige typische Elemente
eingeführt, die aus einer ganz bestimmten Tradition stammten. In
dieser Hinsicht war seine "neue" Logik viel mehr (mehr, als ihm
bewußt war) der Wendung ähnlich, die ein Ramus oder Melanchton der
Dialektik gegeben hatten, indem sie diese als Instrument zur
geordneten Disposition der Begriffe konzipierten. Es lohnt sich,
noch einmal an die Defintionen zu erinnern, die Melanchton der
Methode gegeben hatte, als er sie als eine ars
qualifizierte, die gleichsam per loca invia et per rerum
confusionem einen Weg findet und eröffnet, indem sie die res
ad propositum pertinentes in Ordnung bringt, sowie an die
ramistische Definition der dispositio (die für Ramus mit dem
iudicium und mit der memoria zusammenfiel) als
apta rerum inventarum collocatio.
Jenseits all der großen Differenzen, die
zweifelsohne angeführt werden können, bewegt sich die baconianische
Auffassung der Methode der Wissenschaft auf folgendem Terrain:
die Methode ist ein Mittel der Ordnung und Klassifikation der
Elemente, die die natürliche Wirklichkeit bilden. Die Doktrin
der ministratio ad memoriam hatte in dieser Hinsicht ein
entscheidendes Gewicht bei der baconianischen Konstruktion einer
neuen Logik und einer neuen Methode der
Wissenschaften.
Anklänge an die Traktatliteratur der Renaissance
über die künstliche Memoria finden sich außer in den Fragmenten des
jungen Cartesius auch in seinen Regulae. Wenn Cartesius in
der Regel XVI die Schrift als eine Kunst auffaßt, die als
Heilmittel für die natürliche Hinfälligkeit der Memoria ersonnen
wurde, und von einem Intellekt spricht, der "durch von der
Phantasie gemalte Bilder unterstützt wird", wiederholt er nur in
traditionelleren Ausdrüken Allgemeinplätze, die in fast allen
Werken über die Mnemotechnik "ciceronianischer" Herkunft
vorkommen.
Descartes, Regulae.
Es lohnt die Mühe, alle anderen Größen /Maße;
{R:dimensioni; CU:dimensiones}] so bewahren, daß sie
leicht jedesmal verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden. Zu
diesem Zweck scheint die Memoria von der Natur eingerichtet worden
zu sein. Aber weil sie oft schwach ist ..., erfand die Kunst sehr
passend den Gebrauch der Schrift. Im Vertrauen auf sie ...
schreiben wir alles das auf Papier, was erinnert werden soll
{CU:quaecunque erunt restituenda in charta
pingemus}. |
Anonymus aus dem 16. Jahrhundert
Die Menschen erfanden verschiedenen Künste, um auf
verschiedene Arten die Natur zu unterstützen. Und als sie sahen,
daß die Memoria des Menschen von Natur aus schwach ist, suchten sie
nach irgendeiner Kunst, um die Natur oder die Memoria zu
unterstützen ... und so erfanden sie die Schrift. |
Auf diese Tradition hatte sich Bacon in De
augmentis berufen:
Ein Hilfmittel der Memoria ist zweifelsohne die
Schrift {CU:scriptio} und man muß überhaupt sagen, daß die
Memoria ohne dieses Hilfmittel den weitläufigeren Dingen gegenüber
ohnmächtig ist und daß man sich auf keine andere Weise erinnern
soll als mithilfe der Schrift.
Der cartesianische Rückgriff auf die "körperlichen
Bilder", die Symbole und die Schrift erhält indes innerhalb der
komplexen Methodologie der Regulae eine besondere Bedeutung.
Die Schrift und die "Wiedergabe auf dem Papier" dienen dazu, den
Geist von jeder mnemonischen Anstrengung zu entlasten und
dergestalt zu befreien, daß die Phantasie und die Intelligenz
vollständig den Ideen oder den gegenwärtigen Gegenständen zugewandt
werden können: im Vertrauen auf die Hilfe der Schrift - behauptet
Cartesisus - vertrauen wir nichts der Memoria, sondern alles, was
wir erinnern wollen, dem Papier an, um so die Phantasie völlig frei
für die gegenwärtigen Ideen zu lassen; keines der Dinge, die nicht
dauernde Aufmerksamkeit erfordern, darf, wenn es auf dem Papier
niedergelegt werden kann, von der Memoria auswendig gelernt werden,
damit nicht eine unnütze Erinnerung Teile unserer Intelligenz dem
Erkennen des gegenwärtigen Gegenstandes entziehe. Somit wird die
mnemonische Funktion willkürlich gewählten Zeichen oder Symbolen
(a, b, c, etc für die bekannten Größen; A, B, C, etc. für die
unbekannten) anvertraut: auf diese Weise sind sie wirklich
"brevissimi", so daß, "nachdem wir die einzelnen Dinge einzeln
inspiziert haben, wir sie in einer hochgeschwinden Bewegung des
Denkens durchlaufen und möglichst alle zugleich auf einen Blick
erfassen können {CU:simul intueri}".
Das Problem der "Notation" oder der Schrift und das mit ihm
eng verwandte der Hilfsmittel der Memoria ("man muß Gebrauch ...
von den Hilfmitteln der Memoria machen" {CU: utendum est
... memoriae auxiliis} sagt der Titel der Regel XII)
verflechten sich auf diese Weise im cartesianischen Denken mit
denen der Intuition {R:intuizione} und der "kontinuierlichen
und ununterbrochenen Bewegung des Denkens", die die Deduktion
ausmacht. Im Verlauf der Regel III erhellt Cartesius die Gründe
dafür , daß es neben dem Intuitus {R:l'intuito} eine andere
"Art der Erkenntnis durch Deduktion" gibt. Der Intuitus, der "eine
so klare und distinkte Vorstellung des reinen Geistes" ist, daß sie
jede Möglichkeit des Zweifels ausschließt, wird nicht nur für die
einzelnen Aussagen {R:enunciati; CU:enuntiationes}
benötigt, ("jedermann kann intuitiv erfassen, daß er existiert, daß
er denkt, das das Dreieck nur von drei Linien begrenzt wird" etc.),
sondern auch für jede Art von Diskurs
{CU:discursus}: 2 und 2 ergeben dasselbe wie 3 und 1;
nicht nur muß intuitiv erfaßt werden, daß 2 und 2 4 ergeben
und daß 3 und 1 ebenso 4 ergeben, sondern auch, daß jene dritte
Proposition {"2 und 2 ergeben dasselbe wie 3 und 1"} sich
notwendigerweise aus diesen zweien ergibt. Die Deduktion reduziert
sich also im Prinzip auf die Intuition. Solcher prinzipiellen
Reduzierbarkeit entspricht aber nicht eine faktische: von daher
die Notwendigkeit, einen anderen Ausdruck einzuführen: den der
Deduktion. Viele Dinge werden mit Sicherheit gewußt , obwohl sie
nicht in sich evident sind: eine nicht aus sich selbst evidente
Wahrheit kann nämlich die notwendige Konsequenz einer
ununterbrochen Kette von selbstevidenten Wahrheiten sein, durch die
hindurch unser Geist in einer kontinuierlichen Bewegung des Denkens
"schreitet". Jeder Schritt dieser Bewegung oder jeder "Ring der
Kette, wird durch eine unmittelbare Intuition begriffen, aber die
Schlußfolgerung, nämlich die notwendige Verbindung zwischen dem
ersten und dem letzten Ring der Kette, ist dem Geist
nicht mit dergleichen Evidenz gegenwärtig, die der intellekualen
Intuition eigen ist. "Wir wissen", daß der letzte Ring mit dem
ersten verbunden ist; wir sehen indes nicht auf ein und denselben
Blick alle intermediären Ringe, von denen die Verbindung abhängt:
wir beschränken uns deshalb darauf, sie einen nach dem anderen
Revue passieren zu lassen und zu erinnern, daß die einzelnen
Ringe, vom ersten bis zum letzten, mit den direkt benachbarten
verbunden sind. Die Unterscheidung von intuitus und
deductio ist genau hierauf gegründet: unter deductio
wird eine Bewegung oder Sukzession begriffen, die dem
intuitus völlig abgeht; für die Deduktion ist nicht die
aktuelle Evidenz notwendig, die den Intuitus kennzeichnet: die
Dekuktion entlehnt gewissermaßen ihre Gewißheit von der
Memoria.
Bei nicht besonders komplexen Deduktionen oder bei
kurzen "Ketten" reicht die natürliche Memoria; wo indes die
"Ketten" so weitläufig sind, daß sie unsere intuitive Kapazität
überschreiten und die Deduktionen entsprechend komplex sind, wird
es laut Cartesius notwendig, "der natürlichen Schwäche der Memoria
zu Hilfe zu kommen" ("memoriae infirmitati succurrendum
esse"). Die Erkenntnis einer notwendigen Verbindung zwischen
dem ersten und dem letzten Ring der Kette erfordert nämlich die
Deduktion des letzten Ringes: ihn zu deduzieren bedeutet, ihn zu
erreichen, indem man "in kontinuierlicher und nicht unterbrochener
Bewegung des Denkens" von Ring zu Ring schreitet. Wird auch nur ein
einziger Ring übergangen, ist ist die Deduktion unmöglich oder
illegitim. Genau hier schafft die Memoria Abhilfe:
Die Deduktion wird manchmal mittels einer so
langen Verkettung {R:concatenazione; CU:contextum}
von Konsequenzen vollendet, daß wir, wenn wir zu ihr gelangen, uns
nicht leicht des ganzen Weges erinnern, der uns bis dahin geführt
hat : deshalb sagen wir, daß der Schwäche der Memoria durch eine
kontinuierlichen Bewegung des Denkens Hilfe zu bringen sei.
Dieser Prozeß, den Cartesius Enumeration oder
Induktion nennt (enumeratio sive inductio), ist genau dieses
Hilfsmittel für die Memoria. Ziel dieser ministratio ad
memoria (um den baconianischen Audruck zu benutzen) ist es, in
der Deduktion eine solche Schnelligkeit oder Geschwindigkeit zu
erreichen, daß die von der Memoria eigentlich ausgeübte Rolle, ohne
sie indes ganz zu elimineren, auf ein Minimum reduziert wird, um so
einem Ensemble von Wissen, das zu komplex ist, um in einer einzigen
Intuition erfaßt zu können, die unmittelbare Evidenz zu verleihen,
die das Privileg der intuitiven Fähigkeit selbst ist:
Wenn ich also, z.B., durch verschiedene
Operationen erkannt habe, welcher Art von Beziehung zwischen den
Größen A und B, dann zwischen B und C, dann zwischen C und D und
schließlich zwischen D und E sei, sehe ich deswegen nicht die
Beziehung zwischen A und E, noch kann ich sie exakt aus dem schon
Erkannten begreifen, wenn ich mich nicht an alle erinnere. Deshalb
durchlaufe ich sie so oft in einer gewissen Bewegung der
Imagination, welche die einzelnen Dinge intuitiv erfaßt und
gleichzeitig zu den anderen übergeht, bis ich gelernt habe, von der
ersten bis zur letzten mit solcher Geschwindigkeit zu gelangen, daß
ich, indem ich kaum einen Teil der Memoria überlasse, die ganze
Sache auf einen Blick zu erfassen glaube. Auf solche Weise wird,
während die Memoria unterstützt wird, auch der Langsamkeit des
Ingeniums abgeholfen, dessen Fassungskraft nicht unbeträchtlich
erweitert wird.
Es ist indes, glaube ich, möglich, einige engere
Berührungspunkte als die bis jetzt entdeckten zwischen dem
cartesianischen Werk der Regulae und der Tradition der
ars memorativa aufzuzeigen. L.J.Beck, der über die
Methodologie der Regulae sehr scharfsinnig geschrieben, hat
deutlich (und meiner Meinung nach zu Recht) zwischen zwei
verschiedenen Bedeutungen oder Auffassungen des Begriffs
Enumeration bei Cartesius unterschieden. Wenn er sich im
Discours auf die Enumeration bezieht, spricht Cartesius in
der Tat einerseits von "kompletten Enumerationen" (dénombrements
entiers) und andererseit von "allgemeinen Überblicken
/Revisionen /Revuen}" {revues générales}. Die von Cartesius
selbst durchgesehene lateinische Übersetzung des Discours
erhellt noch besser die hier angedeutete Unterscheidung: der
Ausdruck denombrements entiers wird mit singula
enumerare übersetzt, die revues générales mit omnia
circumspicere. Was es nun mit dieser Unterscheidung zwischen
diesen beiden Aspekten oder Funktionen der Enumeration auch auf
sich habe, es bleibt die Tatsache, daß Cartesius mit diesem Begriff
sich zu beziehen scheint : 1) auf das Heilmittel für die Memoria,
das im Fall besonders komplexer Deduktionen oder allzu langer
"Ketten" gereicht werden soll; 2) auf das Ordnen der
Voraussetzungen, von denen die Lösung eines besonderen Problems
abhängt, und auf jenes anfängliche Orden der Daten, das jeder
Untersuchung vorausgeht und auf die "Isolierung" und Bestimmung des
eigentlichen Problems abzielt.
Enumeration oder Induktion ist eine so sorgfältige
und genaue Untersuchung all dessen, was eine proponierte Frage
betrifft, daß wir klar und sicher folgern können, daß nichts von
uns aus Versehen übergangen worden ist.
Die der enumeration zugeschriebene Funktion
erschein hier ziemlich verschieden von der, auf wir uns bis jetzt
bezogen haben. Enumerieren bedeutet hier, eine
Klassifikation (die sich normalerweise vor dem
deduktiven Prozeß abspielt) im Hinblick auf eine Bestimmung und
Begrenzung der Probleme vorzunehmen. Es handelt sich, wie Beck
korrekt sagt, um ein "preparatory making-out of the field of
knowledge in which a proposed investigation of some particular
problem is presently to take place".
Da er er ausschließlich an einer Untersuchung der
formalen Struktur der cartesianischen Methode und der Beziehungen
zwischen den verschiedenen Schriften von Cartesius interessiert
ist, entgeht Beck (wie auch den anderen Interpreten) die Verwandtschaft zwischen
dieser Bedeutung des Begriffs Enumeration und der
baconianischen topica, die sich auch, nicht zufällig, als
ein Hilfsmittel der Memoria präsentiert. Die Hauptaufgabe der
Hilfmittel der Memoria bestand für Bacon in der Aufstellung von
Regeln, die das "unendliche Feld" des menschlichen Wissens
begrenzen und daher das Feld eines bestimmten und begrenzten
Wissens festschreiben können: "aus der immensen Vielfalt der Fakten
wird eine besondere Historia herausgelöst, deren Teile geordnet
disponiert werden ... an erster Stelle werden wir zeigen, wie die
Dinge beschaffen sein müssen, die zu einem gegebenem Problem
untersucht werden sollen, was etwas Ähliches wie eine Topik ist; an
zweiter Stelle, in welcher Ordnung sie disponiert und unterteilt
werden...".
Die Enumeration als Hilfsmittel der Memoria hat
für Cartesius die Aufgabe der Entwicklung einer genauen
Untersuchung all dessen, was eine proponierte Frage bestrifft.
Diese Art von "topica", die für Bacon das hauptsächlichste
Hilfsmittel der Memoria bildet, hat hier genau diegleiche Aufgabe
und Funktion: zu zeigen, wie beschaffen die Dinge sind, die bei
einem gegebenen Problem erforscht werden sollen. Nachdem man
vorgängig ein Problem oder eine Frage isoliert und festgelegt hat
(eben dies, haben wir gesehen, war die Aufgabe, die die rhetorische
Tradtion den loci anvertraute), sollte man, so Bacon, zu
einer Ordnung, Unterteilung und Klassifikation der für die
proponierte Frage relevanten Dinge schreiten. In diesem Punkt und
in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Position von Cartesius in
keiner Weise:
Wenn man die einzelnen Dinge, welche die
proponierte Frage bestreffen, eins nach dem anderen untersuchen
müßte, würde das Leben keines Menschen ausreichen. Aber wenn wir
alle Dinge in der besten Ordnung disponieren {CU:optimo ordine
disponamus}, so daß sie soweit wie möglich auf bestimmte
Klassen reduziert werden, reicht es aus, entweder eine einzige von
ihnen genau zu sehen, oder von einzelnen etwas oder einige eher als
andere, oder zumindest müssen wir niemals umsonst etwas zweimal
durchlaufen; das ist um so mehr von Nutzen, als wir oft auf der
Grundlage einer gut gefestigten Ordnung schnell und ohne
Schwierigkeit vollenden, was auf den ersten Blick uferlos zu sein
schien.
Es ist nicht meine Absicht, hier die Unterschiede
zwischen der baconianischen Induktion und der cartesianischen
inductio oder enumeratio zu untersuchen. Jenseits
dieser Unterschiede wollte ich im Denken der beiden "Gründer" der
modernen Philosophie die Anwesenheit und das Beharrungsvermögen von
Themen aufzeigen, die mit alten und jüngeren Erörterungen der
Memoria verbunden sind. Mit diesen Diskussionen stehen nicht allein
die Interessen von Bacon und Cartesius an den Problemen der
Mnemotechnik in Verbindung, nicht nur das Bild des arbor
scientiarum und die Projekte einer scientia universalis
oder sapientia, sondern auch die baconianische und
cartesianische Doktrin der "Hilfsmittel der Memoria". Es handelt
sich nicht nur um "Residuen" einer altehrwürdigen Tradition, um
letzte, jetzt jeder historischen Bedeutung beraubte Echos eines
erfolgreichen literarischen Genres; noch handelt es sich um
Zugeständnisse an irgendeine "Mode". In der Interpretatio
naturae von Bacon und in den Regulae ad directionem
ingenii von Cartesius sind einige mit der "rhetorischen"
Tradition der ars memoriae verbundene Thesen gegenwärtig:
zur notwendigen "Isolierung" einer Frage gelangt man durch eine
vorgängige Klassifizierung der konstitutiven Elemente des Problems;
die Ordnung ist das nicht zu eliminierende und konstitutive Element
solcher Klassifikationen; die geordneten und "artifiziellen"
Klassifikationen bilden das notwendige Heilmittel für die
Unzulänglichkeit und Schwäche der natürlichen Memoria. Wie schon
Ramus hatten auch Bacon und Cartesius in ihre logische
Doktrin eine Lehre der Hilfsmittel der Memoria eingebaut. Beide
sehen in einer Technik der Stärkung der Memoria das unabdingbare
Instrument zur Formulierung und zum "Funktionieren" einer neuen
Logik oder einer neuen Methode.
Mit Ramus, Bacon und Cartesius hatte so die alte
Frage der künstlichen Memoria, die über drei Jahrhunderte Mediziner
und Philosophen, Erforscher der Rhetorik, Enzyklopädisten und
Liebhaber der Magie begeistert hatte, wenn auch tiefgreifend
transfiguriert, die Szene der modernen Logik betreten. Über den
Einfluß, den das baconianische Denken auf die in England in der
zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts enwickelten
linguistischen Forschungen ausgeübt hatte und über das Werk von
Alsted und Comenius wird dieses Problem noch einmal im Verlauf des
siebzehnten Jahrhunderts für die Konstruktion von totalen
Wörterbüchern, perfekten Sprachen und universale Enzyklopädien
bedeutsam werden. In der lullianischen Tradition war lange Zeit die
Verbindungen zwischen Memoria, Logik und Enzyklopädie betont
worden. "Wenn die Ordnung die Mutter der Memoria
ist - schreibt dann Alsted - ist die Logik die
Kunst der Memoria". Bei der Entwicklung seiner Projekte einer
Universalcharakterstik wird Leibniz sich - neben Bacon,
Alsted und Comenius - Lullus und seinen großen
Kommentatoren in der Renaissance zuwenden und sich auf nicht wenige
und nicht zweitrangige Werke der ars memorativa
berufen.